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Auszug aus dem Urteil der ARK vom 3. November 2006 i.S. S.C., Türkei

Grundsatzentscheid: [1]

Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG: Eintreten auf das Asylgesuch bei widerlegter Vermutung der fehlenden Flüchtlingseigenschaft.

Auf das Asylgesuch einer Person, die einen ablehnenden Asylentscheid eines Staates der Europäischen Union (EU) oder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG erhalten hat, aber die darauf beruhende Vermutung, dass sie die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 3 AsylG nicht erfüllt, umstossen kann, ist einzutreten, auch wenn sie keine in der Zwischenzeit eingetretenen, für die Flüchtlingseigenschaft relevanten Ereignisse anführen kann.

Décision de principe : [2]

Art. 32 al. 2 let. f LAsi : entrée en matière en cas de renversement de la présomption selon laquelle celui qui a fait l’objet d’une décision négative dans l’UE ou l’EEE n’a pas la qualité de réfugié.

Il y a lieu d’entrer en matière sur la demande d’asile d’une personne qui a fait l’objet, dans un Etat de l’Union européenne (UE) ou de l’Espace économique européen (EEE), d’une procédure d’asile ayant débouché sur une décision négative au sens de l’art. 32 al. 2 let. f LAsi, lorsque cette personne peut renverser la présomption, attachée à cette décision, selon laquelle elle ne remplit pas la qualité de réfugié de l’art. 3 LAsi, et ce, même si aucun fait déterminant pour la qualité de réfugié ne s’est produit dans l’intervalle.


[1]  Entscheid über eine Grundsatzfrage gemäss Art. 104 Abs. 3 AsylG i.V.m. Art. 10 Abs. 2 Bst. a und Art. 11 Abs. 2 Bst. a und b VOARK.

[2]  Décision sur une question de principe selon l'art. 104 al. 3 LAsi en relation avec l'art. 10 al. 2 let. a et l'art. 11 al. 2 let. a et b OCRA.


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Decisione di principio: [3]

Art. 32 cpv. 2 lett. f LAsi: entrata nel merito di una domanda d’asilo in caso di confutazione della presunzione d’assenza della qualità di rifugiato.

V’è motivo d’entrare nel merito di una domanda d’asilo di un richiedente che è stato oggetto di una decisione negativa in materia d’asilo in uno Stato dell’Unione Europea (UE) o dello Spazio economico europeo (SEE), ma che è in grado di confutare la presunzione, connessa all’art. 32 cpv. 2 lett. f LAsi, secondo la quale non adempie la qualità di rifugiato ai sensi dell’art. 3 LAsi, e ciò quand’anche non sia intervenuto nel frattempo alcun fatto nuovo determinante per la qualità di rifugiato medesima.

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Der Beschwerdeführer verliess die Türkei nach eigenen Angaben ein erstes Mal im August 2002 und gelangte nach Deutschland, wo er ein Asylgesuch stellte. Das deutsche Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl) lehnte dieses Asylgesuch am 21. März 2003 ab. Die gegen diesen Entscheid gerichtete Klage des Beschwerdeführers wies das Verwaltungsgericht Regensburg mit Urteil vom 20. Oktober 2003 ab.

Aus den zur Verfügung stehenden Akten aus Deutschland geht hervor, dass der Beschwerdeführer zur Begründung seines Asylgesuchs im Wesentlichen geltend gemacht hatte, im Juli 1999 hätten Angehörige der türkischen Sicherheitskräfte bei ihm zu Hause eine Pistole, kurdischsprachige Dokumente seines Schwagers, der sich der PKK (Partiya Karkeren Kurdistan; Arbeiterpartei Kurdistans) angeschlossen habe und seit 1991 verschwunden sei, sowie Ausweise von flüchtigen PKK-Anhängern gefunden. Er sei unter dem Verdacht der Unterstützung der PKK festgenommen worden und während vier Monaten inhaftiert geblieben. Während seiner Haft sei er nach dem Verbleib seines Schwagers und weiterer PKK-Mitglieder gefragt und dabei gefoltert worden. Im Rahmen des folgenden Verfahrens vor dem Staatssicherheitsgericht A. sei er freigelassen worden, ohne dass ein förmlicher Freispruch ergangen wäre; das Verfahren habe vielmehr weiter angedauert. Nach diesen Ereignissen sei er mehrere Male von Angehörigen der Sicherheitskräfte festgenommen und gefoltert worden, zuletzt drei Wochen vor seiner Ausreise.

Der Beschwerdeführer reichte folgende Dokumente zu den deutschen Akten: ein


[3]  Decisione su questione di principio conformemente all'art. 104 cpv. 3 LAsi in relazione con l'art. 10 cpv. 2 lett. a e l'art. 11 cpv. 2 lett. a e b OCRA.


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Befragungsprotokoll der Sicherheitsdirektion B. vom 7. Juli 1999, ein Aussageprotokoll des 3. Strafgerichts von B. vom 8. Juli 1999 und eine Anklageschrift der Oberstaatsanwaltschaft an das Staatssicherheitsgericht A. vom 19. Juli 1999.

Die deutschen Behörden stellten fest, soweit gegen den Kläger (den Beschwerdeführer) im Juli 1999 ein Strafverfahren eingeleitet worden sei, vermöge dies keine politische Verfolgung zu begründen; die Strafverfolgung sei nämlich weder willkürlich noch schikanös gewesen, sondern im legitimen Interesse an der Aufrechterhaltung der staatlichen Friedensordnung erfolgt, nachdem bei ihm in nachvollziehbarer Weise ein Anfangsverdacht für die Zugehörigkeit zur PKK, einer auch in Deutschland als terroristisch eingestuften Organisation, bestanden habe. Soweit er geltend gemacht habe, während der Haft gefoltert worden zu sein, seien seine Aussagen nicht glaubhaft, was auch für die von ihm vorgebrachte, wiederholte Verfolgung nach 1999 gelte.

Am 10. Februar 2004 gelangte der Beschwerdeführer, von Deutschland kommend, in die Schweiz und stellte am selben Tag ein Asylgesuch.

Mit Verfügung vom 26. Februar 2004 ordnete das BFF die vorsorgliche Wegweisung des Beschwerdeführers nach Deutschland an. Die gegen die Verfügung des Bundesamtes bei der ARK erhobene Beschwerde wurde mit Urteil vom 15. März 2004 abgewiesen.

Am 23. April 2004 schrieb das Bundesamt das Verfahren ab, nachdem der Beschwerdeführer verschwunden war.

Der Beschwerdeführer galt seit dem 18. März 2004 als verschwunden, als er am 24. November 2004 an der Empfangsstelle des BFF in Kreuzlingen ein zweites Asylgesuch stellte.

Anlässlich der Empfangsstellen-Befragung vom 25. November 2004 und der direkten Bundesanhörung vom 1. Dezember 2004 führte der Beschwerdeführer aus, er sei im März 2004 in eigener Verantwortung in die Türkei gereist. Zu diesem Vorgehen habe er sich entschlossen, um zu verhindern, dass er von der Schweiz den deutschen und von diesen den türkischen Behörden übergeben werde. Er habe gehofft, die türkischen Behörden würden auf diese Weise nicht erfahren, dass er zurückgekehrt sei. In der Türkei angekommen, habe er sich bei Verwandten versteckt und seine Familie bloss einmal besucht. Trotzdem hätten die türkischen Behörden von seiner Rückkehr erfahren und ihn bei seiner Familie gesucht. Er habe keine direkten Kontakte mit den türkischen Behörden gehabt, da er sich vor diesen versteckt habe. Als er sich bewusst geworden sei, dass er auf diese Weise nicht leben könne, habe er sich zur erneuten Ausreise


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entschlossen. Am 15. November 2004 habe er die Türkei verlassen und sei über ihm unbekannte Länder am 21. November 2004 in die Schweiz gelangt. Der Beschwerdeführer verwies auf die bereits eingereichten Beweismittel und nannte das Ehepaar X. und Y. Z., beide in der Schweiz anerkannte Flüchtlinge, als Zeugen.

Mit Verfügung vom 3. Dezember 2004 trat das Bundesamt auf das Asylgesuch des Beschwerdeführers nicht ein und ordnete die Wegweisung aus der Schweiz und deren Vollzug an. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer habe in Deutschland einen ablehnenden Asylentscheid erhalten, und die Anhörung habe keine Hinweise ergeben, dass in der Zwischenzeit Ereignisse eingetreten seien, die für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft relevant wären. Wegweisungsvollzugshindernisse seien nicht ersichtlich.

Mit Eingabe vom 7. Dezember 2004 focht der Beschwerdeführer die Verfügung des Bundesamtes vom 3. Dezember 2004 bei der ARK an. Er beantragte in der Hauptsache die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids und die Rückweisung der Sache an das Bundesamt zur Neubeurteilung der Fragen der Flüchtlingseigenschaft und des Asyls.

Mit Eingabe vom 5. Januar 2005 reichte der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers folgende Dokumente als Beweismittel zu den Akten: eine Kopie der bereits genannten Anklageschrift vom 19. Juli 1999; ein Schreiben des Dorfvorstehers (Muhtar) von C. vom 29. November 2004 im Original, in welchem dieser bestätigt, dass der Beschwerdeführer „wegen Unterstützung und Beherbergung von Terroristen bestraft“ worden sei.

In seiner Eingabe vom 31. Januar 2005 führte der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers aus, die schweizerischen Asylbehörden hätten sich mit dessen ernst zu nehmenden und mit zahlreichen Beweismitteln belegten Vorbringen bisher nicht inhaltlich auseinandergesetzt. Dies dränge sich indessen auf, da die deutschen Behörden ein Fehlurteil gefällt hätten. Der Nichteintretenstatbestand von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG, auf den die Vorinstanz ihren Entscheid abgestützt habe, werde Fällen wie dem vorliegenden nicht gerecht und sei vom Gesetzgeber auch für andere Konstellationen vorgesehen worden. Jedenfalls hätten die Vorbringen und Beweismittel im Rahmen der Prüfung der Durchführbarkeit des Wegweisungsvollzugs gewürdigt werden müssen.

In ihrer Vernehmlassung vom 22. Februar 2005 beantragte die Vorinstanz unter Verweis auf die Erwägungen in der Verfügung vom 3. Dezember 2004 die Abweisung der Beschwerde. Dabei stellte sie fest, die Vorbringen des Beschwerdeführers bezögen sich ebenso wie die von ihm eingereichten Beweismittel auf Er-


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eignisse, die sich vor dem Verfahren in Deutschland ereignet hätten; es könne und dürfe aber nicht Aufgabe der schweizerischen Behörden sein, die Rechtmässigkeit von Asylverfahren in einem EU-Staat zu überprüfen.

In der Replik vom 14. März 2005 stellte sich der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers auf den Standpunkt, ein Nichteintretensentscheid, der wie der vorliegende zu einer Verletzung eines völkerrechtlichen Rückschiebungsverbotes führen würde, sei aufzuheben. Im Übrigen stehe fest, dass die schweizerischen Behörden nie einen dem Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 20. Oktober 2003 entsprechenden Entscheid gefällt hätten.

Mit Eingabe vom 17. Juni 2005 bot der Beschwerdeführer Aussagen von X.Z. als Beweismittel an, die dieser in Gegenwart des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers und einer Dolmetscherin am 16. Juni 2005 zu Protokoll gegeben habe.

Gemäss den Aussagen von X. Z., wie sie dem zu den Akten gereichten Protokoll vom 16. Juni 2005 zu entnehmen sind, sei der Beschwerdeführer dessen Nachbar in B. gewesen; überdies hätten sie zusammen der DEP (Demokrasi Partisi; Demokratische Partei; eine Vorgängerorganisation der HADEP) angehört. Bei den im Jahre 1999 beim Beschwerdeführer gefundenen Unterlagen habe es sich unter anderem um ein internes Dokument der PKK, das auf ihn (X.Z.) hingewiesen habe, und zwei verfälschte Reisepässe gehandelt. Er habe einen dieser Reisepässe, der auf den Namen seines Cousins gelautet habe, für seine im Jahre 1996 erfolgte Ausreise aus der Türkei benutzt, worauf er von der Schlepperorganisation seiner Schwester zurückgegeben worden sei, die diesen Ausweis wiederum dem Beschwerdeführer zur Aufbewahrung anvertraut habe.

Die ARK heisst die Beschwerde gut, hebt die angefochtene Verfügung auf und weist das BFM an, auf das Asylgesuch einzutreten und es materiell zu prüfen.

Aus den Erwägungen:

3.

3.1. Die Vorinstanz trat in Anwendung von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG auf das Asylgesuch des Beschwerdeführers vom 24. November 2004 nicht ein. Diese Bestimmung trat am 1. April 2004 in Kraft, das heisst vor Einreichung des betreffenden Asylgesuchs. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers stellen sich daher keine übergangsrechtlichen Probleme (zur übergangsrechtlichen Problematik betreffend Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG vgl. EMARK 2005 Nr. 15).


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3.2. Gemäss Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG wird auf ein Asylgesuch nicht eingetreten, wenn die asylsuchende Person in einem Staat der Europäischen Union (EU) oder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) einen ablehnenden Asylentscheid erhalten hat, ausser die Anhörung ergebe Hinweise, dass in der Zwischenzeit Ereignisse eingetreten sind, die geeignet sind, die Flüchtlingseigenschaft zu begründen, oder die für die Gewährung vorübergehenden Schutzes relevant sind.

Die Vorinstanz hat sich in ihrem Entscheid mit den Vorbringen des Beschwerdeführers, die sich auf die Zeit vor Ergehen des Urteils des Verwaltungsgerichts Regensburg (20. Oktober 2003) beziehen, nicht näher auseinandergesetzt, wobei sie sich - wie aus den Ausführungen in ihrer Vernehmlassung deutlich wird - ohne eingehende Begründung auf den Standpunkt stellt, es könne und dürfe nicht Aufgabe der schweizerischen Asylbehörden sein, die Rechtmässigkeit von Asylverfahren in einem EU-Staat zu überprüfen.

Demgegenüber vertritt der Beschwerdeführer - wie bereits ausgeführt - die Meinung, die schweizerischen Behörden hätten nie einen dem Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 20. Oktober 2003 entsprechenden Entscheid gefällt.

Bevor daher beurteilt werden kann, ob die Vorinstanz im Falle des Beschwerdeführers zu Recht gestützt auf Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG auf dessen Asylgesuch nicht eingetreten ist, sind in allgemeiner Hinsicht verschiedene Auslegungsfragen zu klären, die sich im Zusammenhang mit diesem Nichteintretenstatbestand stellen. Auf dem Wege der Auslegung ist namentlich zu ermitteln, was unter einem „ablehnenden Asylentscheid“ im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG zu verstehen ist, und ob an einen entsprechenden Entscheid eines EU- oder EWR-Staates mangels Hinweisen auf „in der Zwischenzeit eingetretene Ereignisse“ im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG ausnahmslos die Rechtsfolge des Nichteintretens auf das Asylgesuch zu knüpfen ist.

4. Ausgangspunkt jeder Gesetzesauslegung ist der Wortlaut einer Bestimmung (vgl. für diesen auch im Verwaltungsrecht geltenden Grundsatz Art. 1 Abs. 1 ZGB). Ist der Text allerdings nicht ohne weiteres klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss unter Berücksichtigung aller Auslegungsmethoden (grammatikalische, systematische, historische, teleologische, zeitgemässe Methode) nach seiner wahren Tragweite gesucht werden; dabei kommt es namentlich auf den Zweck der Regelung, die dem Text zu Grunde liegenden Wertungen sowie auf den Sinnzusammenhang an, in dem die Norm steht. Im Sinne eines pragmatischen Methodenpluralismus ist es abzulehnen, einzelne Auslegungsmethoden einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen


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(vgl. BGE 131 III 33, Erw. 2, S. 35, und 130 II 202, Erw. 5.1., S. 212 f., jeweils mit weiteren Hinweisen; vgl. aus der Praxis der ARK statt vieler EMARK 2006 Nr. 7, Erw. 5.2., S. 76 f., mit weiteren Hinweisen, sowie 1996 Nr. 18, Erw. 5c, S. 174; vgl. überdies für eine ausführliche Darstellung der einzelnen Auslegungsmethoden U. Häfelin/W. Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Die neue Bundesverfassung, 6. Aufl., Zürich u.a. 2005, Rz. 90 ff.).

5.

5.1. In grammatikalischer Hinsicht weist zumindest der deutsche Wortlaut des Begriffs „ablehnender Asylentscheid“ nach schweizerischer asylrechtlicher Terminologie auf ein Verfahren hin, in welchem die Flüchtlingseigenschaft der asylsuchenden Person materiell geprüft und verneint worden ist (vgl. freilich den in dieser Hinsicht weniger klaren französischen und italienischen Gesetzestext, wo von einer „procédure d’asile qui a débouché sur une décision négative“ bzw. einer „decisione negativa in materia d’asilo“ die Rede ist).

5.2. Bei einer systematischen Betrachtung ist nicht zu übersehen, dass Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG in seiner Struktur weitgehend Art. 32 Abs. 2 Bst. e AsylG entspricht, welcher bei Inkrafttreten der ersteren Bestimmung bereits Bestand hatte. Nach Art. 32 Abs. 2 Bst. e AsylG wird auf ein Asylgesuch nicht eingetreten, wenn die betreffende Person „…in der Schweiz bereits ein Asylverfahren erfolglos durchlaufen …“ hat. Dies ist nach ständiger Rechtsprechung der ARK dann der Fall, wenn in einem rechtskräftigen Entscheid festgestellt oder implizit davon ausgegangen worden ist, die betreffende Person sei kein Flüchtling (grundlegend EMARK 1998 Nr. 1, Erw. 5, S. 5 ff., der sich auf Art. 16 Abs. 1 Bst. d aAsylG bezieht. Diese Bestimmung entspricht im Wesentlichen Art. 32 Abs. 2 Bst. e AsylG, so dass die betreffende Praxis mit wenigen Anpassungen auf das geltende Recht anwendbar ist; vgl. diesbezüglich EMARK 2005 Nr. 2, Erw. 4.3., S. 16 f., mit weiteren Hinweisen). Diese Rechtsprechung kann auch im Anwendungsbereich von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG Geltung beanspruchen, auch wenn dessen Wortlaut mit jenem von Art. 32 Abs. 2 Bst. e AsylG nicht identisch ist. Die Formulierung der ersteren Bestimmung, nach der die betreffende Person im Ausland „einen ablehnenden Asylentscheid erhalten“ haben muss, unterscheidet sich nicht grundsätzlich vom „erfolglosen Durchlaufen eines Asylverfahrens“ im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. e AsylG.

Sodann wird aus der Systematik des Gesetzes deutlich, dass der „ablehnende Asylentscheid“ formell rechtskräftig sein muss. Ist nämlich das Verfahren im Ausland noch hängig, kommt Art. 32 Abs. 2 Bst. d AsylG in seiner ersten Tatbestandsvariante zur Anwendung.

5.3. Der Nichteintretenstatbestand von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG wurde im


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Rahmen des Bundesgesetzes über das Entlastungsprogramm 2003 vom 19. Dezember 2003 (EP 03) ins Asylgesetz eingefügt. In einem Vorentwurf, der - neben weiteren Bestimmungen - als Grundlage für das Vernehmlassungsverfahren diente (vgl. im Einzelnen die „Erläuterungen des Bundesrates zu den Entlastungsmassnahmen 2003 für den Bundeshaushalt“ vom 28. Mai 2003), wurde das Vorliegen eines „materiellrechtlich ablehnenden Asylentscheids“ (französisch: „une procédure d’asile qui a débouché sur une décision matérielle négative“; italienisch: „decisione negativa di diritto materiale in materia d’asilo“) eines EU- oder EWR-Staates vorausgesetzt. Im Anschluss an das Vernehmlassungsverfahren wurde der bundesrätliche Entwurf überarbeitet und dabei auch der Wortlaut von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG im Sinne des geltenden Gesetzestextes angepasst, ohne dass sich den Materialien und insbesondere der Botschaft vom 2. Juli 2003 (BBl 2003, S. 5615 ff.) eine Erklärung für die Streichung des Wortes „materiellrechtlich“ (bzw. „matérielle“, bzw. „di diritto materiale“) entnehmen liesse. Es kann daher angenommen werden, dass es sich bei der betreffenden Änderung des Wortlauts lediglich um eine redaktionelle Anpassung ohne inhaltliche Bedeutung gehandelt haben dürfte, weil man davon ausging, ein „ablehnender Asylentscheid“ entspreche von seinem Wortsinn her ohnehin der Formulierung „materiellrechtlich ablehnender Asylentscheid“. Der Umstand aber, dass im Vorentwurf der „materiellrechtliche“ Aspekt des „ablehnenden Asylentscheids“ im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG besonders betont wurde, liefert immerhin zusätzliche Anhaltpunkte für die Annahme, dass es sich dabei um einen die Flüchtlingseigenschaft verneinenden Entscheid handeln muss.

5.4. Hieraus folgt, dass sich einem „ablehnenden Asylentscheid“ eines EU- oder EWR-Staates Aussagen zur Flüchtlingseigenschaft entnehmen lassen müssen, wenn er in einem anschliessenden schweizerischen Asylverfahren als Grundlage für einen Nichteintretensentscheid nach Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG dienen soll. Daher kommen Entscheide, die auf der Grundlage formeller Kriterien (beispielsweise wegen Verletzung von Bestimmungen betreffend Fristen, Formerfordernisse oder Verfahrenskosten) ergangen sind, ebenso wenig als „ablehnende Asylentscheide“ gemäss Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG in Betracht wie Entscheide in Verfahren, in denen die Flüchtlingseigenschaft nicht Prüfungsgegenstand war (beispielsweise Verfahren betreffend andere Formen von internationalem Schutz oder Einreisebewilligungen).

6.

6.1. Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG sieht nach seinem Wortlaut nur einen Ausnahmefall vor, bei dem trotz Vorliegens eines ablehnenden Asylentscheids im soeben umschriebenen Sinne dennoch auf das Asylgesuch einzutreten ist: Hierfür müssen sich aus der Anhörung Hinweise ergeben, dass in der Zwischenzeit Er-


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eignisse eingetreten sind, die geeignet sind, die Flüchtlingseigenschaft zu begründen, oder die für die Gewährung vorübergehenden Schutzes relevant sind. Solche „Ereignisse“ sind in Anlehnung an die Praxis zur identisch formulierten Ausnahmeklausel in Art. 32 Abs. 2 Bst. e AsylG nur bei einer nachträglichen wesentlichen Veränderung der Sachlage anzunehmen (vgl. ausführlich EMARK 1998 Nr. 1, Erw. 6, S. 10 ff.), wobei dieselben herabgesetzten Beweismassanforderungen gelten wie für nicht offensichtlich haltlose Hinweise auf Verfolgung im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG (EMARK 2005 Nr. 2, Erw. 4.3., S. 16 f.; 2000 Nr. 14, Erw. 2, S. 103 ff.; vgl. zum massgeblichen Beweismass auch EMARK 2004 Nr. 34, Erw. 4.2., S. 242; Nr. 22, Erw. 5b, S. 149; Nr. 5, Erw. 4c/bb, S. 36). Der zumindest in dieser Hinsicht eindeutig erscheinende Wortlaut von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG würde es also - anders ausgedrückt - nahe legen, diese Bestimmung so zu verstehen, dass sämtliche asylsuchenden Personen, die einen ablehnenden Asylentscheid eines EU- oder EWR-Staates im dargelegten Sinne erhalten haben, von einer materiellen Prüfung ihres Asylgesuchs ausgeschlossen wären, es sei denn, es ergäben sich aufgrund der Anhörung Hinweise auf bestimmte, erst nach Ergehen jenes Entscheids eingetretene „Ereignisse“.

6.2. Auch ein an sich durchaus klarer Wortlaut gibt indessen für sich allein nur beschränkt Aufschluss über den wahren Sinn einer Rechtsnorm, der sich vielmehr oft erst dann erschliesst, wenn nach der teleologischen Auslegungsmethode auf die mit der Norm verbundenen Zweckvorstellungen abgestellt wird. Diese Zweckvorstellungen (die sog. ratio legis) sind vom Gericht allerdings nicht nach seinen eigenen, subjektiven Wertvorstellungen, sondern nach den Vorgaben des Gesetzgebers zu ermitteln. Das Gesetz darf zwar nicht einseitig historisch ausgelegt werden. Im Grundsatz ist die Auslegung aber dennoch auf die Regelungsabsicht des Gesetzgebers und die damit erkennbar getroffenen Wertentscheidungen auszurichten, da sich die Zweckbezogenheit des rechtsstaatlichen Normverständnisses nicht aus sich selbst begründen lässt, sondern aus den Absichten des Gesetzgebers abzuleiten ist. Dem Willen des Gesetzgebers und dessen Wertentscheidungen kommt dabei um so grössere Bedeutung zu, je neuer ein auszulegender Erlass ist. Gestützt auf eine solche, auf die Zielvorstellungen des Gesetzgebers ausgerichtete Auslegung kann es gerechtfertigt erscheinen, eine Rechtsnorm mit einem vordergründig klaren Wortlaut auf dem Analogieweg auf einen vom Wortlaut nicht erfassten Sachverhalt auszudehnen oder - umgekehrt - auf einen von ihm an sich erfassten Sachverhalt durch teleologische Reduktion nicht anzuwenden. Auf dem Wege der teleologischen Reduktion erfährt also der zu weit gefasste, das heisst über den angestrebten Zweck hinausgehende Wortlaut einer Norm eine ihrem Zweck entsprechende, restriktivere Deutung. Nach aktuellem Methodenverständnis geht es dabei also nicht um die Füllung einer Lücke im Gesetz, sondern um dessen auf den Normzweck


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ausgerichtete Auslegung, was unter dem Aspekt der Gewaltenteilung jedenfalls dann nicht problematisch erscheint, wenn sich die Zielvorstellungen des Gesetzgebers aufgrund der Materialien klar ermitteln lassen (grundlegend zur teleologischen Reduktion BGE 121 III 219, Erw. 1d/aa, S. 224 ff. [zitiert bereits in EMARK 2001 Nr. 20, Erw. 3a, S. 151 f.], mit einem Überblick über die massgebende Literatur und insbesondere mit Hinweis auf E. A. Kramer, Teleologische Reduktion - Plädoyer für einen Akt methodentheoretischer Rezeption, in: Rechtsanwendung in Theorie und Praxis, Symposium zum 70. Geburtstag von A. Meier-Hayoz, Beiheft 15 zur ZSR, Basel 1993, S. 65 ff., der mit diesem Referat wesentlich dazu beigetragen hat, dass die aus der deutschen Methodenlehre stammende Argumentationsfigur der teleologischen Reduktion Eingang in die schweizerische Methodendiskussion gefunden hat; vgl. aus der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts auch BGE 126 III 49, Erw. 2d, S. 54; 128 I 34, Erw. 3b, S. 40 ff.; 131 V 242, Erw. 5.1 und 5.2., S. 246 f.; zur erhöhten Bedeutung der Materialien bei der Auslegung neuerer Erlasse: BGE 128 I 288, Erw. 2.4., S. 291 f.; vgl. zum Ganzen auch Häfelin/Haller, a.a.O., Rz. 101, 121 und 124-126; H. M. Riemer, Zur sogenannten „teleologischen Reduktion“, recht 17/1999, S. 176 ff.; M. Jaun, Die teleologische Reduktion im schweizerischen Recht, Diss. Bern 2001).

6.3. Es war in erster Linie die Rechtslage in der EU, die den schweizerischen Gesetzgeber dazu veranlasste, Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG ins Asylgesetz einzufügen. Seit der Überführung des Dubliner Erstasylabkommens in eine entsprechende Gemeinschaftsverordnung (Verordnung [EG] Nr. 343/2003 des Rates der Europäischen Union vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist; nachfolgend „Dublin-Verordnung“) gilt nämlich innerhalb der EU der Grundsatz, dass jeweils nur ein einziger Staat für die Beurteilung eines Asylgesuchs zuständig ist (vgl. Art. 3 Abs. 1 Dublin-Verordnung). Vor diesem Hintergrund wurde gemäss den Ausführungen in der Botschaft zum EP 03 befürchtet, die Schweiz könnte, solange sie kein Parallelabkommen zur Dublin-Verordnung abgeschlossen habe, zur einzigen „Zweitdestination für Asylsuchende“ werden, die in der EU oder in bestimmten EWR-Staaten abgewiesen worden seien. „Um einer solchen Entwicklung entgegenzutreten“, wurden die Nichteintretenstatbestände des Asylgesetzes um Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG ergänzt, von dem „eine abschreckende Wirkung bezüglich unbegründeter Zweitgesuche und eine entsprechende Verringerung des Verfahrensaufwandes“ erwartet wurde. Es wurde in diesem Zusammenhang davon ausgegangen, dass ein bereits durchgeführtes Asylverfahren „in anderen europäischen Staaten“ auch „vergleichbaren rechtsstaatlichen und humanitären Ansprüchen“ genügen würde, weshalb sich „eine erneute Prüfung des Asylgesuchs“ erübrige (vgl. zum


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Ganzen BBl 2003 5690 f. und 5756).

In der Volksabstimmung vom 5. Juni 2005 wurde der Bundesbeschluss vom 17. Dezember 2004 über die Genehmigung und die Umsetzung der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU über die Assoziierung an Schengen und an Dublin gutgeheissen. Das entsprechende Abkommen wurde indessen noch nicht ratifiziert, und das Datum des Inkrafttretens seiner Bestimmungen, insbesondere der Dublin-Verordnung, ist offen.

Die Entstehungsgeschichte von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG zeigt klar auf, dass mit dieser Bestimmung in der Schweiz eine ähnliche Rechtslage geschaffen werden sollte, wie sie im Geltungsbereich der Dublin-Verordnung besteht. Es ging dem Gesetzgeber mit anderen Worten darum, unbegründete Zweitgesuche in der Schweiz zu vermeiden beziehungsweise möglichst effizient behandeln zu können. In einem allgemeineren Sinne sollte Art. 32 Abs. 2 Bst f AsylG also - wie die meisten Nichteintretenstatbestände des Asylgesetzes - der Missbrauchsbekämpfung dienen. Dagegen beabsichtigte der Gesetzgeber nicht, mit der neuen Regelung von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG auch Personen von einer materiellen Prüfung ihres Asylgesuchs auszuschliessen, die trotz eines ablehnenden Asylentscheids eines EU- oder EWR-Staates in jenem Zeitpunkt Flüchtlinge im Sinne von Art. 3 AsylG waren. Dies lässt sich indirekt auch anhand der Gesetzgebungsarbeiten zur - in der Volksabstimmung vom 24. September 2006 angenommenen, im heutigen Zeitpunkt freilich noch nicht in Kraft getretenen - Teilrevision des Asylgesetzes vom 16. Dezember 2005 erkennen. Art. 34 Abs. 2 Bst. d revAsylG sieht vor, dass auf Asylgesuche in der Regel nicht eingetreten wird, wenn Asylsuchende in einen Drittstaat ausreisen können, welcher für die Durchführung des Asyl- und Wegweisungsverfahrens staatsvertraglich zuständig ist; diese Bestimmung, die - unter anderem - nach Ratifikation des erwähnten Assoziierungsabkommens gerade der praktischen Umsetzung der Dublin-Verordnung im schweizerischen Asylverfahren dienen soll, findet aber gemäss Art. 34 Abs. 3 Bst. b revAsylG keine Anwendung, wenn die asylsuchende Person „offensichtlich die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 3 AsylG erfüllt“. In der Botschaft wird hierzu ausgeführt, diese Ausnahmebestimmung solle verhindern, „dass offensichtlich echten Flüchtlingen der Zugang zum Asylverfahren verwehrt“ werde; zwar würde es eine strenge Auslegung der Drittstaatenregelung zulassen, auch Personen in einen Drittstaat wegzuweisen, die offensichtlich die Flüchtlingseigenschaft erfüllten, was aber der humanitären Tradition widersprechen würde, an welcher der Bundesrat festhalten wolle (vgl. Botschaft zur Änderung des Asylgesetzes vom 4. September 2002; BBl 2002 6885). Sinngemäss muss dies aber auch im Anwendungsbereich von Art. 32 Abs. 2 Bst f AsylG gelten, der - wie bereits dargelegt - ebenfalls mit Blick auf die Zuständigkeitsregelung gemäss Dublin-Verordnung ins Asylgesetz eingefügt wurde.


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6.4. Ein Nichteintreten auf ein Asylgesuch einer Person, die trotz eines ablehnenden Asylentscheids eines EU- oder EWR-Staates in jenem Zeitpunkt ein Flüchtling im Sinne von Art. 3 AsylG war, dürfte vom Gesetzgeber beim Erlass von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG nicht zuletzt auch deshalb nicht beabsichtigt worden sein, weil eine entsprechende Regelung kaum sinnvoll wäre. Die schweizerischen Asylbehörden sind nämlich auch im Rahmen von Nichteintretensverfahren gemäss Art. 32 - 35 AsylG zumindest in dem Sinne an das flüchtlingsrechtliche Rückschiebungsverbot (Art. 5 AsylG; vgl. auch Art. 25 Abs. 2 BV und Art. 33 Ziff. 1 FK) gebunden, dass der Vollzug der Wegweisung eines Flüchtlings grundsätzlich als unzulässig zu erachten ist (vgl. Art. 44 Abs. 2 AsylG i.V.m. Art. 14a Abs. 3 ANAG). Daraus darf freilich nicht abgeleitet werden, dass es in Verfahren nach Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG etwa genügen würde, Personen, die trotz eines ablehnenden Asylentscheids eines EU- oder EWR-Staates die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 3 AsylG erfüllen, lediglich wegen Unzulässigkeit des Wegweisungsvollzugs vorläufig aufzunehmen. Den Materialien lässt sich nämlich nichts entnehmen, das darauf schliessen lassen könnte, der Gesetzgeber hätte eine entsprechende, sich im Ergebnis wie ein Asylausschlussgrund auswirkende Ausgestaltung von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG bewusst gewollt, zumal es auch ganz allgemein nicht Zweck der Nichteintretenstatbestände von Art. 32 - 35 AsylG ist, Asylausschlussgründe für Personen zu schaffen, welche die Flüchtlingseigenschaft erfüllen.

6.5. Gerade vor diesem Hintergrund wird klar, dass die Ausgangslage im Anwendungsbereich von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG mit derjenigen vergleichbar ist, die besteht, wenn eine vorsorgliche Wegweisung in einen Drittstaat gemäss Art. 42 Abs. 2 AsylG in Betracht gezogen wird, in welchem die betreffende Person bereits ein Asylverfahren erfolglos durchlaufen hat. Gemäss gefestigter Rechtsprechung der ARK zur Frage der Zulässigkeit der vorsorglichen Wegweisung in einen Drittstaat würde sich die Schweiz nämlich ebenfalls einer (freilich nur indirekten) Verletzung des flüchtlingsrechtlichen Rückschiebungsverbots schuldig machen, wenn eine asylsuchende Person in einen Drittstaat rückgeschafft würde, deren Flüchtlingseigenschaft im schweizerischen Verfahren nicht erkannt wurde, weil unbesehen auf einen bereits ergangenen Asylentscheid jenes Drittstaates abgestellt wurde (vgl. grundlegend EMARK 1998 Nr. 24). Die ARK hat in diesem Zusammenhang festgestellt, ein „rechtskräftiger negativer“ Asylentscheid eines Drittstaates, dessen Asylverfahren in rechtsstaatlicher und völkerrechtlicher Hinsicht einem dem schweizerischen vergleichbaren Standard genüge, stelle ein Indiz für das Fehlen der Flüchtlingseigenschaft der betreffenden Person dar. Dabei handle es sich aber nur um eine Vermutung, die von der asylsuchenden Person umgestossen werden könne, indem sie den ihr obliegenden Gegenbeweis erbringe; dies setze insbesondere voraus, dass ihre Vorbringen „ernsthaft und gewichtig genug“ seien, „um mit einiger Wahrscheinlichkeit an-


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nehmen zu können, die Flüchtlingseigenschaft sei erfüllt“ (vgl. EMARK 1998 Nr. 24, Erw. 5d/cc, S. 217 ff.).

Diese Überlegungen lassen sich sinngemäss auf die vergleichbare verfahrensrechtliche Konstellation bei der Anwendung von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG übertragen. Sie führen in Verbindung mit den sich aus der Entstehungsgeschichte von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG ergebenden Zielvorstellungen des Gesetzgebers zum Schluss, dass aufgrund eines ablehnenden Asylentscheids eines EU- oder EWR-Staates eine tatsächliche Vermutung besteht (vgl. allgemein zur Bedeutung und Tragweite tatsächlicher Vermutungen im öffentlichen Recht BGE 130 II 482, Erw. 3.2., S. 485 f., m.w.H.), dass die betreffende asylsuchende Person im Zeitpunkt jenes Entscheids die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 3 AsylG nicht erfüllte.

6.6. Damit ergibt sich, dass der Wortlaut von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG den Zielvorstellungen des Gesetzgebers insofern nicht entspricht, als undifferenziert sämtliche asylsuchende Personen, die einen ablehnenden Asylentscheid eines EU- oder EWR-Staates erhalten haben, unter Vorbehalt allfälliger Hinweise auf bestimmte, erst nachträglich eingetretene „Ereignisse“ von einer materiellen Prüfung ihres Asylgesuchs ausgeschlossen werden. Der Wortlaut von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG erweist sich in diesem Sinne als zu weit gefasst und ist auf dem Wege teleologischer Reduktion wie folgt zweckgerichtet zu konkretisieren (vgl. zum Begriff der Konkretisierung im Bereich der Auslegung Häfelin/Haller, a.a.O., Rz. 86): Auf Asylgesuche von Personen, die einen ablehnenden Asylentscheid eines EU- oder EWR-Staates erhalten haben und die darauf beruhende Vermutung, dass sie die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 3 AsylG nicht erfüllen, nicht umstossen können, ist nicht einzutreten, ausser die Anhörung ergebe Hinweise, dass in der Zwischenzeit Ereignisse eingetreten sind, die geeignet sind, die Flüchtlingseigenschaft zu begründen, oder die für die Gewährung vorübergehenden Schutzes relevant sind. Hervorzuheben ist dabei, dass die Stichhaltigkeit der Argumente, die von einer asylsuchenden Person im schweizerischen Asylverfahren vorgebracht werden, um die auf einem ablehnenden Asylentscheid eines EU- oder EWR-Staates basierende Vermutung zu erschüttern, nicht nach dem betreffenden ausländischen Asylrecht, sondern ausschliesslich nach Art. 3 AsylG zu beurteilen ist. Entsprechend ist aber für die Anwendung von Art. 32 Abs. 2 Bst. f AsylG unerheblich, ob jener ausländische Entscheid fehlerhaft war oder nicht. Die Vorinstanz stellt daher zwar durchaus zutreffend fest, es könne und dürfe nicht Aufgabe der schweizerischen Asylbehörden sein, die Rechtmässigkeit von Asylverfahren in einem EU-Staat zu überprüfen; sie übersieht aber, dass es nicht auf die allfällige ursprüngliche Fehlerhaftigkeit eines ablehnenden Asylentscheids eines EU- oder EWR-Staates ankommt, sondern vielmehr einzig darauf, ob im heutigen Zeitpunkt substanzielle Argumente vor-


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liegen, die in ihrer Gesamtheit ernsthaft und gewichtig genug sind, um mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen zu können, dass die asylsuchende Person im Zeitpunkt des ausländischen Entscheids die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 3 AsylG erfüllt haben dürfte.

7.

7.1. Im vorliegenden Fall ist mit dem Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 20. Oktober 2003 ein Entscheid ergangen, in dem festgestellt wurde, der Beschwerdeführer sei kein Flüchtling. Der Einwand des Beschwerdeführers, das deutsche Gericht habe seine Flüchtlingseigenschaft ungenügend geprüft, geht fehl. Es trifft zwar zu, dass der Beschwerdeführer in Anwendung von Art. 16a Abs. 2 des deutschen Grundgesetzes ungeachtet einer allfälligen Anerkennung als Flüchtling nicht als asylberechtigt gegolten hätte, weil er über einen sicheren Drittstaat nach Deutschland gereist war. Im Rahmen der Prüfung allfälliger Abschiebungshindernisse kam das deutsche Gericht aber zum Schluss, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Türkei keine Verfolgung „wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Überzeugung“ befürchten müsste, womit es die Flüchtlingseigenschaft nach deutschem Recht (bzw. nach Art. 1 A Ziff. 2 FK) sinngemäss verneinte. Ob die Würdigung des deutschen Gerichts materiell richtig oder aber fehlerhaft war, braucht - wie in allgemeiner Hinsicht bereits dargelegt wurde - im vorliegenden Verfahren nicht überprüft zu werden, weshalb auch auf den Einwand des Beschwerdeführers, die deutschen Behörden hätten „ein Fehlurteil“ gefällt, nicht weiter eingegangen zu werden braucht.

7.2. Wie die Vorinstanz in der angefochtenen Verfügung zutreffend ausführte, machte der Beschwerdeführer keine Ereignisse geltend, die sich zwischen dem Ergehen des Urteils des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 20. Oktober 2003 und der Einreichung seines zweiten Asylgesuchs in der Schweiz am 24. November 2004 ereignet hätten und geeignet wären, die Flüchtlingseigenschaft zu begründen. Der Beschwerdeführer hat vielmehr erklärt, er habe in dieser Periode überhaupt keinen Kontakt mit den türkischen Sicherheitsbehörden gehabt.

7.3. Der Beschwerdeführer hat indessen im Rahmen des zweiten Asylverfahrens in der Schweiz Argumente vorgebracht, welche seine Vorbringen stützen, er sei im Juli 1999 von den türkischen Behörden der PKK-Unterstützung beschuldigt und aus diesem Grunde verhaftet und einem Strafverfahren zugeführt worden. Es stellt sich daher die Frage, ob die mit dem deutschen Entscheid vom 20. Oktober 2003 verbundene Vermutung, dass der Beschwerdeführer zu jenem Zeitpunkt kein Flüchtling nach Art. 3 AsylG war, durch die vorgebrachten Ar-


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gumente in dem Sinne umgestossen wird, dass mit einiger Wahrscheinlichkeit von seiner Flüchtlingseigenschaft auszugehen ist.

Insbesondere mit dem Muhtar-Schreiben vom 29. November 2004 und den protokollierten Aussagen von X. Z. liegen Dokumente vor, die weder im Zeitpunkt des deutschen Gerichtsentscheids noch im Rahmen des ersten Asylverfahrens in der Schweiz bei den Akten waren. Die genannten Dokumente, die schriftliche Auskünfte Dritter (vgl. Art. 12 Bst. c VwVG und Art. 49 BZP i.V.m. Art. 19 VwVG) darstellen, lagen insbesondere auch nicht dem Urteil der ARK vom 15. März 2004 zugrunde, mit dem die gegen die vorsorgliche Wegweisung vom 26. Februar 2004 gerichtete Beschwerde abgewiesen wurde, wobei nicht zu übersehen ist, dass in jenem Zusammenhang - im Gegensatz zum vorliegenden Verfahren - auch von Bedeutung war, dass die Ausschöpfung des Rechtsmittels in Deutschland nicht belegt war und zudem nichts dafür sprach, dass die Vorbringen des Beschwerdeführers von den deutschen Behörden nur ungenügend geprüft worden wären.

Die ARK kommt nach Würdigung der Aktenlage zum Schluss, dass die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Argumente ernsthaft und gewichtig genug sind, um annehmen zu können, dass er im Zeitpunkt des ablehnenden Asylentscheids des Verwaltungsgerichts Regensburg die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 3 AsylG erfüllt haben dürfte. Aufgrund der eingereichten Beweismittel ist nämlich erstellt, dass der Beschwerdeführer unter Verdacht auf Unterstützung der PKK in Polizeigewahrsam war. Dies lässt aber angesichts des länderspezifischen Kontexts in der Türkei auch die von ihm geltend gemachten Folterungen plausibel erscheinen (vgl. EMARK 2005 Nr. 21 und dabei insbesondere Erw. 10.2.2., S. 197 f., wo festgehalten wurde, Folter sei in der Türkei weiterhin so verbreitet, dass von einer eigentlichen behördlichen Praxis gesprochen werden müsse) und liefert zudem gewichtige Anhaltpunkte für die Richtigkeit seiner Aussage, er habe sich auch nach seiner Freilassung einer besonderen Aufmerksamkeit der türkischen Sicherheitskräfte ausgesetzt gesehen. Es gilt in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass die Vorinstanz im Verfahren des Ehepaars Z. dieselben Dokumente würdigte wie im Verfahren des Beschwerdeführers. Die Asylgesuche des Ehepaars Z. wurden gutgeheissen. Vor diesem Hintergrund spricht nichts gegen die persönliche Glaubwürdigkeit von X.Z., auf dessen schriftliche Auskünfte vom 16. Juni 2005 aber vor allem auch deshalb ohne weiteres abgestellt werden kann, weil sie schlüssig und nachvollziehbar erscheinen.

7.4. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des ablehnenden Asylentscheids des Verwaltungsgerichts Regensburg mit einiger Wahrscheinlichkeit die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 3 AsylG erfüllt


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haben dürfte. Die an das deutsche Urteil geknüpfte gegenteilige Vermutung ist daher als umgestossen zu erachten, weshalb der Verfügung des Bundesamtes vom 3. Dezember 2004 die Grundlage entzogen ist. Die Beschwerde ist bei dieser Sachlage gutzuheissen, und die angefochtene Verfügung ist aufzuheben. Die Sache ist zu neuer Beurteilung an das Bundesamt zurückzuweisen, das dabei auf das Asylgesuch des Beschwerdeführers einzutreten haben wird. Im nunmehr folgenden materiellen Verfahren wird das Bundesamt festzustellen haben, ob der Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 3 AsylG erfüllt, wobei auf den Zeitpunkt der neu zu erlassenden Verfügung abzustellen sein wird.

 

 

 

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