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Auszug aus dem Urteil der ARK vom 13. Januar 2006 i.S. X. und Kinder, Serbien und Montenegro

Art. 14a Abs. 4 ANAG: Frage der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzuges von albanischsprachigen Roma, Ashkali und Ägyptern aus dem Kosovo.

Art. 14b Abs. 2 ANAG i.V.m. Art. 10 Abs. 1 Bst. a und b sowie Art. 14a Abs. 6 ANAG: Berücksichtigung des Verhältnismässigkeitsprinzips bei der Prüfung der Aufhebung einer vorläufigen Aufnahme wegen deliktischen Verhaltens.

1. Trennung von Beschwerdeverfahren aufgrund tiefer Zerrüttung der Familienverhältnisse (Erw. 1.3.).

2. Der Vollzug der Wegweisung von albanischsprachigen Roma, Ashkali und Ägyptern in den Kosovo ist zwar grundsätzlich zumutbar (Erw. 6.2.3.; vgl. auch EMARK 2006 Nr. 10). Im Falle einer allein erziehenden Mutter mit vier minderjährigen Töchtern, welche im Kosovo weder auf Wohneigentum noch auf ein tragfähiges familiäres Netz zurückgreifen kann, ist die Zumutbarkeit des Vollzuges jedoch zu verneinen (Erw. 6.2.4.).

3. Die Angehörigen dieser Minderheiten verfügen in der Regel in Serbien und Montenegro über keine inländische Aufenthaltsalternative ausserhalb des Kosovo (Erw. 6.3.; Bestätigung der Rechtsprechung gemäss EMARK 2001 Nrn. 1 und 13).

4. Bei der Prüfung der Aufhebung einer vorläufigen Aufnahme wegen deliktischen Verhaltens sind unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsprinzips die öffentlichen Interessen am Vollzug gegen die privaten Interessen am weiteren Verbleib in der Schweiz abzuwägen (Erw. 7.2. und 7.3.).

Art. 14a al. 4 LSEE : exigibilité de l’exécution du renvoi des Roms, Ashkalis et Egyptiens, de langue albanaise, originaires du Kosovo.

Art. 14b al. 2 LSEE en relation avec l’art. 10 al. 1 let. a et b et l’art. 14a al. 6 LSEE : application du principe de la proportionnalité lors de l’examen de la levée d’une admission provisoire pour comportement délictueux.


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1. Séparation des procédures de recours en raison d’une grave altération des rapports familiaux (consid. 1.3.).

2. L’exécution du renvoi au Kosovo des Roms, Ashkalis et Egyptiens, de langue albanaise, est en principe raisonnablement exigible (consid. 6.2.3. ; voir aussi JICRA 2006 n° 10). Dans le cas d’une mère, élevant seule quatre filles mineures et qui ne bénéficie, au Kosovo, d’aucune possibilité de logement ni d’aucun réseau familial capable de la soutenir, l’exécution du renvoi n’est pas raisonnablement exigible (consid. 6.2.4.).

3. Hors du Kosovo, les personnes appartenant aux minorités susmentionnées ne disposent pas, en règle générale, d’une possibilité de refuge interne en Serbie-et-Monténégro (consid. 6.3. ; confirmation de jurisprudence, voir JICRA 2001 nos 1 et 13).

4. Lors de l’examen de la levée d’une admission provisoire pour comportement délictueux, il faut peser l’intérêt public à l’exécution du renvoi et l’intérêt privé au maintien du séjour en Suisse, tout en tenant compte du principe de la proportionnalité (consid. 7.2. et 7.3.).

Art. 14a cpv. 4 LDDS: questione dell'esigibilità dell'esecuzione dell’allontana-mento di Rom, Askhali ed Egiziani albanofoni del Cossovo.

Art. 14b cpv. 2 LDDS in relazione all'art. 10 cpv. 1 lett. a e b LDDS e all'art. 14a cpv. 6 LDDS: applicazione del principio della proporzionalità nell'esame della revoca di un'ammissione provvisoria a causa della commissione d'atti penalmente riprensibili.

1. Separazione delle procedure ricorsuali in considerazione della profonda frattura dei legami famigliari (consid. 1.3.).

2. L'esecuzione dell'allontanamento verso il Cossovo di Rom, Askhali ed Egiziani albanofoni è - conto tenuto dei nuovi sviluppi - di principio esigibile (consid. 6.2.3.; cfr. pure GICRA 2006 n. 10). Nel caso di una donna sola, con quattro figlie minorenni a carico, che non dispone in Cossovo né d'alloggio né di una solida rete sociale, l'esecuzione dell'allontanamento è tuttavia inesigibile (consid. 6.2.4.).


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3. Di regola, gli appartenenti alle citate minoranze non dispongono di un'alternativa di soggiorno interna nella Serbia e Montenegro (consid. 6.3.; conferma della giurisprudenza di cui a GICRA 2001 ni 1 e 13).

4. Nell'ambito d’una procedura di revoca dell'ammissione provvisoria a causa della commissione d'atti penalmente riprensibili, bisogna tener conto del principio della proporzionalità ed esaminare i contrapposti interessi in gioco, ossia quello pubblico all'esecuzione dell'allontanamento e quello privato dei ricorrenti alla continuazione del soggiorno in Svizzera (consid. 7.2. e 7.3.).

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Die aus dem Kosovo stammende - ethnisch den albanischsprachigen Roma zugehörige - Beschwerdeführerin ersuchte gemeinsam mit ihrem Ehemann Y. und ihren sechs Kindern A., B., C., D., E. und F. am 16. Dezember 1997 in der Schweiz um Asyl.

Im Rahmen der Befragungen durch die Asylbehörden vom 17. Dezember 1997 und vom 5. Mai 1998 brachte die Beschwerdeführerin zur Begründung ihres Asylgesuches im Wesentlichen vor, den Heimatstaat ihres Ehemannes wegen verlassen zu haben. Dieser sei kurz nach dem Tod seines Vaters im Dezember 1996 von der Polizei zu Hause festgenommen, auf den Posten mitgenommen und für längere Zeit festgehalten worden, obschon er die von der Polizei gesuchten Waffen seines Vaters abgegeben habe. Nach seiner Freilassung sei die Polizei wiederholt gekommen, um das Haus zu durchsuchen und ihren Mann auf den Posten mitzunehmen. Sie selbst sei dabei einmal geschlagen worden. Aus diesen Gründen habe die Familie am 5. Dezember 1997 ihren Heimatstaat verlassen.

Mit Verfügung vom 20. Januar 2000 stellte das BFF fest, die Beschwerdeführerin und ihre Familie erfüllten die Flüchtlingseigenschaft nicht, wies das Asylgesuch ab und ordnete die Wegweisung aus der Schweiz sowie den Vollzug an. Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wurde mit Urteil der ARK vom 24. Januar 2002 bezüglich des Vollzuges der Wegweisung gutgeheissen, worauf das BFF mit Verfügung vom 30. Januar 2002 die vorläufige Aufnahme der Beschwerdeführerin und ihrer Familie anordnete.

Im Jahre 2003 ersuchte das BFF im Hinblick auf eine allfällige Aufhebung der vorläufigen Aufnahme das Schweizerische Verbindungsbüro in Pristina (Kosovo) um Abklärungen vor Ort. Nach Gewährung des rechtlichen Gehörs hob


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das Bundesamt sodann mit zwei separaten Verfügungen vom 10. Dezember 2003 - die eine bezüglich die Beschwerdeführerin, deren Ehemann und die fünf minderjährigen Kinder, die andere bezüglich die zwischenzeitlich volljährig gewordene Tochter A. - die vorläufige Aufnahme auf.

Mit Eingabe ihres Rechtsvertreters vom 9. Januar 2004 fochten die Beschwerdeführerin und ihre Familie diese Verfügungen bei der ARK an. Der zuständige Instruktionsrichter der ARK hiess mit Zwischenverfügung vom 22. Januar 2004 unter anderem das Gesuch um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde gut. Überdies zeigte er an, dass die beiden Verfahren - der Eltern mit den minderjährigen Kindern einerseits und der volljährigen Tochter A. andererseits - koordiniert behandelt würden.

Im Verlaufe des Jahres 2004 übermittelten das kantonale Migrationsamt sowie die Sozialbehörde der Gemeinde R. der ARK diverse Rapporte der Kantonspolizei betreffend die Kinder A., B., C. und D. sowie ein Urteil des Jugendgerichts H. vom 22. September 2004 betreffend D. in Kopie. Mit Zwischenverfügungen vom 28. Februar 2005 beziehungsweise vom 6. April 2005 gewährte der Instruktionsrichter der ARK der Beschwerdeführerin und ihrer Familie das rechtliche Gehör zu den eingegangenen Aktenstücken und forderte sie auf, Zwischenberichte über die Fremdplatzierung des Sohnes B. und der Töchter C. und D., Unterlagen über allfällige weitere vormundschaftliche Massnahmen, sowie einen aktuellen psychiatrischen Bericht über die Tochter A. einzureichen. Dieser Aufforderung kam der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin mit Eingaben vom 30. März 2005 und vom 29. April 2005 nach, indem er zahlreiche Berichte über die Kinder A., B., C. und D. zu den Akten reichte.

Mit Eingabe vom 17. August 2005 liess das kantonale Migrationsamt der ARK weitere Polizeirapporte betreffend C. und D. zukommen. Am 22. September 2005 ersuchte sodann die Gemeinde R. das kantonale Migrationsamt um Umplatzierung der Beschwerdeführerin und ihrer Familie, da deren Verhalten nicht mehr tragbar sei. Der Instruktionsrichter der ARK gewährte der Beschwerdeführerin und ihrer Familie mit Zwischenverfügungen vom 16. und 28. September 2005 das rechtliche Gehör zu diesen Unterlagen, welches diese mit Eingabe vom 14. Oktober 2005 wahrnahm. Dazu reichte der Rechtsvertreter diverse Dokumente zu den Akten, neben Berichten hinsichtlich der Fremdbetreuung der Kinder B., C. und D. namentlich zwei Entscheide der Jugendanwaltschaft H. vom 3. Oktober 2005 (betreffend C.) beziehungsweise vom 7. Oktober 2005 (betreffend D.).

Mit Schreiben vom 21. November 2005 teilte die Sozialbehörde R. der ARK mit, dass die kantonale Staatsanwaltschaft aufgrund massiver innerfamiliärer


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Auseinandersetzungen ein Strafverfahren gegen den Ehemann der Beschwerdeführerin - unter anderem wegen Gefährdung des Lebens und Körperverletzung - eingeleitet und diesen in Untersuchungshaft genommen habe. Für die beiden jüngsten Töchter E. und F. müsse eine Beistandschaft errichtet werden; die Beschwerdeführerin habe schliesslich angezeigt, dass sie sich von ihrem Ehemann trennen wolle.

Das BFM beantragte in seiner Vernehmlassung vom 5. Dezember 2005 unter Hinweis auf die vorhandenen Strafakten sowie die innerfamiliäre Situation die Abweisung der Beschwerde.

Mit zwei Eingaben vom 12. Dezember 2005 an das BFM teilte die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich mit, dass sich einerseits der Ehemann der Beschwerdeführerin aufgrund einer Strafanzeige vom 9. November 2005 wegen des Vorwurfs häuslicher Gewalt, eines versuchten Tötungsdeliktes, Gefährdung des Lebens, Drohung, Körperverletzung und Tätlichkeiten, und andererseits deren Sohn B. wegen einer am 8. Dezember 2005 begangenen Körperverletzung in Untersuchungshaft befänden.

Innerhalb der der Beschwerdeführerin und ihrer Familie mit Zwischenverfügung vom 21. Dezember 2005 gewährten Replikfrist beantragte die Beschwerdeführerin mit Eingabe vom 23. Dezember 2005 die Trennung des Beschwerdeverfahrens in vier separate Verfahren für sich und die minderjährigen Töchter C., D., E. und F., ihren Ehemann, die volljährige Tochter A. mit Kind G., und den inzwischen volljährig gewordenen Sohn B.

Mit Zwischenverfügung vom 9. Januar 2005 gewährte die ARK der Beschwerdeführerin innerhalb der noch laufenden Replikfrist das rechtliche Gehör zu den der ARK von der kantonalen Staatsanwaltschaft übermittelten, ihren Ehemann und ihren Sohn betreffenden Strafuntersuchungsakten. Die Beschwerdeführerin liess sich dazu nicht vernehmen.

Die ARK heisst die Beschwerde gut.

Aus den Erwägungen:

1.3. Vorab ist in verfahrensrechtlicher Hinsicht festzuhalten, dass die ARK eine Trennung des vorliegenden Beschwerdeverfahrens von demjenigen des Ehemannes der Beschwerdeführerin als angezeigt erachtet. Gegen Y. wurde nach massiven innerfamiliären Übergriffen auf Strafantrag der Beschwerdeführerin vom 9. November 2005 hin ein Strafverfahren wegen häuslicher Gewalt, eines


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versuchten Tötungsdeliktes, Gefährdung des Lebens, Drohung, Körperverletzung und Tätlichkeiten eröffnet. Aus den Akten ergibt sich ferner, dass er in der Vergangenheit regelmässig und zum Teil in schwerwiegender Weise seine Kinder - und dabei insbesondere auch seine Töchter C. und D. - körperlich gezüchtigt hat (vgl. dazu auch nachfolgende Erw. 7.2.2.). Der Ehemann der Beschwerdeführerin wurde in diesem Zusammenhang im November 2005 in Untersuchungshaft versetzt, welche derzeit noch andauert. Gemäss Mitteilung der Sozialbehörde R. vom 21. November 2005 beabsichtigt die Beschwerdeführerin sodann, sich von diesem zu trennen. Ohne dem laufenden Straf- beziehungsweise einem allfälligen Eheschutz-/Ehescheidungsverfahren vorzugreifen, ist bei dieser Sachlage von einer tiefen Zerrüttung der Familienverhältnisse auszugehen; die Trennung der Asylbeschwerdeverfahren liegt daher im Interesse der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder, weshalb der Grundsatz der Einheit der Familie nicht länger zur Anwendung kommt (vgl. dazu auch EMARK 2003 Nr. 3, Erw. 1c, S. 26, m.w.H.). Im Rahmen des ihr dazu gewährten Rechts zur Stellungnahme hat sich denn auch die Beschwerdeführerin selber durch Schreiben ihres Rechtsvertreters vom 23. Dezember 2005 für eine Trennung des Beschwerdeverfahrens ausgesprochen beziehungsweise eine solche beantragt.

[…]

4. Das Bundesamt hat mit Verfügung vom 10. Dezember 2003 die von ihm am 30. Januar 2002 - im Nachgang an die mit Urteil der ARK vom 20. Januar 2002 erfolgte teilweise Gutheissung des Rechtsmittels der Beschwerdeführerin und ihrer Familie - zufolge Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzuges angeordnete vorläufige Aufnahme der Beschwerdeführerin mit der Begründung, das Verhalten etlicher Familienmitglieder, darunter der Töchter C. und D., habe wiederholt zu schweren Klagen Anlass gegeben, aufgehoben.

Es ist im Folgenden zunächst zu prüfen, ob einer Rückkehr der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder in den Kosovo einerseits (vgl. Erw. 6.2.) beziehungsweise in das übrige Staatsgebiet von Serbien und Montenegro andererseits (vgl. Erw. 6.3.) im heutigen Zeitpunkt immer noch Wegweisungshindernisse entgegen stehen, ist doch für die Beurteilung des rechtserheblichen Sachverhalts bezüglich des Vollzugs der Wegweisung die Situation im Zeitpunkt der Entscheidfällung massgeblich (vgl. EMARK 1997 Nr. 27). Bei Bejahung dieser Fragen ist ferner zu beurteilen, ob die Beschwerdeführerin und ihre Kinder durch ihr Verhalten in der Schweiz die hiesige öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet oder schwerwiegend verletzt haben (vgl. Erw. 7.2.2.) beziehungsweise ob ausländerrechtliche Ausweisungsgründe bestehen (vgl. Erw. 7.3.) und ob das aufgrund einer allfällig festgestellten Gefährdung oder Verletzung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bestehende Fernhalteinteresse der Schweiz im Rahmen


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einer Gesamtbeurteilung das Schutzbedürfnis und das private Interesse der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder am weiteren Verbleib in der Schweiz übersteigt (vgl. Erw. 7.2.3. und 7.2.4. sowie Erw. 7.3. in fine).

5. […]

6. Aus humanitären Gründen, nicht in Erfüllung völkerrechtlicher Pflichten der Schweiz, wird auf den Vollzug der Wegweisung in Anwendung von Art. 14a Abs. 4 ANAG auch verzichtet, wenn die Rückkehr in den Heimatstaat für den Betroffenen eine konkrete Gefährdung darstellt. Eine solche Gefährdung kann angesichts der im Heimatland herrschenden allgemeinen politischen Lage, die sich durch Krieg, Bürgerkrieg oder durch eine Situation allgemeiner Gewalt kennzeichnet, oder aufgrund anderer Gefahrenmomente, wie beispielsweise der Nichterhältlichkeit einer notwendigen medizinischen Behandlung, angenommen werden (vgl. EMARK 2005 Nr. 13, Erw. 7.2., S. 121; vgl. auch Botschaft zum Bundesbeschluss über das Asylverfahren vom 22. Juni 1990, BBl 1990 II 668).

6.1. Das Bundesamt hat sich in seiner Verfügung vom 10. Dezember 2003 nicht ausdrücklich zur Frage der Zumutbarkeit des Vollzuges der Wegweisung der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder nach Serbien und Montenegro (sei es innerhalb oder ausserhalb des Kosovo) geäussert. Da es sich ausführlich mit dem Verhalten einzelner Familienangehöriger in der Schweiz auseinander gesetzt und abschliessend festgehalten hat, angesichts der schwerwiegenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung finde Art. 14a Abs. 4 ANAG keine Anwendung mehr, ist indessen davon auszugehen, dass das Bundesamt die Zumutbarkeit des Vollzuges implizit verneint hat.

6.2.

6.2.1. Soweit die Frage einer Rückkehr in den Kosovo betreffend, steht diese Einschätzung des Bundesamtes im Zeitpunkt des Erlasses seiner Verfügung vom 10. Dezember 2003 denn auch im Einklang mit der damaligen Praxis der ARK, wonach der Vollzug der Wegweisung von albanischsprachigen Roma (wie der Beschwerdeführerin; vgl. nachfolgende Erw. 6.2.4.), Ashkali und so genannten "Ägyptern" (Maghjup), welche aus gewissen, im Kosovo liegenden Bezirken - darunter auch […], der Herkunftsbezirk der Beschwerdeführerin - stammten, zwar als grundsätzlich zumutbar erachtet wurde, allerdings nur unter dem Vorbehalt, dass eine aktuelle Einzelfallabklärung - insbesondere durch das Schweizerische Verbindungsbüro im Kosovo - das Vorhandensein der Kriterien eines bestimmten Prüfprogrammes (welches namentlich die berufliche Ausbildung, den Gesundheitszustand und das Alter der betroffenen Person, sowie die Frage des Vorliegens einer ausreichenden wirtschaftlichen Lebensgrundlage und eines sozialen oder verwandtschaftlichen Beziehungsnetzes umfasste), ergab. Vor


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dem Hintergrund des Abklärungsberichtes des Verbindungsbüros vom 19. November 2003, gemäss welchem die beiden Häuser des weiteren Familienverbandes der Beschwerdeführerin bis auf die Grundmauern zerstört waren, seit dem Kosovokrieg im Jahre 1999 kein einziger Roma in dieses Gebiet zurückgekehrt war, der Familienverband der Beschwerdeführerin von der albanischen Bevölkerung als den Serben nahe stehend betrachtet wurde und für den Fall des Versuchs einer zwangsweisen Rückführung der damals 8-köpfigen Kernfamilie der Beschwerdeführerin eine Weigerung der UNMIK angenommen wurde, war die Zumutbarkeit des Vollzuges der Wegweisung offensichtlich zu verneinen.

6.2.2. Die ARK beobachtet und beurteilt die allgemeine Lage der Minderheiten im Kosovo laufend. Ihre - nicht immer publizierte - Praxis betreffend die hier interessierenden Angehörigen der albanischsprachigen Roma, Ashkali und "Ägypter" hat sich seit der Beendigung des Kosovokrieges im Juni 1999 und der aufgrund des Übergangs der faktischen Herrschaftsverhältnisse auf die albanischstämmige Bevölkerungsmehrheit auftretenden Übergriffe auf diese Minderheiten wie folgt entwickelt: Zunächst verneinte sie vor dem Hintergrund flächendeckender massiver Behelligungen und eigentlicher Vertreibungstendenzen die Zumutbarkeit des Vollzuges von angeordneten Wegweisungen gänzlich (vgl. Urteil der ARK vom 8. Dezember 2000 i.S. B.A., publiziert unter EMARK 2001 Nr. 1). Diese Einschätzung wurde anlässlich weiterer Lagebeurteilungen im Frühjahr 2001 (vgl. EMARK 2001 Nr. 13, Erw. 5d, S. 105 f.) und im Sommer 2002 beibehalten. Nach einer längeren Phase mit einer gewissen, wenn auch vorab graduellen Beruhigung der Situation für die genannten Minderheiten, ging die ARK in ihrer Beurteilung im Sommer 2003 zu der unter vorangehender Erw. 6.2.1. erläuterten Praxis der Einzelfallabklärung über. Am 17. und 18. März 2004 wurde der Kosovo indessen - nach dem angeblich von serbischstämmigen Kosovaren verschuldeten Tod albanischstämmiger Kinder - erneut von heftigen interethnischen Unruhen erschüttert, an denen sich bis zu 50'000 Menschen beteiligten und von denen das ganze Gebiet betroffen war. Aufgebrachte albanischstämmige Kosovaren griffen Angehörige von Minderheiten an, plünderten und brandschatzten deren Häuser und zerstörten Orte religiöser Andacht. Bei diesen Gewalttätigkeiten kamen ungefähr 30 Menschen ums Leben und wurden hunderte von Personen verletzt - vorab Angehörige ethnischer Minderheiten; daneben wurden mehr als 700 Wohnhäuser und 36 religiöse Stätten zerstört. Die internationalen Truppen standen den Ausschreitungen ebenso machtlos gegenüber wie die lokalen Polizeikräfte. Spätere Untersuchungen ergaben, dass die ohnehin bestehenden interethnischen Spannungen im Vorfeld der Ausschreitungen durch nationalistische Kreise bewusst geschürt worden waren, um eine Eskalation zu provozieren. Angesichts der zielgerichteten Vorbereitung und des hohen Organisationsgrades der Übergriffe gehen die meisten Beobachter von einer konzertierten Aktion aus, die sich gezielt gegen Angehö-


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rige von Minderheiten richtete und deren Vertreibung aus dem Kosovo bezweckte; es war auch die Rede von eigentlichen ethnischen Säuberungen (vgl. dazu ausführlich EMARK 2005 Nr. 9, mit Angabe entsprechender Quellen). Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der schwierigen ökonomischen und sozialen Situation der albanischsprachigen Roma, Ashkali und "Ägypter" erachtete die ARK in der Folge im Rahmen ihrer Lageeinschätzung im Herbst 2004 den Vollzug der Wegweisung in den Kosovo für diese Minderheiten als grundsätzlich nicht zumutbar im Sinne von Art. 14a Abs. 4 ANAG, mit Ausnahmen lediglich für Personen mit besonderer Verbundenheit mit der albanischstämmigen Bevölkerung oder einem tragfähigen familiären Netz; bei der Beurteilung dieses Netzes stellte sie jedoch nicht allein auf sozio-ökonomische Umstände ab, sondern forderte angesichts des weitgehend fehlenden Schutzes der ethnischen Minderheiten vor den Ressentiments der albanischstämmigen Bevölkerung durch die internationalen und lokalen Sicherheitskräfte zusätzlich das Vorhandensein genügender Sicherheitselemente (vgl. dazu im Einzelnen EMARK 2005 Nr. 9).

6.2.3. Seither hat sich die Situation - mit Blick auf die albanischsprachigen Roma, Ashkali und "Ägypter" - nach Einschätzung der ARK insgesamt wieder etwas entspannt; die Kommission stützt sich dabei insbesondere auf folgende Berichte nationaler und internationaler Organisationen: UNHCR-Position zur fortdauernden Schutzbedürftigkeit von Personen aus dem Kosovo, vom März 2005; Bericht von K. Eide zuhanden des UN-Sicherheitsrates vom 13. Juni 2005; European Commission, Kosovo, 2005 Progress Report vom 9. November 2005; Norwegian Refugee Council/Global IDP Project, Profile of internal displacement: Serbia & Montenegro, vom 27. September 2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Kosovo, Zur Situation der Roma-Gemeinschaften (Roma/Ashkali/ÄgypterInnen), vom 25. Juli 2005; Amnesty International, Kosovo: The March Violence - One year on, vom 17. März 2005. Die Tendenz zu einer gewissen Beruhigung der Lage nach den Ausschreitungen vom 17. und 18. März 2004 zeichnete sich bereits im Vorfeld der Parlamentswahlen im Kosovo vom 23. Oktober 2004 ab, als bisherige Sammelbecken für Nationalisten - wie Povratak, LDK und PDK - an Einfluss verloren und neue, gemässigte Parteien wie die serbische PSS-SPOT und die albanische ADK erschienen. Die von internationalen Beobachtern als frei und fair bezeichneten Wahlen vom 23. Oktober 2004 brachten dem Kosovo alsdann eine Regierung unter dem früheren UCK-Kommandanten Ramush Haradinaj, welcher im Verlaufe seiner nur kurzen Amtszeit durch dynamische und versöhnliche Auftritte auffiel. So äusserte er sich im Februar 2005 mit Blick auf die ethnischen Minderheiten im Kosovo dahingehend, dass unter Mitwirkung aller Seiten ein Klima der gegenseitigen Toleranz, des Verstehens und des Respektierens zu schaffen und den Minderheiten die vollständige Bewegungsfreiheit und die Rückkehr an ihre ursprüngli-


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chen Wohnorte zu ermöglichen seien. Bereits nach nur 100-tägiger Amtszeit trat Haradinaj jedoch als Premierminister zurück und stellte sich in Den Haag den zuständigen Behörden, nachdem vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Ex-Jugoslawien Anklage wegen im Kosovokrieg begangener Kriegsverbrechen gegen ihn erhoben worden war. Auf seinen Posten in der Regierung rückte Bajram Kosumi nach, welcher bereits an den Verhandlungen von Rambouillet im Jahre 1999 teilgenommen hatte und den von seinem Vorgänger eingeschlagenen Kurs weiter verfolgt. Im Gleichschritt mit diesen Tendenzen auf politischer Ebene stabilisierte sich auch die allgemeine Sicherheitslage im Kosovo. Es wurden nur noch wenige gewaltsame Übergriffe gegen Angehörige von Minderheiten bekannt, wobei dies allerdings zumindest teilweise auch daran liegen dürfte, dass sich die Opfer aus Furcht vor weiteren Repressalien nicht bei den Behörden melden oder die interethnischen Gewaltakte auf niedrigerem Niveau stattfinden (vgl. dazu Eide, a.a.O., S. 14 f.; SFH, a.a.O., S. 6), beziehungsweise daran, dass die Angehörigen ethnischer Minderheiten seit den Ereignissen vom März 2004 faktisch gravierenden Einschränkungen in der Freizügigkeit ausgesetzt sind, was zu einer deutlichen Verminderung der Berührungspunkte zwischen den Bevölkerungsgruppen geführt hat (vgl. UNHCR, a.a.O., Ziff. II/A.1.3). Es erstaunt daher nicht, dass gemäss Informationen des Deutschen Verbindungsbüros im Jahre 2005 von zirka 3'000 angemeldeten, aus Deutschland rückzuführenden Personen - vorab Angehörige ethnischer Minderheiten - von der UNMIK lediglich zirka 400 Personen tatsächlich rückübernommen wurden, wobei die Gründe für die rund 80%-ige Ablehnungsquote vorrangig bei fehlenden Unterkünften, Sicherheitsbedenken (seitens der UNMIK, welche sich eine eigenständige Einzelfallprüfung vorbehält) oder Krankheiten der betroffenen Personen liegen (vgl. dazu Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes, 27. Dezember 2005, sowie Der Spiegel, Ausgabe 51/2005, S. 38). Immerhin wurde aber im Jahre 2004 ein Antidiskriminierungs-Gesetz angenommen, was trotz dessen nur schleppender Umsetzung als positives Zeichen zu werten ist. Auch wenn nicht zu verkennen ist, dass sich die Situation weiterhin als fragil präsentiert, Angehörige von Minderheitsethnien nach wie vor unter zahlreichen Benachteiligungen im täglichen Leben - so namentlich in Bezug auf den Zugang zu Wohnraum, Arbeit, medizinischer Versorgung und Bildung - leiden, und eine längerfristige Prognose kaum zuverlässig gestellt werden kann, erachtet es die ARK als angemessen, im heutigen Zeitpunkt zumindest hinsichtlich der albanischsprachigen Roma, Ashkali und "Ägypter" zu einer Praxis der Einzelfallbetrachtung zurückzukehren, da deren sprachlicher Hintergrund eine Integration in die Mehrheitsgemeinschaft zumindest nicht zusätzlich behindert und das Risiko, Opfer von "zufälligen" Übergriffen zu werden, wenn auch keineswegs ausschliesst, so doch wenigstens spürbar reduziert. Diese Praxisänderung steht im Einklang mit den Empfehlungen des UNHCR vom März 2005, welches ebenfalls davon ausgeht, dass seitens der albanischstämmigen Bevölkerungsmehrheit


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unter anderem den Ashkali und den "Ägyptern" mit grösserer Toleranz begegnet wird, und aus diesem Grund von seiner im August 2004 vertretenen Auffassung, wonach Angehörige dieser Ethnien generell als Personen mit einem fortbestehenden Bedürfnis nach internationalem Schutz zu zählen seien, abgewichen ist und nunmehr die Position vertritt, dass diese Gruppen "nur" noch in Einzelfällen ein derartiges Schutzbedürfnis haben, welches allerdings in einem umfassenden individuellen Verfahren geprüft werden sollte (vgl. UNHCR, a.a.O., Ziff. III/1.15).

Im Einzelnen erachtet die ARK den Vollzug der Wegweisung von albanischsprachigen Roma, Ashkali und "Ägyptern" als grundsätzlich zumutbar, sofern eine aktuelle Einzelfallabklärung - insbesondere über das Schweizerische Verbindungsbüro im Kosovo - ergibt, dass (neben dem Fehlen einzelfallspezifischer Gefährdungsfaktoren) unter Berücksichtigung des Alters, des Gesundheitszustandes und der beruflichen Ausbildung der betroffenen Person sowie des Vorhandenseins eines sozialen oder verwandtschaftlichen Beziehungsnetzes deren ausreichende wirtschaftliche Lebensgrundlage gesichert erscheint, wobei bei besonderer Verbundenheit mit der albanischstämmigen Bevölkerungsmehrheit weiter gehende Ausnahmen denkbar sind (vgl. das Urteil der ARK vom 18. November 2005 i.S. N.K. und Familie, Serbien und Montenegro; dieses Urteil wurde unter EMARK 2006 Nr. 10 publiziert).

6.2.4. Die Beschwerdeführerin und ihre Töchter gehören der Minderheit der albanischsprachigen Roma an (vgl. diesbezüglich u.a. den Abklärungsbericht des Verbindungsbüros im Kosovo vom 19. November 2003, in welchem die ursprünglich fälschliche Annahme der Asylbehörden, sie seien Ashkali, berichtigt wurde). Sie wohnten vor ihrer Ausreise aus dem Heimatstaat in der Ortschaft […] im Bezirk […], wo ihr weiterer Familienverband ursprünglich zwei Häuser und rund sieben Hektaren Land besass. Gemäss den Abklärungen des Verbindungsbüros im November 2003 vor Ort - von deren grundsätzlicher Aktualität auch im heutigen Zeitpunkt noch auszugehen ist - sind die Häuser indessen nicht mehr bewohnbar; währenddem das eine von alleine zerfiel, wurde das andere nach dem Kosovokrieg bis auf die Grundmauern ausgeplündert. Die Familien der Beschwerdeführerin und ihrer Schwäger (welche ebenfalls vertrieben wurden) waren die einzigen Roma im Ort, so dass die Beschwerdeführerin und ihre Töchter dort in keiner Weise mehr auf ein familiäres oder soziales Beziehungsnetz zurückgreifen könnten; sie hätten bei einer allfälligen Rückkehr in den Heimatstaat vielmehr zusätzlich erneute Übergriffe durch ihren eigenen Ehemann/Vater zu befürchten. Der weitere Familienverband des Ehemannes der Beschwerdeführerin wird sodann - wie unter Erw. 6.2.1. bereits erwähnt - von der albanischstämmigen Bevölkerung als den Serben nahe stehend betrachtet, was


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auch für die Beschwerdeführerin und ihre Töchter ein nicht unbeträchtliches Gefährdungspotenzial darstellt und mit erheblicher Wahrscheinlichkeit eine Verweigerung der Rückübernahme durch die UNMIK bewirken würde (vgl. die diesbezügliche Einschätzung des mit den Abklärungen vor Ort beauftragten Mitarbeiters des Verbindungsbüros vom 19. November 2003, welche aufgrund der bereits erwähnten Erfahrungen der deutschen Behörden für das Jahr 2005 nach wie vor aktuell sein dürfte). Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass die Beschwerdeführerin im Rahmen der Befragungen durch die schweizerischen Asylbehörden vom 17. Dezember 1997 und vom 5. Mai 1998 drei Brüder und eine Schwester erwähnt hat, welche sich in diesem Zeitpunkt im Heimatstaat aufhielten. Ungeachtet der Frage, ob diese Angaben heute überhaupt noch aktuell sind, ist diesbezüglich festzuhalten, dass zum einen ein Bruder der Beschwerdeführerin selber krank ist […], und zum andern aufgrund der Aktenlage allfällige noch im Kosovo verbliebene Verwandte der Beschwerdeführerin vor deren persönlichem Hintergrund kein genügend stabiles familiäres Netz im Sinne der ARK-Praxis darstellen würden. Der Vollzug der Wegweisung in den Kosovo ist demnach im Sinne der Rechtsprechung der ARK als nicht zumutbar zu bezeichnen.

6.3. Nachdem die Zumutbarkeit des Vollzuges der Wegweisung in den Kosovo zu verneinen ist, ist im Weiteren zu prüfen, ob der Beschwerdeführerin und ihren Kindern in Serbien und Montenegro eine inländische Aufenthaltsalternative ausserhalb des Kosovo - welcher gemäss Resolution 1244 des UNO-Sicherheitsrats vom 10. Juni 1999 unter serbischer Souveränität verbleibt - offen stünde. Diesbezüglich ist festzuhalten, dass im Nachgang an den Kosovokrieg schätzungsweise 250 000 (die Dunkelziffer wird von internationalen Beobachtern allerdings als deutlich höher bezeichnet) aus dem Kosovo stammende Personen - hauptsächlich ethnische Serben und Roma - ins übrige Gebiet von Serbien und Montenegro gelangten, wo die überwiegende Mehrheit von ihnen als Binnenflüchtlinge (internally displaced persons [IDP]) unter prekären Bedingungen in behelfsmässigen und als Übergangslösung gedachten Unterkünften untergebracht wurden. Nachdem in einer ersten Phase noch eine gewisse Unterstützung durch internationale Organisationen und private Hilfswerke floss, wurde die weitere Betreuung bald den heimatstaatlichen Behörden überlassen. Diese lassen indessen, trotz gewisser, allerdings oft halbherziger Bestrebungen auf gesamtstaatlicher Ebene, weitgehend ein Interesse an der Erleichterung der Integration der IDP vermissen, da sie nach wie vor grundsätzlich davon ausgehen, dass diese Personen längerfristig wieder in ihre ursprünglichen Herkunftsorte im Kosovo zurück kehren werden. In diesem Zustand sind die Bedingungen für die Binnenflüchtlinge zum Wiederaufbau einer neuen wirtschaftlichen und sozialen Existenz denkbar ungünstig. Insbesondere Angehörige der Minderheitsethnien haben es diesbezüglich besonders schwer, Fuss zu fassen; sie sind in allen Be-


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reichen - namentlich beim Zugang zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt, im Bildungswesen und teilweise auch im Bereich der medizinischen Versorgung - benachteiligt. Es wird denn von unabhängigen Beobachtern auch darauf hingewiesen, dass unter anderem Roma, Ashkali, "Ägypter" und Gorani innerhalb der Gruppe der IDP als besonders verletzlich zu erachten seien; viele binnenvertriebene Personen dieser Ethnien leben unter erbärmlichen Bedingungen in inoffiziellen Behausungen ohne zureichende sanitäre Einrichtungen und haben minimalste Aussichten auf eine Erwerbstätigkeit. Bei Angehörigen der albanischsprachigen Minderheiten, von welchen nach den Ereignissen vom März 2004 eine weitere grosse Anzahl ins restliche Staatsgebiet geflüchtet oder vertrieben worden ist, kommt schliesslich eine wenig freundliche Haltung der serbischen Bevölkerung und der lokalen Behörden hinzu, werden sie doch gemeinhin der Kollaboration mit den Kosovo-Albanern bezichtigt (vgl. zum Ganzen u.a. Norwegian Refugee Council, a.a.O., und European Commission, Serbia and Montenegro, 2005 Progress Report, vom 9. November 2005, jeweils mit weiteren Hinweisen).

Vor diesem Hintergrund geht die ARK hinsichtlich der albanischsprachigen Roma, Ashkali und "Ägypter" in ständiger Praxis, an welcher auch im heutigen Zeitpunkt festzuhalten ist, davon aus, dass eine derartige Alternative in der Regel nicht zumutbar erscheint (vgl. EMARK 2001 Nr. 1, Erw. 6c, S. 4; 2001 Nr. 13, Erw. 5d, S. 105 f.). Im Falle der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder ergeben sich aus den Akten schliesslich keine Gründe, welche ein Abweichen von dieser generellen Betrachtungsweise nahe legen würden, gehören sie doch angesichts der oben stehenden Ausführungen gerade zum verletzlichsten Personenkreis. Vor dem persönlichen Hintergrund der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder ist dabei unerheblich, ob allenfalls gewisse Verwandte - wobei solche von Seiten des Ehemannes der Beschwerdeführerin angesichts der enormen, gewaltsamen Spannungen in der Kernfamilie von vornherein unbeachtlich sind - im Heimatstaat leben, zumal der einzige aktenkundige Bruder der Beschwerdeführerin - wie oben ausgeführt - gemäss den vorliegenden Unterlagen selber gesundheitlich angeschlagen ist.

6.4. Nach dem bisher Gesagten ist im Sinne eines Zwischenergebnisses festzuhalten, dass der Vollzug der Wegweisung der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder in deren Heimatstaat - sowohl innerhalb als auch ausserhalb des Kosovo - grundsätzlich nach wie vor als nicht zumutbar erscheint.

7.

7.1. Trotz an sich zu verneinender Zumutbarkeit kann indessen - die Zulässigkeit und Möglichkeit vorausgesetzt - der Vollzug der Wegweisung angeordnet werden, wenn die an sich schutzbedürftige Person ein deliktisches Verhalten an


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den Tag legt, durch welches das öffentliche Interesse am Vollzug das private Interesse am weiteren Verbleib in der Schweiz übersteigt. Steht die Anordnung einer vorläufigen Aufnahme zur Diskussion, ergibt sich diese Konsequenz aus Art. 14a Abs. 6 ANAG, wonach Abs. 4 derselben Bestimmung keine Anwendung findet, wenn der weg- oder ausgewiesene Ausländer die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet oder in schwerwiegender Weise verletzt hat. Ist demgegenüber - wie im vorliegenden Fall - über eine allfällige nachträgliche Aufhebung einer einmal wegen Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzuges angeordneten vorläufigen Aufnahme zufolge deliktischer Handlungen zu befinden, so fehlt es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage. Die ARK hat sich jedoch diesbezüglich in EMARK 2001 Nr. 17, Erw. 5, S. 132 f. dahin gehend geäussert, dass eine in Anwendung von Art. 14a Abs. 2-4 ANAG verfügte vorläufige Aufnahme nicht nur dann wieder aufgehoben werden könne, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände weggefallen seien, sondern auch dann, wenn der Ausländer mit seinem Fehlverhalten in der Schweiz die Voraussetzungen für eine Ausweisung in Anwendung von Art. 10 Bst. a oder b ANAG geschaffen habe. Im Weiteren wurde in diesem Entscheid die Frage aufgeworfen - letztlich jedoch offen gelassen -, ob der genannte Grund beziehungsweise Massstab für eine Aufhebung der vorläufigen Aufnahme gleichbedeutend sei wie derjenige von Art. 14a Abs. 6 ANAG. Die Frage braucht auch hier nicht abschliessend beantwortet zu werden, da - wie nachstehend aufgezeigt - ohnehin beide Tatbestände nicht erfüllt sind.

7.2.

7.2.1. Hinsichtlich der Bestimmung von Art. 14a Abs. 6 ANAG ist festzuhalten, dass deren Anwendung eine Abwägung zwischen den Interessen des Ausländers auf Verbleib in der Schweiz und denjenigen der Schweiz an seiner Wegweisung voraussetzt und dabei die Interessen des Staates am Schutz vor Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder deren schwerwiegender Verletzung einschränkt (vgl. EMARK 2004 Nr. 39, Erw. 5.3., S. 271; 2003 Nr. 3, Erw. 3a, S. 26; EMARK 1995 Nr. 10 und 11). Nach der Praxis der ARK ist die Ausschlussklausel von Art. 14a Abs. 6 ANAG sodann mit Zurückhaltung und insbesondere unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsprinzips anzuwenden (EMARK 2004 Nr. 39, Erw. 5.3., S. 271; 2003 Nr. 3, Erw. 3a, S. 27 und 1997 Nr. 24). Ein erster konkreter Hinweis darauf, was hinsichtlich der Anwendung von Art. 14a Abs. 6 ANAG praxisgemäss als verhältnismässig gilt, ergibt sich aus dem in EMARK 1995 Nr. 20 festgehaltenen Grundsatz, wonach im Vergleich zu den Ausnahmen bei der wegen Unmöglichkeit angeordneten vorläufigen Aufnahme wegen kriminellen, dissozialen oder rechtsmissbräuchlichen Verhaltens ein höherer Massstab anzusetzen ist. Somit genügt es nicht, wenn die kriminellen Handlungen des Ausländers den Schluss zulassen, dass dieser nicht gewillt oder nicht fähig ist, sich an die elementaren gesellschaftlichen Regeln


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des Zusammenlebens zu halten. Vielmehr müssen diese Handlungen eine schwerwiegende Gefährdung oder Verletzung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellen. Die Verurteilung zu einer bedingten Freiheitsstrafe beispielsweise lässt in der Regel nicht auf eine solche schliessen, jedoch kann deren Strafmass oder der Umstand, dass durch das begangene Delikt besonders wertvolle Rechtsgüter betroffen sind, zum gegenteiligen Schluss führen. Bei der Interessenabwägung ist der angedrohte Strafrahmen in Bezug zur verhängten Strafe zu setzen (vgl. EMARK 1995 Nr. 11). Auch die wiederholte Deliktsbegehung kann trotz bedingt ausgesprochener Freiheitsstrafe Anhaltspunkte für eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung geben, stellt eine solche doch die vermutete günstige Prognose erheblich in Frage. Im Weiteren kann auch das Vorleben des Ausländers bei der Interessenabwägung mitberücksichtigt werden.

7.2.2. Im vorliegenden Fall ergeben sich aus den Akten hinsichtlich der Frage der Verletzung beziehungsweise Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung folgende konkreten Anhaltspunkte:

[Zusammenfassung: Die beiden im Urteilszeitpunkt fünfzehn- beziehungsweise vierzehnjährigen Töchter C. und D. wurden wegen aggressiven Verhaltens von den öffentlichen Schulen verwiesen. Insbesondere in den Jahren 2003 und 2004 verübten sie eine beträchtliche Anzahl von Delikten, darunter mehrere gewalttätige Übergriffe auf gleichaltrige Mädchen und etliche Ladendiebstähle. Für diese Taten wurden sie mit Entscheiden der Jugendanwaltschaft H. vom 3. und 7. Oktober 2005 jugendstrafrechtlich verurteilt. Aufgrund ihres Verhaltens mussten C. und D. ferner mehrfach in Pflegefamilien, geschlossenen Wohngruppen und Jugendstätten fremdplatziert werden.]

[…] gelangt die ARK zum Schluss, dass die Mädchen durch ihr Verhalten die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne von Art. 14a Abs. 6 ANAG jedenfalls in schwerwiegender Weise verletzt haben; ob sie diese auch in Zukunft weiterhin gefährden, kann daher an dieser Stelle offen bleiben. Auf die Hintergründe der Delikte und die Frage der mutmasslichen weiteren Entwicklung von C. und D. wird indessen sogleich zurückzukommen sein.

7.2.3. Im Weiteren ist nämlich zu prüfen, ob die Aufhebung der vorläufigen Aufnahme als verhältnismässig gelten kann. Nach dem Verhältnismässigkeitsprinzip muss eine behördliche Anordnung zunächst geeignet und erforderlich sein, um ein angestrebtes Ziel zu erreichen. Darüber hinaus muss aber auch eine Ausgewogenheit zwischen der Eingriffsschwere und dem Gewicht des verfolgten öffentlichen Interesses gegeben sein (so genannte Verhältnismässigkeit im engeren Sinne), das heisst, der mit einer behördlichen Anordnung verbundene


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Eingriff darf im Vergleich zur Bedeutung des verfolgten öffentlichen Interesses nicht unangemessen schwer wiegen (vgl. dazu U. Häfelin/G. Müller, Grundriss des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 3. Aufl., Zürich 1998, S. 119 ff., B. Knapp, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 4. Aufl., Basel 1992, S. 115 ff.; vgl. auch EMARK 2003 Nr. 11, Erw. 7, S. 74 f.).

Gegen einen weiteren Verbleib der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder in der Schweiz spricht die Tatsache, dass insbesondere die Töchter C. und D. in stossender und teilweise schwerwiegender Weise gegen die hiesige Rechtsordnung verstossen haben. Mit ihrer zeitweise kaum abreissenden Serie von gewalttätigen Übergriffen haben sie bei einem weiten Opferkreis wertvolle Rechtsgüter (insbesondere die körperliche und psychische Unversehrtheit) verletzt beziehungsweise gefährdet und es ist davon auszugehen, dass etliche der betroffenen Opfer noch heute an den psychischen Folgen dieser Taten leiden. Zudem kann, auch wenn - wie nachstehend ausgeführt - die Intensität der diesbezüglichen Delinquenz im vergangenen Jahr deutlich zurückgegangen ist, die Gefahr neuerlicher Delikte zumindest für die nähere Zukunft nicht ausgeschlossen werden, zumal sich die ohnehin schon desolate innerfamiliäre Situation in jüngster Vergangenheit durch die Gewaltdelikte des Vaters und des Bruders der beiden Mädchen weiter zugespitzt hat. Vor diesem Hintergrund besteht an sich ein erhebliches öffentliches Interesse an einer Rückschaffung in den Heimatstaat.

Auf der anderen Seite spricht für einen weiteren Verbleib der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder in der Schweiz zunächst der Umstand, dass sie sich als albanischsprachige Roma in ihrem Heimatstaat mit den in oben stehender Erw. 6 genannten Schwierigkeiten konfrontiert sehen würden. Als allein erziehende und diesbezüglich offensichtlich völlig überforderte - Analphabetin mit vier minderjährigen Töchtern gehört die Beschwerdeführerin dabei sowohl mit Blick auf die Situation im Kosovo als auch mit Blick auf das übrige Staatsgebiet von Serbien und Montenegro zum verletzlichsten Personenkreis. Die Beschwerdeführerin verfügt ferner offensichtlich in keiner Weise über eigene Fähigkeiten, um für sich und ihre minderjährigen Töchter mittel- bis längerfristig eine wenigstens minimale, menschenwürdige Existenz aufzubauen. Sie und ihre Kinder sind damit praktisch vollumfänglich auf Fremdunterstützung, welche neben der materiellen Existenzsicherung auch eine intensive persönliche Betreuung beinhalten muss, angewiesen. Diese können sie jedoch im Heimatstaat weder von ihrer eigenen Familie - vom Ehemann der Beschwerdeführerin geht vielmehr selber eine zusätzliche Gefährdung aus - noch von staatlicher Seite erwarten.

Dass es sich bei der Beschwerdeführerin und ihren Kindern nicht um eine intakte Familie handelt, welche bei einer allfälligen Rückkehr wenigstens auf einen eigenen, starken Zusammenhalt zählen könnte, ist sodann vor allem auch


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unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die heute fünfzehn-, vierzehn-, zwölf- beziehungsweise elfjährigen Töchter der Beschwerdeführerin allesamt noch minderjährige Kinder sind, in hohem Masse relevant. Gemäss ständiger - auf der völkerrechtskonformen Auslegung von Art. 14a Abs. 4 ANAG im Lichte von Art. 3 KRK beruhender - Rechtsprechung der ARK ist diesfalls bei der Güterabwägung nämlich das Kindeswohl als gewichtiger Faktor zu betrachten, wobei namentlich folgende Kriterien massgeblich sind: Alter, Reife, Abhängigkeiten, Art (Nähe, Intensität, Tragfähigkeit) der Beziehungen, Eigenschaften der Bezugspersonen (insbesondere deren Unterstützungsbereitschaft und fähigkeit), Stand und Prognose bezüglich Entwicklung und Ausbildung sowie der Grad der erfolgten Integration bei längerem Aufenthalt in der Schweiz. Kinder sollen nicht ohne guten Grund aus einem einmal vertrauten Umfeld wieder heraus gerissen werden, wobei aus entwicklungspsychologischer Sicht nicht nur deren unmittelbares Umfeld (d.h. die Kernfamilie), sondern auch deren übrige soziale Einbettung zu berücksichtigen ist (vgl. dazu ausführlich EMARK 2005 Nr. 6, Erw. 6, S. 57 f., sowie 1998 Nr. 13, mit weiteren Hinweisen). Im vorliegenden Fall ist diesbezüglich festzuhalten, dass sich die Beschwerdeführerin und ihre Töchter seit dem 16. Dezember 1997, mithin seit über acht Jahren, in der Schweiz aufhalten, was bei der Interessenabwägung in erhöhtem Masse zu gewichten ist, zumal sich im Verfahren betreffend Aufhebung einer vorläufigen Aufnahme eine Widerrufskonstellation stellt, bei welcher der Massstab für den Entzug eines Rechtsstatus grundsätzlich höher anzusetzen ist als im Verfahren, in welchem dessen erstmalige Anordnung zu prüfen ist, und die Kinder im Zeitpunkt der Einreise erst gerade sieben-, sechs-, vier- beziehungsweise dreijährig waren. Alle vier Töchter haben damit ihre Kinds- und Jugendjahre weitestgehend in der Schweiz verbracht. Aufgrund des Verhaltens der gesamten Familie kann zwar von einer Verwurzelung in der Schweiz keine Rede sein. Allerdings haben die Mädchen aber - abgesehen von ihrer kulturellen Herkunft - auch keinerlei wirklichen Bezug zu ihrem Heimatstaat, zumal die Familie als albanischsprachige Roma auch dort stets am Rande der Gesellschaft lebte.

7.2.4. Vor dem Hintergrund dieses Zustandes der völligen Orientierungslosigkeit sind denn auch die gravierenden Übergriffe von C. und D. zu gewichten. Die beiden Mädchen steigerten ab dem Jahre 2003, mithin im Alter von dreizehn und zwölf Jahren, ihr Gewaltpotenzial, nachdem sie zuvor vorab durch verbal-aggressives Verhalten aufgefallen waren. Diese Entwicklung folgte einerseits auf totales schulisches Versagen und ging andererseits einher mit regelmässigen Misshandlungen durch den eigenen Vater. Dieser ist über Jahre hinweg innerhalb seiner Familie gewalttätig geworden, wobei insbesondere seine drei älteren Töchter - d.h. die heute volljährige A., C. und D. - Opfer der massiven Übergriffe waren. Die Kinder wurden von ihm häufig körperlich gemassregelt beziehungsweise regelrecht verprügelt, nachdem sie sich mit zuneh-


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mendem Alter den hiesigen Gepflogenheiten und Bedürfnissen pubertierender Kinder annäherten und er seinen in der Tradition der Roma zentralen Einfluss als Oberhaupt der Familie und Wahrer derer Ehre schwinden sah. […] Dieses Klima ständiger innerfamiliärer Gewalt, welchem die Mädchen bereits in Kindsjahren konstant als Opfer ausgesetzt waren, macht es zumindest erklärbar, dass C. und D. über Monate hinweg selber als Täterinnen in einer fatalen Spirale deliktischen Verhaltens verhaftet waren, welche […] eine bekannte Form von Jugendkriminalität darstellte. Auf der einen Seite waren bei ihnen sämtliche von der heutigen diesbezüglichen Forschung anerkannten Risikofaktoren gegeben (desolates familiäres Umfeld, soziale Benachteiligung, schulische Schwäche, sowie kulturell und migrationsbedingte Schwierigkeiten). Auf der anderen Seite folgten die Art, Ausübung und innere Rechtfertigung der Straftaten typischen Mustern: Es handelte sich um ausschliesslich im Gruppenverband begangene (ein bei Mädchen-Täterinnen mit dem Begriff "sisters in crime" umschriebenes Phänomen) Übergriffe innerhalb ihrer "peer group" (gleichaltrige Mädchen als Opfer), welche mit der Verteidigung gegen vermeintliche Provokationen beziehungsweise der Ablehnung der gesellschaftlichen Gruppe der Opfer legitimiert wurden (vgl. dazu ausführlich M. Eisner/D. Ribeaud, Auf dem Weg zu evidenzbasierter Gewaltprävention, terra cognita 6/2005; U. Mäder/H. Schmassmann/O. Steiner, Jugend und Gewalt, individuelle und gesellschaftliche Hintergründe, Studie der Universität Basel, basierend auf einer Auswertung der Kriminalitätsstatistik 2001 des Kantons Basel-Stadt; W. Stelly/J. Thomas, Kriminalität im Lebenslauf, Universität Tübingen, Institut für Kriminologie, 2005; Ch. Pfeiffer/P. Wetzels, Zur Struktur und Entwicklung der Jugendgewalt in Deutschland: Ein Thesenpapier auf Basis aktueller Forschungsbefunde, in: R. Oerter/S. Höfling, Mitwirkung und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen, Berichte und Studien der Hanns-Seidel-Stiftung, Band 83, München, 2001, S. 108). Vor diesem Hintergrund können die Taten von C. und D. nicht tel quel dem strafrechtlich relevanten Verhalten erwachsener Täter - welches die ARK unter anderem in den Beschwerdeverfahren des Vaters und des volljährigen Bruders der Mädchen zu beurteilen hatte - gleichgestellt werden; insbesondere ist angesichts ihres jungen Alters dem Aspekt der mutmasslichen künftigen persönlichen Entwicklung besonderes Gewicht beizumessen.

Diesbezüglich ergibt sich aus den Akten, dass durch die intensive Betreuung in spezialisierten Institutionen im Verlaufe der Zeit immerhin eine gewisse Stabilisierung erreicht werden konnte, wobei den beiden Mädchen die Fähigkeit zur Einsicht in das Unrecht ihrer Taten und der grundsätzliche Wille zur Besserung attestiert wurde. […] Die - zumindest verhalten - optimistischen Berichte der mit den Mädchen befassten Fachpersonen haben denn auch dazu geführt, dass die Jugendanwaltschaft bei ihren Entscheiden vom 3. und 7. Oktober 2005 von einer guten Prognose ausging und einerseits die über C. verhängte Einschliessung be-


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dingt aufschob und es andererseits betreffend D. bei einem blossen Verweis beliess.

Aufgrund der gesamten Akten gelangt auch die ARK zum Schluss, dass zumindest mittelfristig - insbesondere nach der Rückschaffung des Vaters in den Heimatstaat - Aussichten darauf bestehen, dass es den Mädchen gelingen kann, sich aus der unseligen Deliktsspirale zu lösen. So hat die seit Jahren mit den familiären Verhältnissen vertraute […] im Rahmen einer polizeilichen Einvernahme zum Vorfall vom 9. November 2005 darauf hingewiesen, dass eine allfällige Trennung des Ehemannes/Vaters von der Familie eine wesentliche Voraussetzung für eine Beruhigung in der Restfamilie darstellen, diese mithin begünstigen würde […]. Zu diesem Schritt hat sich die Beschwerdeführerin nun offensichtlich nach langen Jahren innerfamiliärer Gewalt denn auch entschlossen. Unter besonderer Berücksichtigung der Minderjährigkeit ihrer Kinder sowie der Aspekte des Kindeswohls erscheint es daher angezeigt, der Beschwerdeführerin und ihren Töchtern die Chance zu einer entscheidenden Wende im heutigen Zeitpunkt nicht von vornherein zu nehmen, zumal auch in der oben zitierten Literatur das Einwirken auf (Jugend-)Gewalt auslösende Faktoren als eines der wirksamsten Mittel zur Prävention genannt wird (vgl. dazu Eisner/Ribeaud, a.a.O., S. 33; Stelly/Thomas, a.a.O.; M. Eisner, z-proso, Zürcher Projet zur sozialen Entwicklung von Kindern, Universität Zürich, pädagogisches Institut, 2005). Zum Schutze der berechtigten öffentlichen Interessen stehen sodann einstweilen weniger schwere Eingriffsmöglichkeiten als die Rückschaffung der Beschwerdeführerin und ihrer Töchter in den Heimatstaat zur Verfügung. Neben psychiatrisch-psychologischer Einzel- und allenfalls Familientherapien - welche in der Vergangenheit bereits gewisse Erfolge zeitigten - besteht eine Palette von Kindesschutz- und Vormundschaftsmassnahmen gemäss Art. 307 ff. bzw. 360 ff. ZGB, falls die Beschwerdeführerin weiterhin mit der Betreuung und Erziehung ihrer Töchter überfordert ist. Dass dabei gegebenenfalls nicht unbeträchtliche Kosten anzufallen pflegen, ist zwar im Rahmen der Gesamtwürdigung nicht gänzlich ausser Acht zu lassen, darf indessen bei der Gegenüberstellung zu den überaus schlechten Aussichten bei einem Vollzug nicht das Ausschlag gebende Element darstellen.

7.2.5. Eine Gesamtabwägung der gegenseitigen Interessen lässt die Aufhebung der vorläufigen Aufnahme und Anordnung des Vollzuges der Wegweisung nach dem Gesagten im vorliegenden Fall derzeit als unverhältnismässig erscheinen. Die ARK gelangt demnach zum Schluss, dass das private Interesse der Beschwerdeführerin und ihrer minderjährigen Töchter, sich in der heutigen Situation auf die Rückführungsschranke von Art. 14a Abs. 4 ANAG zu berufen, gegenüber dem öffentlichen Interesse der Schweiz am Vollzug der Wegweisung überwiegt.


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7.3. Zum selben Ergebnis gelangt die ARK sodann auch bei einer Prüfung weiterer ausländerrechtlicher Ausweisungsgründe. Nach Art. 10 Abs. 1 ANAG kann ein Ausländer zwar unter anderem dann aus der Schweiz ausgewiesen werden, wenn er wegen eines Verbrechen oder Vergehens gerichtlich bestraft wurde (Bst. a) oder wenn sein Verhalten im allgemeinen und seine Handlungen darauf schliessen lassen, dass er nicht gewillt oder nicht fähig ist, sich in die im Gaststaat geltende Ordnung einzufügen (Bst. b).

Bezüglich der Bestimmung von Art. 10 Abs. 1 Bst. a ANAG ist festzuhalten, dass die Töchter C. und D. durch die Jugendanwaltschaft beziehungsweise das Jugendgericht H. rechtskräftig für ihr deliktisches Verhalten gerichtlich belangt wurden: C. wurde mit Entscheid vom 3. Oktober 2005 zu einer bedingt ausgesprochenen Einschliessung verurteilt, während D. mit Urteil vom 22. September 2004 in ein Erziehungsheim eingewiesen und ihr mit Entscheid vom 7. Oktober 2005 ein Verweis erteilt wurde. Diese Massnahmen gelten als "gerichtliche Bestrafung" im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Bst. a ANAG (vgl. BGE 125 II 521 ff., Erw. 3); zudem wurden sie unter anderem wegen Raub- und Nötigungsdelikten, mithin wegen Vergehen im Sinne von Art. 9 StGB, verhängt, weshalb die Voraussetzungen von Art. 10 Abs. 1 Bst. a ANAG grundsätzlich gegeben sind. Ferner erfüllt das über Jahre hinweg an den Tag gelegte wiederholte und teilweise schwer wiegende deliktische Verhalten der Mädchen die Voraussetzungen von Art. 10 Abs. 1 Bst. b ANAG (i.V.m. Art. 14b Abs. 2 ANAG), auch wenn dieser Tatbestand aufgrund der Vielzahl darin verwendeter unbestimmter Rechtsbegriffe grundsätzlich wenig fassbar erscheint (vgl. M. Spescha, Handbuch zum Ausländerrecht, Bern u.a. 1999, S. 130 f.; A. Zünd, Beendigung der Anwesenheit, Entfernung und Fernhaltung, in: Übersax/Münch/Geiser/Arnold [Hrsg.], Ausländerrecht, Basel u.a. 2002, S. 220 f.). Indessen ist hinsichtlich der Frage der Verhältnismässigkeit der Anwendung dieser Bestimmung - deren Prüfung gemäss der auf Art. 11 Abs. 3 ANAG i.V.m. Art. 16 Abs. 3 ANAV basierenden bundesgerichtlichen Praxis stets gestützt auf die gesamten wesentlichen Umstände des konkreten Einzelfalles vorzunehmen ist (vgl. dazu BGE 125 II 521 ff., Erw. 2; BGE 122 II 433 ff., Erw. 2 und 3) - vollumfänglich auf das in Erw. 7.2.3. und 7.2.4. Gesagte zu verweisen, wonach das private Interesse der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder das öffentliche Fernhalteinteresse der Schweiz derzeit überwiegt.

8. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Aufhebung der wegen Unzumutbarkeit des Vollzuges der Wegweisung angeordneten vorläufigen Aufnahme der Beschwerdeführerin und ihrer minderjährigen Töchter im heutigen Zeitpunkt weder nach Art. 14a Abs. 6 ANAG (i.V.m. Art. 14b Abs. 2 ANAG) noch nach Art. 10 Abs. 1 Bst. a und b ANAG (i.V.m. Art. 14b Abs. 2 ANAG) verhältnismässig erscheint; es ist indessen darauf hinzuweisen, dass bei einer allfälligen


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Fortführung des deliktischen Verhaltens eine Neueinschätzung der Situation selbstredend vorbehalten bleibt. Die Beschwerde ist demnach gutzuheissen, die angefochtene Verfügung des Bundesamtes vom 10. Dezember 2003 aufzuheben und dieses anzuweisen, die Beschwerdeführerin und ihre Töchter C., D., E. und F. weiterhin in der Schweiz vorläufig aufzunehmen. Bei dieser Sachlage erübrigt sich eine nähere Prüfung der Frage der Möglichkeit des Wegweisungsvollzuges beziehungsweise der Voraussetzungen einer schwerwiegenden persönlichen Notlage gemäss Art. 44 Abs. 3 AsylG.

 

 

 

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