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Auszug aus dem Urteil der ARK vom 21. Februar 2005 i.S. E.B. und Familie, Serbien und Montenegro

Art. 14a Abs. 4 ANAG: Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs von albanischsprachigen Roma aus dem Kosovo ?

1. Situation der ethnischen Minderheiten im Kosovo (Erw. 6.2. - 6.4.).

2. Der Vollzug der Wegweisung von albanischsprachigen Roma, Ashkali und Ägyptern in den Kosovo ist angesichts der derzeitigen Situation grundsätzlich nicht zumutbar. Er kann ausnahmsweise zumutbar sein, wenn die Betroffenen eine besondere Verbundenheit zur albanischen Bevölkerungsmehrheit aufweisen oder sich auf ein tragfähiges familiäres Netz abstützen können (Erw. 6.5.).

3. Ethnische Minderheiten im Kosovo sind den Ressentiments der albanischen Bevölkerungsmehrheit ausgesetzt und für ihre Sicherheit vorab auf die eigenen familiären und sozialen Strukturen angewiesen. Im Rahmen der Prüfung der Tragfähigkeit des familiären Netzes sind daher nicht nur sozioökonomische Faktoren, sondern auch Sicherheitsaspekte von Bedeutung (Erw. 6.5. und 6.6.).

Art. 14a al. 4 LSEE : exigibilité de l’exécution du renvoi des Roms albanophones du Kosovo ?

1. Analyse de la situation des minorités ethniques au Kosovo (consid. 6.2. à 6.4.).

2. Eu égard à la situation actuelle au Kosovo, l’exécution du renvoi des Roms, Ashkalis et Egyptiens albanophones n’y est pas, en principe, raisonnablement exigible. Elle peut exceptionnellement l’être, si les membres de ces minorités entretiennent des liens particuliers avec la population majoritaire albanaise ou s’ils peuvent compter sur le soutien d’un réseau familial (consid. 6.5.).

3. Les minorités ethniques au Kosovo sont discriminées en raison du ressentiment que nourrit la majorité albanaise à leur égard et doivent avant tout compter, pour leur sécurité, sur leurs propres structures familiales et sociales. Dans l’examen des capacités de soutien du réseau


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familial, entrent donc en considération non seulement les facteurs socio-économiques mais aussi les aspects sécuritaires (consid. 6.5. et 6.6.).

Art. 14a cpv. 4 LDDS: esigibilità dell’esecuzione dell’allontanamento di Rom albanofoni del Cossovo ?

1. Situazione delle minoranze etniche in Cossovo (consid. 6.2. a 6.4.).

2. Tenuto conto della situazione attuale, l’esecuzione dell’allontanamento di Rom, Ashkali ed Egiziani albanofoni in Cossovo non è di principio ragionevolmente esigibile. Può essere eccezionalmente esigibile allorquando le succitate persone intrattengono delle relazioni particolari con la popolazione maggioritaria degli albanofoni o se possono contare in loco su un adeguato sostegno familiare (consid. 6.5.).

3. Le minoranze etniche sono esposte in Cossovo ad atteggiamenti d’avversione o d’animosità della maggioranza albanese e per la loro sicurezza non possono contare essenzialmente che sulle proprie strutture familiari e sociali. Nell’esame sull’esistenza di un adeguato sostegno familiare, è da considerare, oltre a quello socio-economico, anche il fattore della sicurezza (consid. 6.5. e 6.6.).

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Der Beschwerdeführer verliess den Kosovo am 28. Dezember 2001 und stellte am 4. Januar 2002 in der Schweiz ein Asylgesuch. Am 7. Januar 2003 reiste die Beschwerdeführerin mit den drei jüngeren Kindern nach und am 5. Januar 2004 folgten schliesslich die beiden älteren Töchter.

Anlässlich der jeweiligen Befragungen machten die Beschwerdeführer folgende Aussagen zu ihren Personen: sie seien Roma und hätten in X. im Kosovo gewohnt, wo der Beschwerdeführer seinen Lebensunterhalt als Taglöhner auf Baustellen verdient habe. Die Beschwerdeführerin und die Kinder hätten im Haushalt gearbeitet beziehungsweise seien zur Schule gegangen. Neben ihrer Muttersprache Albanisch hätten sie kaum Sprachkenntnisse. Zu ihren Fluchtgründen befragt, führten die Beschwerdeführer aus, der Beschwerdeführer sei von Albanern der Kollaboration mit den Serben verdächtigt und bei mehreren Gelegenheiten verprügelt worden. Einmal hätten ihn maskierte Albaner zu Hause aufgesucht und bedroht. Man habe versucht, ihn zu zwingen, albanische Parteien zu


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unterstützen. Nach der Ausreise des Beschwerdeführers hätten Albaner die zurückgebliebene Familie wiederholt aufgesucht, sie bedroht und geschlagen.

Mit Verfügung vom 17. März 2004 stellte das BFF (heute BFM) fest, die Vorbringen der Beschwerdeführer genügten den Anforderungen an den Flüchtlingsbegriff nicht, lehnte die Asylgesuche ab und ordnete die Wegweisung sowie deren Vollzug an. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Vorbringen der Beschwerdeführer seien nicht glaubhaft. Sodann habe sich die Sicherheitssituation im Kosovo verbessert oder zumindest stabilisiert. Da die Beschwerdeführer im Übrigen über ein tragfähiges soziales Netz verfügten und keine individuellen Vollzugshindernisse erkennbar seien, sei der Vollzug der Wegweisung durchführbar.

Mit Eingabe vom 16. April 2004 wandten sich die Beschwerdeführer an die ARK und beantragten die Feststellung der Undurchführbarkeit des Wegweisungsvollzugs und sinngemäss die Anordnung der vorläufigen Aufnahme.

Die ARK heisst die Beschwerde gut.

Aus den Erwägungen:

6.2. Die ARK beobachtet und beurteilt die allgemeine Lage der Minderheiten im Kosovo laufend. Anlässlich der letzten Lagebeurteilung im Herbst 2004 konnte die folgende Situation festgestellt werden:

Am 17. und 18. März 2004 wurde der Kosovo von Unruhen erschüttert, an denen sich bis zu 50'000 Menschen beteiligten und von denen das ganze Gebiet betroffen war. Aufgebrachte albanischstämmige Kosovaren griffen Angehörige von Minderheiten an, plünderten und brandschatzten deren Häuser und zerstörten Orte religiöser Andacht. Die internationalen Truppen standen den Ausschreitungen ebenso machtlos gegenüber wie die lokalen Polizeikräfte.

Nach zwei Tagen der Gewalttätigkeiten waren ungefähr 30 Menschen tot und mehrere hundert verletzt. Mehr als 700 Wohnhäuser und 36 Kirchen, Klöster und andere religiöse Stätten waren zerstört. Über 4’000 Menschen waren intern vertrieben (vgl. zum Ganzen UNHCR, Update on the Kosovo Roma, Ashkaelia, Egyptian, Serb, Bosniak, Gorani and Albanian communities in a minority situation, June 2004, S. 31 ff.; R. Mattern, Kosovo Update zur Situation der ethnischen Minderheiten nach den Ereignissen vom März 2004, Schweizerische Flüchtlingshilfe, 24. Mai 2004; ICG, Collapse in Kosovo, ICG Europe Report


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No. 155, 22 April 2004; Human Rights Watch, Failure to Protect: Anti-Minority Violence in Kosovo, March 2004; NZZ am Sonntag vom 21. März 2004).

6.3. Von den Übergriffen waren in erster Linie Serben, daneben aber auch Roma, Ashkali und Ägypter betroffen. Die bestehenden interethnischen Spannungen waren im Vorfeld der Ausschreitungen durch nationalistische Kreise bewusst geschürt worden, um eine Eskalation zu provozieren. Als dieses Ziel am 17. März 2004 mit einer Massendemonstration in Mitrovica erreicht war, gelang es innert kürzester Frist, die Massen auf dem ganzen Gebiet des Kosovo zu mobilisieren (vgl. UNHCR-Position zur fortdauernden internationalen Schutzbedürftigkeit von Personen aus dem Kosovo, August 2004, S. 4 ff.; Mattern, a.a.O., S. 5 ff.; Human Rights Watch, a.a.O., S. 26 ff.).

Angesichts der zielgerichteten Vorbereitung und des hohen Organisationsgrades der Übergriffe gehen die meisten Beobachter von einer konzertierten Aktion aus, die sich gezielt gegen Angehörige von Minderheiten richtete und deren Vertreibung aus dem Kosovo bezweckte. Beobachter sprachen von ethnischen Säuberungen (vgl. UNHCR, June 2004, a.a.O. S. 39 ff.; ISIS Europe, Nato Notes, Vol. 6 No. 2, April 2004, S. 5; NZZ vom 19. und vom 24. März 2004).

6.4. Weder die militärischen Truppen der KFOR noch die Polizeieinheiten der UNMIK oder die lokalen Polizeieinheiten waren in der Lage, die Eskalation der Gewalt zu verhindern (vgl. zum Ganzen: Mattern, a.a.O., S. 8 ff.; Human Rights Watch, a.a.O., S. 20 ff.). Sie scheinen - auch nach eigenem Bekunden (vgl. ISIS Europe, a.a.O., S. 5 ff.) - von der explosionsartigen Ausbreitung der Gewalt und von deren Ausmass überrascht worden zu sein (vgl. NZZ am Sonntag vom 21. März 2004). Auf manchen Schauplätzen trafen sie zu spät ein. Auf anderen mussten sie sich angesichts der gegnerischen Übermacht zurückziehen oder darauf beschränken, die Angegriffenen zu evakuieren, um wenigstens deren Leben zu retten; deren Eigentum musste den Plünderern und Brandschatzern überlassen werden. In vereinzelten Fällen wurden die internationalen Truppen selbst angegriffen, so dass sie - von der Selbstverteidigung vollauf in Anspruch genommen - nicht in der Lage waren, die bedrohten Minderheiten zu schützen. Erst als am 18. März 2004 Verstärkung aus Bosnien und Herzegowina eintraf, gelang es allmählich, Ruhe und Ordnung wieder herzustellen (vgl. ISIS Europe, a.a.O., S. 5 f.).

Die NATO und bis zu einem gewissen Grad auch die UNO scheinen erkannt zu haben, dass die von ihnen entsandten Sicherheitskräfte ungenügend auf die Unruhen vom März 2004 reagiert haben, und haben Verbesserungen angekündigt (vgl. ISIS Europe, a.a.O., S. 5 ff.). Die einzige zum heutigen Zeitpunkt erkenn-


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bare Massnahme ist die Ankündigung einer Aufstockung der militärischen Präsenz um 1'000 bis 2'000 Soldaten.

6.5. Die Unruhen vom 17. und 18. März 2004 haben gezeigt, dass es in der albanischen Bevölkerungsmehrheit im Kosovo nach wie vor starke Ressentiments gegen ethnische Minderheiten gibt, wobei sich Unterschiede in Bezug auf die verschiedenen Minderheiten feststellen lassen. Trotz einer in der Zwischenzeit eingetretenen, gewissen Beruhigung der Situation ist nicht mit Sicherheit auszuschliessen, dass unter anderem Roma im Kosovo auch in Zukunft Opfer von ethnisch motivierter Gewalt werden und diesfalls weder von den internationalen noch von den lokalen Sicherheitskräften wirksamen Schutz erwarten könnten.

Vor diesem Hintergrund und angesichts der schwierigen ökonomischen und sozialen Situation dieser Minderheiten im Kosovo erachtet die ARK den Vollzug der Wegweisung unter anderem von albanischsprachigen Roma, Ashkali und Ägyptern zur Zeit als grundsätzlich nicht zumutbar im Sinne von Art. 14a Abs. 4 ANAG, es sei denn, es bestehe im Einzelfall eine besondere Verbundenheit mit der albanischen Bevölkerung oder es liege ein tragfähiges familiäres Netz im Kosovo vor. Bei der Beurteilung der Tragfähigkeit eines solchen Netzes ist nicht allein auf sozioökonomische Umstände abzustellen, sondern auch gebührend zu berücksichtigen, dass ethnische Minderheiten im Kosovo den Ressentiments der albanischen Bevölkerungsmehrheit ohne wirksamen staatlichen Schutz ausgesetzt sind und daher auch für ihre Sicherheit vorab auf die eigenen familiären und sozialen Strukturen angewiesen sind.

6.6. Die Beschwerdeführer gehören zur Bevölkerungsgruppe der albanischsprachigen Roma und weisen keine besondere Verbundenheit mit der albanischen Bevölkerung auf; sie machen im Gegenteil geltend, konkrete Schwierigkeiten mit albanischstämmigen Landsleuten gehabt zu haben. Wie die Vorinstanz in der angefochtenen Verfügung zu Recht ausführte, ist den Akten indessen zu entnehmen, dass die Beschwerdeführer im Kosovo - insbesondere in ihrem Herkunftsort X. - über ein dichtes verwandtschaftliches Beziehungsnetz verfügen. Gemäss den Angaben der Beschwerdeführer in den Befragungen von Januar/Februar 2002 (Ehemann) beziehungsweise von Januar/März 2003 (Ehefrau), welche von der nachgereisten Tochter F. im Januar 2004 als noch aktuell bestätigt wurden, leben zumindest drei volljährige Brüder (wovon zwei verheiratet), zwei verheiratete Schwestern, die Mutter und ein Onkel des Beschwerdeführers in X.; die Beschwerdeführer haben sodann weder in der Beschwerdeeingabe vom 16. April 2004 noch in einem späteren Zeitpunkt des Beschwerdeverfahrens geltend gemacht, dass sich daran in der Zwischenzeit etwas verändert hätte, so dass davon auszugehen ist, dass ihr familiäres Netz auch nach den Vorfällen vom 17./18. März 2004 zumindest noch weitgehend unverändert besteht.


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Bei den genannten Familienangehörigen handelt es sich sodann nicht um selber Kosovo-intern vertriebene Personen, so dass grundsätzlich ein gefestigtes Verwandtschaftsgeflecht vorliegt.

Demgegenüber gilt es zu berücksichtigen, dass es sich bei den Beschwerdeführern um eine Familie mit fünf minderjährigen Kindern im Alter von vier bis sechzehn Jahren handelt. Es kann aufgrund der Akten nicht davon ausgegangen werden, dass ihnen im Rahmen des familiären Netzes eine Unterstützung angeboten werden kann, die den Sicherheits- und Lebensbedürfnissen einer siebenköpfigen Familie entspricht. Die Beschwerdeführerin hat in diesem Zusammenhang ausgesagt, sie hätten vor dem Kosovo-Krieg von 1999 bereits einmal mit der Familie ihres Ehemannes gelebt, es sei aber zu eng gewesen. Da eine unbefristete räumliche Trennung der Beschwerdeführer aus Rücksicht auf das Kindswohl nicht in Betracht kommt, müsste mindestens in absehbarer Zeit die konkrete Möglichkeit einer adäquaten Unterkunft und Unterhaltssicherung erkennbar sein, um den Vollzug der Wegweisung zumutbar erscheinen zu lassen.

Dies ist vorliegend nicht der Fall. Der Beschwerdeführer hat den Unterhalt der Familie vor seiner Ausreise mit Gelegenheitsarbeiten auf Baustellen bestritten. Eine weiterführende Ausbildung oder Berufserfahrung hat er nicht vorzuweisen. Die Beschwerdeführerin hat keine Ausbildung genossen und ist Hausfrau. Es kann angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Situation im Kosovo und der speziellen Situation der Roma nicht davon ausgegangen werden, dass sie sich innert nützlicher Frist wirtschaftliche Grundlagen erarbeiten könnten, die es ihnen erlauben würden, für sich und ihre Familie adäquate Unterkunft und Versorgung zu gewährleisten. Der Umstand, dass eine Schwester und ein Bruder der Beschwerdeführerin seit je über zehn Jahren mit geregeltem ausländerrechtlichem Status in der Schweiz beziehungsweise in Deutschland leben, welche die Beschwerdeführer um finanzielle Unterstützung angehen könnten, vermag diese Einschätzung nicht zu beeinträchtigen. Es mag zutreffen, dass ein beträchtlicher Anteil der Mittel, die Haushalten im Kosovo zur Verfügung stehen, von Verwandten im Ausland stammt. Im vorliegenden Fall ist jedoch davon auszugehen, dass die Geschwister der Beschwerdeführer die zurückgebliebenen Verwandten bereits heute nach Massgabe ihrer Möglichkeiten mit finanziellen Mitteln unterstützen. Das Eintreffen der siebenköpfigen Familie der Beschwerdeführer würde die Zuwendungen nicht erhöhen, sondern vielmehr den Anteil der einzelnen Begünstigten schmälern.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Beschwerdeführer zu einer nach wie vor gefährdeten Minderheit im Kosovo gehören und nicht über besondere Verbindungen zur albanischen Bevölkerung verfügen. Ein familiäres Netz ist zwar vorhanden, es ist indessen nicht als tragfähig zu erachten. Unter diesen


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Umständen ist der Vollzug der Wegweisung der Beschwerdeführer in ihren Heimatstaat nicht zumutbar. Die Beschwerdeführer sind daher - da sich aus den Akten keine Hinweise auf Umstände ergeben, welche hinsichtlich einer Anwendung von Art. 14a Abs. 6 ANAG relevant sein könnten - vorläufig aufzunehmen.

 

 

 

 

 

 

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