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Auszug aus dem Urteil der ARK vom 9. Oktober 2006 i.S. W.H., Äthiopien

Grundsatzentscheid: [1]

Art. 3 Abs. 1 und 2 AsylG; Art. 1 A Ziff. 2 FK: Flüchtlingsrechtliche Relevanz der Entführung junger Frauen zwecks Heirat in Äthiopien (frauenspezifische Verfolgung).

1. In Fällen von Entführung zwecks Heirat besteht für die betroffenen Frauen vor allem in ländlichen Gegenden Äthiopiens grundsätzlich kein adäquater staatlicher Schutz. Eine innerstaatliche Fluchtalternative kann grundsätzlich - insbesondere in Addis Abeba - gegeben sein, hängt aber jeweils von den Umständen des Einzelfalles ab und ist jedenfalls dann zu verneinen, wenn Schutz vor einem Täter gesucht werden muss, der über Macht und Beziehungen von landesweiter Bedeutung verfügt (Erw. 7).

2. Ein nach Art. 3 Abs. 1 AsylG relevantes Verfolgungsmotiv kann, in Nachachtung von Art. 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG, grundsätzlich auch dann vorliegen, wenn eine Verfolgung allein an das Geschlecht anknüpft (Erw. 8).

Décision de principe : [2]

Art. 3 al. 1 et 2 LAsi ; art. 1A ch. 2 Conv. : pertinence, au regard du droit d’asile, du rapt nuptial en Ethiopie ; persécutions spécifiques aux femmes.

1. En cas de rapt nuptial, les femmes, notamment celles qui vivent dans les régions rurales d’Ethiopie, ne bénéficient en principe pas d’une protection adéquate de la part de l’Etat. Il existe une possibilité de refuge interne, en particulier à Addis-Abeba. Cette possibilité dépend toutefois

 


[1]  Entscheid über eine Grundsatzfrage gemäss Art. 104 Abs. 3 AsylG i.V.m. Art. 10 Abs. 2 Bst. a und Art. 11 Abs. 2 Bst. a und b VOARK.
            Dies bezieht sich auf das Regest 2 (erw. 8).

[2]  Décision sur une question de principe selon l'art. 104 al. 3 LAsi en relation avec l'art. 10 al. 2 let. a et l'art. 11 al. 2 let. a et b OCRA ;
            concerne uniquement le chiffre 2 (consid. 8).


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des circonstances de chaque cas d’espèce, mais doit en tous cas être déniée lorsque la protection est requise contre une personne disposant de pouvoirs et de relations d’importance nationale (consid. 7).

2. En vertu de l’art. 3 al. 2 phr. 2 LAsi, il y a également motif de persécution pertinent au titre de l’art. 3 al. 1 LAsi, lorsque la persécution est uniquement liée au genre (consid. 8).

Decisione di principio: [3]

Art. 3 cpv. 1 e 2 LAsi; art. 1 A n. 2 Conv.: rilevanza, in materia d’asilo, di rapimenti di donne a scopo di matrimonio; persecuzione specifica legata alla condizione femminile.

1. Nel caso di rapimenti di donne a scopo di matrimonio, non sussiste di principio in Etiopia una protezione appropriata da parte delle autorità statali, segnatamente per le donne residenti nelle regioni rurali del Paese. L’esistenza di un’alternativa di rifugio interna, in particolare ad Addis Abeba, dipende dall’insieme delle circostanze del caso di specie, ma va esclusa allorquando la vittima chiede la protezione contro delle persone che dispongono di un certo potere o di relazioni d’importanza nazionale (consid. 7).

2. In virtù dell’art. 3 cpv. 2 LAsi (seconda frase), v’è di principio una persecuzione rilevante giusta l’art. 3 cpv. 1 LAsi anche allorquando la stessa è legata unicamente alla condizione femminile (consid. 8).

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Die Beschwerdeführerin verliess Äthiopien laut eigenen Angaben am 3. September 2003 und stellte am 5. September 2003 in der Schweiz ein Asylgesuch.

Sie machte zur Begründung ihres Asylgesuchs im Wesentlichen Folgendes geltend: Nach der Trennung ihrer Eltern im Jahre 1995 sei sie mit ihrem Vater in X., ihrem Geburtsort (in der Region Amhara), geblieben, während ihre Mutter


[3]  Il regesto n. 2 (consid. 8) si riferisce ad una decisione su questione di principio conformemente all'art. 104 cpv. 3 LAsi in relazione con l'art. 10 cpv. 2 lett. a
           e l'art. 11 cpv. 2 lett. a e b OCRA.


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nach Y. gezogen sei. Seither habe sie zu ihrer Mutter keinen Kontakt mehr gehabt. Im Alter von 16 Jahren habe man sie zwingen wollen, einen viel älteren Mann namens Z., einen hohen Offizier, zu heiraten. Ihr Vater habe um seine geschäftliche Existenz gefürchtet und sich deshalb Z. nicht entgegengestellt, sondern einer Heirat zugestimmt; sie dagegen habe sich geweigert, Z. zu heiraten. Deshalb sei sie Ende 2000 von ihm entführt und drei Tage lang bei ihm zu Hause gefangen gehalten worden; er habe sie geschlagen und vergewaltigt; sie habe niemals zuvor mit einem Mann sexuellen Kontakt gehabt. Am dritten Tag habe sie weglaufen und zu ihrer Familie zurückkehren können; als sie ihrem Vater erzählt habe, was ihr zugestossen sei, habe dieser entgegnet, sie sei selber schuld. Z. sei auch regelmässig bei ihr zu Hause erschienen; ihre Familie habe sie anlässlich dieser Besuche mit ihm allein gelassen; er habe ihr gesagt, solange ihre Familie mit einer Heirat einverstanden sei, müsse auch sie sich damit abfinden, dass er ihr Mann werde; mehrmals habe er sie zu Hause geschlagen und vergewaltigt. Ihr älterer Bruder habe einmal versucht, Z. bei den Behörden anzuzeigen, doch dieser habe aufgrund seiner Macht und seiner Beziehungen die Einleitung eines Verfahrens verhindern können; sie selbst habe es nicht gewagt, gegen Z. vorzugehen, und habe zudem gefürchtet, angesichts seiner Macht auch nicht an einem anderen Ort in Äthiopien vor ihm sicher zu sein. Aufgrund dieser schwierigen Situation habe sie sich zur Ausreise aus Äthiopien entschlossen, die ihr schliesslich durch die finanzielle Hilfe ihres Bruders ermöglicht worden sei. Bei einer Rückkehr befürchte sie, dass Z. frühere Drohungen wahr machen und sie töten würde.

Mit Verfügung vom 5. Dezember 2005 lehnte das BFM das Asylgesuch der Beschwerdeführerin ab, verfügte ihre Wegweisung aus der Schweiz und ordnete den Vollzug der Wegweisung an. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Vorbringen der Beschwerdeführerin genügten nicht den Anforderungen an die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 3 AsylG. Auch unter der Annahme nämlich, dass die Beschwerdeführerin misshandelt und vergewaltigt worden sei, müsse festgestellt werden, dass ihr diese Gewalttaten nicht absichtlich von staatlicher Seite zugefügt worden seien, um in gezielter Weise ein bestimmtes politisches Verhalten zu bekämpfen, oder aus einem „analogen“, sich aus Art. 3 AsylG ergebenden Motiv. Die von einem Offizier ausgehenden Übergriffe seien vom äthiopischen Staat weder angeregt noch gebilligt worden. Vielmehr sei festzustellen, dass die Beschwerdeführerin mehrmals bei ihr zu Hause und unter Einwilligung ihres Vaters misshandelt und missbraucht worden sei. Überdies habe sie erklärt, sie habe niemals Schwierigkeiten mit der äthiopischen Regierung gehabt, weder aus politischen noch aus anderen Gründen. Soweit sie im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien erneute Übergriffe seitens jenes Offiziers befürchte, der sie bereits in der Vergangenheit misshandelt habe, sei davon auszugehen, dass ihr die Möglichkeit offen stehe, die äthiopischen Be-

 


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hörden um Schutz vor ihrem Angreifer zu ersuchen. Die Vorinstanz hielt im Übrigen fest, der Vollzug der Wegweisung sei möglich, zulässig und zumutbar; Letzteres gerade auch deshalb, weil die Beschwerdeführerin bei einer Rückkehr nach Äthiopien insbesondere mit der Unterstützung ihres Bruders rechnen und den Kontakt zu ihrer in Y. lebenden Mutter wiederaufnehmen könne.

Mit Beschwerde vom 4. Januar 2006 an die ARK beantragte die Beschwerdeführerin in der Hauptsache die Aufhebung der angefochtenen Verfügung und die Gewährung von Asyl in der Schweiz. Zur Begründung der Beschwerde wurde unter Verweis auf W. Kälin, Die Bedeutung geschlechtsspezifischer Verfolgung im Schweizerischen Asylrecht, in: ASYL 2001/2, S. 7 ff., geltend gemacht, die Beschwerdeführerin sei zwar von Z. nicht aus politischen Gründen Zielscheibe von Misshandlungen und Vergewaltigungen gewesen, es sei aber klar, dass Z. immer mehr Macht über ihre Familie besitzen würde und sie als junge Frau immer zu etwas zwingen könnte, was sie nicht wolle und was somit eine Menschenrechtsverletzung darstelle. Bestritten wurde überdies die Feststellung der Vorinstanz, dass die von der Beschwerdeführerin erlittene Gewalt nicht von Seiten des äthiopischen Staates, sondern von Seiten Dritter ausgegangen sei, dies im Wesentlichen mit dem Hinweis, sie könnte von den äthiopischen Behörden niemals Schutz vor Z. erhalten, weil dieser Offizier und somit Angehöriger der äthiopischen Sicherheitskräfte sei.

Das BFM hielt in seiner Vernehmlassung vom 18. Januar 2006 an der angefochtenen Verfügung fest und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

Die ARK heisst die Beschwerde gut, hebt die angefochtene Verfügung auf und weist das BFM an, der Beschwerdeführerin in der Schweiz Asyl zu gewähren.

Aus den Erwägungen:

5. Nach Lehre und Rechtsprechung erfüllt eine asylsuchende Person die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 3 AsylG, wenn sie Nachteile von bestimmter Intensität erlitten hat beziehungsweise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit und in absehbarer Zukunft berechtigterweise befürchten muss, welche ihr gezielt und aufgrund bestimmter Verfolgungsmotive zugefügt worden sind beziehungsweise zugefügt zu werden drohen. Die erlittene Verfolgung beziehungsweise die begründete Furcht vor künftiger Verfolgung muss sachlich und zeitlich kausal für die Ausreise aus dem Heimat- oder Herkunftsstaat und grundsätzlich auch im Zeitpunkt des Asylentscheids noch aktuell sein, was insbesondere heisst, dass Veränderungen der objektiven Situation im Heimatland im Zeitraum zwischen Ausreise und Asylentscheid zugunsten und zulasten der asylsuchenden Person


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zu berücksichtigen sind (EMARK 1996 Nr. 29, Erw. 2b, S. 277; 1995 Nr. 5, Erw. 6a, S. 43 f.). Überdies muss feststehen, dass die von einer Verfolgung bedrohte asylsuchende Person über keine innerstaatliche Fluchtalternative verfügt.

6.

6.1. Gemäss langjähriger schweizerischer Asylpraxis setzte die flüchtlingsrechtliche Relevanz einer Verfolgung gemäss der so genannten Zurechenbarkeitstheorie voraus, dass die von einer asylsuchenden Person erlittenen Nachteile ihrem Heimat- oder Herkunftsstaat unmittelbar oder mittelbar in einer Weise zugerechnet werden konnten, dass dieser dafür zumindest mitverantwortlich erschien. Unmittelbare staatliche Verfolgung lag nach dieser Praxis vor, wenn die Verfolgung von staatlichen Organen selbst ausging; mittelbare staatliche Verfolgung wurde angenommen, wenn der Staat Verfolgung durch Private anregte, unterstützte, duldete oder auch nur tatenlos hinnahm, den Betroffenen also den erforderlichen Schutz nicht gewährte, obwohl er zur Schutzgewährung in der Lage gewesen wäre, und dadurch seine Schutzunwilligkeit manifestierte. Private Verfolgung wurde dagegen dann als flüchtlingsrechtlich nicht relevant betrachtet, wenn vom vorhandenen Schutzwillen des grundsätzlich auch schutzfähigen Staats auszugehen war (vgl., jeweils m.w.H., EMARK 2004 Nr. 14, Erw. 6d, S. 92, und Nr. 3, Erw. 4d, S. 24; 2002 Nr. 16, Erw. 5c/cc, S. 133; 1996 Nr. 16, Erw. 4c/aa, S. 146).

Mit ihrem Grundsatzurteil vom 8. Juni 2006 i.S. A.I.I. (EMARK 2006 Nr. 18) hat die ARK eine Änderung dieser Praxis vorgenommen. Sie ist zum Schluss gekommen, dass eine völkerrechtskonforme Anwendung von Art. 3 AsylG im Lichte der Genfer Flüchtlingskonvention (Abkommen von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge; FK) ergibt, dass neben der unmittelbar oder mittelbar staatlichen auch die nichtstaatliche Verfolgung flüchtlingsrechtlich grundsätzlich relevant ist. Mit dieser Praxisänderung erfolgte damit ein Wechsel von der Zurechenbarkeits- zur so genannten Schutztheorie. Nach der Schutztheorie hängt aber die flüchtlingsrechtliche Relevanz einer Verfolgung nicht von der Frage ihres Urhebers, sondern vom Vorhandensein eines adäquaten Schutzes durch den Heimatstaat (bzw. - unter gewissen Umständen - durch einen so genannten Quasi-Staat) ab (vgl. EMARK 2006 Nr. 18, Erw. 6.3.1. und 10.2.1.). In diesem Sinne kommt aber auch der Unterscheidung zwischen Schutzunwilligkeit und -unfähigkeit des Heimatstaates (bzw. allenfalls eines Quasi-Staates) grundsätzlich keine entscheidende Bedeutung mehr zu: Nichtstaatliche Verfolgung ist nach der Schutztheorie flüchtlingsrechtlich relevant, sofern der Heimatstaat (bzw. allenfalls ein Quasi-Staat) nicht in der Lage oder nicht willens ist, adäquaten Schutz vor Verfolgung zu bieten (vgl. sinngemäss Art. 6 Bst. c der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als


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Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes [„Qualifikationsrichtlinie“]). Mit Bezug auf die Frage, welche Art und welcher Grad von Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung im Heimatstaat (bzw. allenfalls in einem Quasi-Staat) als adäquat zu erachten ist und damit - aufgrund der Subsidiarität des flüchtlingsrechtlichen Schutzes - eine Anerkennung als Flüchtling ausschliesst, ist nach dem erwähnten Grundsatzurteil der ARK nicht eine faktische Garantie für langfristigen individuellen Schutz der von nichtstaatlicher Verfolgung bedrohten Person zu verlangen, weil es keinem Staat gelingen kann, die absolute Sicherheit aller seiner Bürger und Bürgerinnen jederzeit und überall zu garantieren. Erforderlich ist aber, dass eine funktionierende und effiziente Schutzinfrastruktur zur Verfügung steht, wobei in erster Linie an polizeiliche Aufgaben wahrnehmende Organe sowie an ein Rechts- und Justizsystem zu denken ist, das eine effektive Strafverfolgung ermöglicht. Im Weiteren muss die Inanspruchnahme eines solchen Schutzsystems der betroffenen Person objektiv - das heisst beispielsweise auch unabhängig vom Geschlecht - zugänglich und individuell zumutbar sein, was jeweils im Rahmen einer Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung des länderspezifischen Kontexts zu beurteilen ist, wobei es den Asylbehörden obliegt, die Effektivität des Schutzes vor nichtstaatlicher Verfolgung im Heimatstaat abzuklären und zu begründen (vgl. EMARK 2006 Nr. 18, Erw. 10.3.2.).

6.2. Im Falle der Beschwerdeführerin handelt es sich zwar beim Mann, der sie zwecks Heirat entführt und in der Folge mehrmals vergewaltigt hat, um einen „hohen Offizier“. Ihrer Darstellung ist aber in keiner Weise zu entnehmen, dass dieser Offizier etwa in staatlichem Auftrag und auf Anweisung staatlicher Behörden gehandelt hätte. Vielmehr haben die von der Beschwerdeführerin erlittenen Übergriffe gemäss ihrer Schilderung im privaten Rahmen stattgefunden und stellen daher in erster Linie eine nichtstaatliche Verfolgung dar. Die Beschwerdeführerin macht dabei geltend, sie habe von den äthiopischen Behörden keinen Schutz vor jenem Offizier erhalten, weshalb sie ihm auch heute, bei einer Rückkehr nach Äthiopien, schutzlos ausgeliefert wäre. Nachfolgend ist daher vor dem Hintergrund der erwähnten Praxisänderung der ARK näher zu prüfen, ob die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte nichtstaatliche Verfolgung im Lichte der Schutztheorie flüchtlingsrechtlich grundsätzlich erheblich im Sinne von Art. 3 AsylG (bzw. Art. 1 A Ziff. 2 FK) ist oder ob sie im Gegenteil die Flüchtlingseigenschaft bereits deshalb nicht erfüllt, weil sie auf einen adäquaten Schutz durch den äthiopischen Staat verwiesen werden kann.

7.

7.1. Die Entführung junger Frauen zwecks Heirat stellt in Äthiopien ein Phänomen dar, das auf althergebrachte Traditionen des äthiopischen Volkstums zurückgeht und daher von grosser gesellschaftlicher Akzeptanz getragen ist. Lan-


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desweit sollen rund 70 Prozent aller Eheschliessungen über eine vorgängige Entführung der Frau erfolgen, wobei das Phänomen vor allem in ländlichen Gegenden sehr weit verbreitet ist; Entführung zwecks Heirat kommt mit Blick auf die einzelnen Landesteile Äthiopiens am häufigsten in den südlichen Regionen Southern Nations Nationalities and Peoples Region (SNNPR) und Oromiya vor (wo gemäss den vorhandenen Statistiken 92 bzw. 80 Prozent aller Eheschliessungen eine Entführung vorausgeht), ist aber auch in Amhara, der Heimatregion der Beschwerdeführerin, stark ausgeprägt (bei 32 Prozent aller Eheschliessungen; vgl. zum Ganzen United Nations Children's Fund [UNICEF], UNICEF Supports Fight to End Marriage by Abduction in Ethiopia, 9. November 2004 [nachfolgend: UNICEF], S. 1, unter Berufung auf eine entsprechende Untersuchung der äthiopischen Nichtregierungsorganisation National Committee on Traditional Practices of Ethiopia [NCTPE] aus dem Jahre 2003 [vgl. für eine detaillierte Wiedergabe der Ergebnisse der Untersuchung des NCTPE den „Algemeen ambtsbericht Ethiopië“ der niederländischen „Directie Personenverkeer, Migratie- en Vreemdelingenzaken“ von Februar 2005, S. 49 f., mit statistischen Angaben zu sämtlichen Regionen Äthiopiens]; vgl. auch die Übersicht im Anhang zu United States Agency for International Development [USAID], Enhancing Civil Society Organizations and Women’s Participation in Ethiopia, 6. August 2004 [nachfolgend: USAID], sowie U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2005, Ethiopia, 8. März 2006 [nachfolgend: U.S. State Department], S. 16, mit besonderer Erwähnung der Region Amhara). Gemäss äthiopischer Tradition ist die Entführung einer Frau ein sozial akzeptierter Weg zur Eheschliessung. Bei der Entführung wird die Frau vom zukünftigen Ehemann oft vergewaltigt. Die Tradition sieht vor, dass sich der Mann durch Vermittlung eines Ältestenrats bei den Eltern der entführten Frau für sein Vorgehen entschuldigt, ihnen eine Entschädigung in Form von Geld oder Vieh anbietet und sie gleichzeitig um die Einwilligung in die Heirat ersucht. Die Eltern stimmen nicht zuletzt deshalb sehr oft einer Heirat zu, da eine “Gusumeti”, das heisst eine Frau, die ihre Jungfräulichkeit verloren hat, nach den herrschenden Sitten sozial geächtet wird und für eine Eheschliessung mit einem anderen Mann nicht mehr in Betracht kommt. Entsprechend schwierig ist es in einem solchen kulturellen und sozialen Umfeld für die betroffene Frau, sich einer Eheschliessung mit ihrem Entführer zu widersetzen, geschweige denn, diesen bei den Strafbehörden anzuzeigen. Obwohl zwar die Entführung einer Frau traditionellerweise der Heirat dient, werden entführte Frauen aber oft auch vergewaltigt, ohne dass vom Täter eine Eheschliessung beabsichtigt wäre (vgl. zum Ganzen Panos Ethiopia, Reflections, Documentation of the Forum on Gender, Juli 2001 [nachfolgend: Panos Ethiopia], S. 3; UNICEF, S. 2; Equality Now, Ethiopia: Abduction and Rape - Law Reform and the Case of Woineshet Zebene Negash, Update, Juni 2005 [nachfolgend: Equality Now]; U.S. State Department, S. 16; Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, Sonderberichterstatterin


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über Gewalt gegen Frauen, Integration of the Human Rights of Women and the Gender Perspective: Violence against Women [nachfolgend: UN-Sonderberichterstatterin], Ziff. 240; Integrated Regional Information Networks [IRIN, Teil des UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs], Ethiopia: Forced marriages ruining lives of rural girls in Arsi, 14. September 2004 [nachfolgend: IRIN, Forced marriages]; Österreichisches Rotes Kreuz, Reisebericht Äthiopien 05. - 13. Oktober 2004, Dezember 2004 [nachfolgend: Österreichisches Rotes Kreuz], S. 30 ff.; A. Benidir-Müller, Äthiopien, Update, Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Bern, 9. November 2005 [nachfolgend: SFH], S. 6; BBC News Online, 14. Mai 2006 [“Ethiopian girls fear forced marriage”]; Agence France Presse, 17. Mai 2006 [„En Ethiopie, enlèvements et mariages forcés sont le quotidien des filles“]).

7.2. Art. 35 Ziff. 4 der äthiopischen Verfassung vom 8. Dezember 1994 sieht vor, dass der äthiopische Staat dem Recht der Frauen auf Beseitigung des Einflusses schädlicher Bräuche („right of women to eliminate the influences of harmful customs“) Geltung verschaffen soll; Gesetze, Bräuche und Praktiken („laws, customs and practices“), durch welche Frauen unterdrückt oder in ihrer physischen oder psychischen Integrität verletzt werden, sind unzulässig („are prohibited“). Im Weiteren hat Äthiopien im Jahre 1981 das am 18. Dezember 1979 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommene Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, CEDAW; SR 0.108) ratifiziert; das Abkommen trat für Äthiopien am 10. Oktober 1981 in Kraft. Dadurch hat sich Äthiopien unter anderem verpflichtet, alle innerstaatlichen strafrechtlichen Vorschriften, die eine Diskriminierung der Frau darstellen, aufzuheben (Art. 2 Bst. g CEDAW), alle geeigneten Massnahmen zu treffen, um einen Wandel in den sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Mann und Frau zu bewirken, um so zur Beseitigung von Vorurteilen sowie von herkömmlichen und allen sonstigen auf der Vorstellung von der Unterlegenheit oder Überlegenheit des einen oder anderen Geschlechts oder der stereotypen Rollenverteilung von Mann und Frau beruhenden Praktiken zu gelangen (Art. 5 Bst. a CEDAW), sowie das Recht der Frau auf freie Wahl des Ehegatten und auf Eheschliessung nur mit freier und voller Zustimmung zu gewährleisten (Art. 16 Abs. 1 Bst. b CEDAW).

7.3.

7.3.1. In offensichtlichem Widerspruch zu diesen verfassungs- und völkerrechtlichen Verpflichtungen stand das noch Anfang 2005 geltende äthiopische Strafgesetzbuch von 1957 (nachfolgend: äthiop. altStGB). So war nach Art. 558 Abs. 2 äthiop. altStGB in Fällen von Frauenentführung von einer Strafverfolgung des Täters abzusehen, wenn das weibliche Opfer mündig war und mit ihrem Entfüh-


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rer „freiwillig“ eine „gültige Ehe“ einging („freely contracts with her abductor a valid marriage“). Ein ähnlicher, das heisst ebenfalls an die Bedingung einer nachträglichen, „freiwilligen“ Eheschliessung geknüpfter Strafbefreiungsgrund war überdies nach Art. 599 äthiop. altStGB auch im Falle der grundsätzlich strafbaren Vergewaltigung (Art. 589 äthiop. altStGB) vorgesehen. Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, dass durch die Regelung von Art. 558 Abs. 2 und Art. 599 äthiop. altStGB der Druck auf ein Opfer von Entführung und Vergewaltigung, einer nachträglichen, zu einer Strafbefreiung des Täters führenden Eheschliessung zuzustimmen, zusätzlich erhöht wurde.

7.3.2.

7.3.2.1. Diese strafgesetzliche Regelung dürfte denn auch wesentlich dazu beigetragen haben, dass es unter der Geltung des Strafgesetzbuchs von 1957 in Fällen von Entführung einer Frau zwecks Heirat kaum zu Strafverfahren, geschweige denn zu Verurteilungen kam (vgl. den von S. Vaughan, Writenet, Independent Analysis - einem Netzwerk von Spezialisten auf den Gebieten Menschenrechte, Zwangsmigration sowie ethnische und politische Konflikte - im Auftrag des UNHCR im Januar 2004 erstellten Bericht „Ethiopia: A Situation Analysis and Trend Assessment“ [nachfolgend: Writenet 2004], S. 38 oben, wo festgehalten wird, Entführungen und Vergewaltigungen seien in ganz Äthiopien alltäglich [„remain commonplace throughout Ethiopia“]; ähnlich auch UN-Sonderberichterstatterin, Ziff. 235 [“prosecutions and convictions are few”]; vgl. auch die Nichtregierungsorganisation Freedom House, eine weltweit tätige Nichtregierungsorganisation, welche als Ziel die Durchsetzung demokratischer Freiheiten und rechtsstaatlicher Prinzipien verfolgt, die in einem Äthiopien-Bericht für das Jahr 2004 [Countries at the Crossroads 2005 / Country Report - Ehtiopia; nachfolgend: Freedom House 2005] zu folgendem Schluss kam: “[…], the custom of marriage by abduction continues without significant interference by authorities” [a.a.O., S. 5]; vgl. in gleichem Sinne auch Panos Ethiopia, S. 6, und den bei Associated Press am 24. September 2004 erschienenen Artikel “Abduction and rape of young girls for marriage common in rural Ethiopia, victims and aid workers say”).

7.3.2.2. Wie aber bereits erwähnt, werden junge, nicht verheiratete Frauen oft von Männern, die von vornherein keine Heirat beabsichtigen, entführt und vergewaltigt, ohne dass es im Anschluss zu einer solchen kommt, weshalb sich die geringe Anzahl von Strafverfahren und Verurteilungen nicht bereits allein damit erklären lässt, dass stets der gesetzliche Strafbefreiungsgrund der nachträglichen Eheschliessung erfüllt gewesen wäre. Vielmehr sind dafür noch weitere Gründe verantwortlich, die - wie aus Berichten des U.S. Department of State sowie verschiedener Nichtregierungsorganisationen hervorgeht - in erster Linie mit


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strukturellen Mängeln des äthiopischen Strafsystems, zum Teil aber auch mit persönlichen Fehlleistungen von Behördenvertretern zusammenhängen.

Das U.S. Department of State hält für das Berichtsjahr 2005 fest, die Justiz sei schwach und überlastet; das Justizpersonal sei in verschiedenen Landesteilen schlecht ausgebildet. Überdies übten die Gerichtsbehörden auf Bundesebene ihre Aufsichtsfunktion gegenüber den weitgehend autonom wirkenden Gerichten auf lokaler oder regionaler Ebene nur in sehr beschränktem Masse aus. In ländlichen Gegenden würden traditionelle Formen der Rechtsprechung wie etwa die Streiterledigung durch Ältestenräte vorherrschen, die im Recht des äthiopischen Staates gar nicht vorgesehen seien; dies bedeute, dass ausserhalb von städtischen Zentren eine Mehrheit der Bevölkerung kaum Zugang zum staatlichen Justizsystem habe (vgl. U.S. State Department, S. 6 f.).

Gemäss einem Bericht des Österreichischen Roten Kreuzes von Ende 2004, der auf Gesprächen in Addis Abeba mit internationalen und lokalen Organisationen sowie der österreichischen Botschaft beruht, sei das äthiopische Justizsystem vollkommen überfordert. Es gebe keine Polizeibeamtinnen, an die sich die weiblichen Opfer von Gewalt wenden könnten; die männlichen Polizeioffiziere seien aufgrund unzureichender Ausbildung zu wenig für frauenspezifische Fragen sensibilisiert. So werde zum Beispiel die Vergewaltigung von Frauen in erster Linie unter dem Aspekt der Jungfräulichkeit betrachtet, während der Tatsache der sexuellen Gewalt an sich weniger Bedeutung beigemessen werde. Bei Erstattung einer Strafanzeige sei es üblich, der Polizei ein bisschen Geld zu geben. Doch ganz abgesehen davon sei es in den meisten Gegenden Äthiopiens aufgrund der Entfernungen zur nächsten Polizeistation schwer, überhaupt zur Polizei zu gelangen (vgl. Österreichisches Rotes Kreuz, S. 31 f.).

Writenet führt in seinem Bericht aus dem Jahre 2004 zuhanden des UNHCR aus, dass Personen, deren Rechte durch die äthiopische Regierung oder durch Private verletzt worden seien, in der äthiopischen Justiz noch keinen verlässlichen Rückhalt finden könnten; Reformarbeiten zur Beseitigung der gravierenden Mängel des äthiopischen Justizsystems im Rahmen des so genannten Justice System Reform Programme befänden sich noch in einem Anfangsstadium (vgl. Writenet 2004, S. 8; vgl. zum Justice System Reform Programme auch den bei BBC Monitoring Africa am 17. Juni 2003 erschienenen Artikel “Ethiopia: Netherlands-based body signs agreement on justice reform programme” sowie D. Rahmato/M. Ayenew, Democracy Assistance to Post-Conflict Ethiopia, Netherlands Institute of International Relations „Clingendael“, Juli 2004, S. 45 f., mit Ausführungen zu dem diese Reformen ergänzenden, im Wesentlichen von ausländischer Seite finanzierten „Judicial Training Programme“, mit dem die Weiterbildung der einzelnen Richter gefördert werden soll).


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Freedom House bezeichnet in ihrem Äthiopien-Bericht für das Jahr 2004 die ungenügenden Kapazitäten der Anklage- und Gerichtsbehörden sowie die mangelhafte Ausbildung der Behördenvertreter als die grösste Schwäche des äthiopischen Justizsystems. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter seien nicht hinreichend gewährleistet. Gerichtsurteile würden von den Verwaltungsbehörden nicht konsequent befolgt, weshalb nach Ausfällung eines Urteils keine Garantie für dessen Vollstreckung bestehe (Freedom House 2005, S. 7).

Gemäss der Geschäftsführerin der Ethiopian Women Lawyers Association, einer Vereinigung äthiopischer Anwältinnen, die sich für die Beseitigung aller Formen von Diskriminierung der Frau einsetzt, würden Richter in Fällen von Frauenentführung oft erklären, der Mann bringe mit der Entführung lediglich zum Ausdruck, dass er die Frau heiraten wolle, und es sei nicht einzusehen, was daran falsch sei (vgl. IRIN, Forced Marriages, S. 2).

In einem Fall, der einige Publizität fand, wurde der Entscheid eines erstinstanzlichen Gerichts, das mehrere Angeklagte wegen Entführung und Vergewaltigung eines 13-jährigen Mädchens zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt hatte, mit Urteil des High Court of the Arsi Zone (im nördlichen Teil der Region Oromiya) vom 4. Dezember 2003 aufgehoben. Gemäss Aussagen des zuständigen Staatsanwalts und eines der an diesem Urteil beteiligten Richter sei aufgrund der unschlüssigen Beweislage davon auszugehen gewesen, dass es zu keiner Entführung und Vergewaltigung gekommen sei; die vorhandenen Beweise hätten nämlich keinen Aufschluss darüber gegeben, ob das Mädchen vor der behaupteten Vergewaltigung tatsächlich noch Jungfrau gewesen sei, und niemand würde eine Frau entführen und vergewaltigen, die nicht Jungfrau sei. Zugleich drückte der betreffende Richter sein Bedauern darüber aus, dass neuere äthiopische Gesetze zum Teil nicht mehr im Einklang mit der kulturellen Tradition Äthiopiens stünden (vgl. zu diesem Fall einen entsprechenden Artikel in der Washington Post vom 6. Juni 2004, Österreichisches Rotes Kreuz, S. 31, sowie Equality Now, S. 2). Zwar lässt sich aus diesem und ähnlichen weiteren Fällen nicht der allgemeine Schluss ziehen, den äthiopischen Polizei- und Justizorganen würde generell die Bereitschaft zu einer konsequenten strafrechtlichen Verfolgung von Entführung zwecks Heirat fehlen (vgl. etwa den Fall eines 14-jährigen Mädchens aus der Umgebung von Arsi, das seinen Entführer und Vergewaltiger tötete und vom zuständigen Gericht, das die Tat als straflose Notwehrhandlung beurteilte, freigesprochen wurde: BBC News Online, 18. Juni 1999 [„Ethiopia: Revenge of the abducted bride“]). Solche Fälle veranschaulichen aber auf eindrückliche Weise, dass die Verfolgung der Täter von Entführung zwecks Heirat durch traditionelle Vorstellungen erschwert wird, die derart tief in der äthiopischen Gesellschaft verankert sind, dass sie zum Teil auch Behördenvertreter bei der Wahrnehmung ihrer amtlichen Funktion beeinflussen können.


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Diese Einschätzung stützt sich nicht zuletzt auch auf die Aussagen einer Delegation der äthiopischen Regierung, die am 26. Januar 2004 gegenüber dem Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frauen (Committee on the Elimination of Discrimination against Women; CEDAW-Ausschuss) zum periodischen äthiopischen Bericht über die zur Durchführung der CEDAW getroffenen Massnahmen und die diesbezüglichen Fortschritte Stellung nahm (vgl. zur betreffenden Berichterstattungspflicht im Allgemeinen Art. 18 CEDAW und für die Zusammenfassung der anlässlich des Treffens vom 26. Januar 2004 von der äthiopischen Delegation beziehungsweise vom CEDAW-Ausschuss abgegebenen Voten CEDAW Press Release WOM/1431 [nachfolgend: CEDAW Press Relase]). So stellte die äthiopische Vertretung fest, die Entführung junger Frauen zwecks Heirat finde weiterhin statt (CEDAW Press Release, S. 16) und räumte gleichzeitig ein, dass die äthiopischen Gerichte oft nur mit männlichen Richtern besetzt seien, die sehr traditionell eingestellt seien und Rechtsreformen zur Beseitigung von Frauendiskriminierungen ablehnend gegenüber stünden. Nach Ansicht der Regierungsdelegation seien daher Anstrengungen erforderlich, um die Mentalität der betreffenden Richter und anderer in der Rechtsanwendung tätiger Amtspersonen zu ändern („Efforts must be made, therefore, to change the mentality of the judges, as well as that of law enforcement officials“), was allerdings nur in einem langwierigen Prozess („a long protracted struggle“) möglich sei (vgl. CEDAW Press Release, S. 9). Unbeantwortet blieb die von einer Vertreterin des CEDAW-Ausschusses aufgeworfene Frage, ob die weiblichen Opfer traditioneller Praktiken, die gegen die Täter vor Gericht gehen möchten, von behördlicher oder nichtstaatlicher Seite Rechtsbeistand erhielten (vgl. CEDAW Press Release, S. 8). Im Übrigen wurde von Seiten der äthiopischen Regierung auf die ungenügenden behördlichen Strukturen zur Umsetzung von Massnahmen zur Bekämpfung von Frauendiskriminierungen hingewiesen (vgl. CEDAW Press Release, S. 6). In seinen Schlussfolgerungen sprach der CEDAW-Ausschuss zwar der äthiopischen Regierung den politischen Willen zur Bekämpfung von Frauendiskriminierungen zu, stellte aber gleichzeitig eine völlig ungenügende Umsetzung der CEDAW fest (vgl. CEDAW Press Release, S. 1 und 17 f.).

7.3.3. Vor diesem Hintergrund ist mit Blick auf den Zeitpunkt der Ausreise der Beschwerdeführerin aus Äthiopien (Anfang September 2003) als Zwischenergebnis festzuhalten, dass der äthiopische Staat dem vor allem in ländlichen Gegenden sehr weit verbreiteten Phänomen der Entführung zwecks Heirat insgesamt nicht effektiv entgegenwirken konnte. Dies hing unter anderem mit der damaligen Rechtslage zusammen, die bei Entführung und Vergewaltigung eine Strafverfolgung im Falle einer nachträglichen Eheschliessung ausdrücklich ausschloss, war aber zu einem wesentlichen Teil auch auf die beschriebenen Mängel des äthiopischen Strafsystems zurückzuführen. Ob diese Mängel Ausdruck


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einer eigentlichen Schutzunwilligkeit des äthiopischen Staates oder nur seiner Schutzunfähigkeit in diesem spezifischen Kontext sind, kann nach der neu auch in der schweizerischen Asylpraxis massgeblichen Schutztheorie - wie erwähnt - offen gelassen werden. Entscheidend ist nämlich, dass von der Beschwerdeführerin im Zeitpunkt ihrer Ausreise angesichts eines objektiv wesentlich erschwerten Zugangs zu einer überdies zum Teil schlecht funktionierenden und ineffizienten Schutzinfrastruktur nicht erwartet werden konnte, die Strafbehörden in ihrer Heimatregion um Schutz anzurufen, zumal sie dies gemäss ihren glaubhaften Vorbringen in der Vergangenheit bereits einmal erfolglos versucht hatte (vgl. dazu allgemein EMARK 1996 Nr. 16, 4c/bb-dd, S. 146 ff.).

7.4.

7.4.1. Am 2. Juli 2004 verabschiedete Äthiopien ein neues Strafgesetzbuch, das am 9. Mai 2005 in Kraft getreten ist (nachfolgend: äthiop. revStGB). Im Rahmen dieser Strafrechtsrevision wurden unter anderem auch Art. 558 Abs. 2 und 599 äthiop. altStGB aufgehoben, die bei Entführung und Vergewaltigung - wie bereits dargelegt - den Strafbefreiungsgrund der nachträglichen Eheschliessung vorsahen. Ein solcher Strafbefreiungsgrund ist nunmehr weder in Art. 587 äthiop. revStGB, der die Entführung einer Frau („Abduction of a Woman“) unter Strafe stellt, noch in Art. 620 äthiop. revStGB, der die Strafbarkeit von Vergewaltigung („Rape“) regelt, vorgesehen. In Art. 587 Abs. 3 revStGB wird sogar ausdrücklich erklärt, dass die nachträgliche Eheschliessung zwischen dem Entführer und seinem Opfer keine Strafbefreiung zur Folge hat. Mit der Revision wurden die Strafen für Entführung und Vergewaltigung erhöht, wobei nun im Gegensatz zum Strafgesetzbuch von 1957 auch Mindeststrafen vorgesehen sind. Freilich wird die Höhe der Mindeststrafen für Entführung und Vergewaltigung von drei beziehungsweise fünf Jahren „rigorous imprisonment“ (Art. 587 Abs. 1 bzw. Art. 620 Abs. 1 revStGB) dadurch relativiert, dass ein bedingter Strafvollzug bei einem Ersttäter erst dann ausgeschlossen ist, wenn er zu einer fünf Jahre übersteigenden Freiheitsstrafe verurteilt wird (vgl. Art. 194 Abs. 1 Bst. b äthiop revStGB).

7.4.2. Zudem ist aktuellen Berichten zu entnehmen, dass der äthiopische Staat in jüngerer Zeit auch in weiterer Hinsicht verstärkt Anstrengungen unternimmt, um das Phänomen der Entführung zwecks Heirat effektiver als in der Vergangenheit zu bekämpfen, was sich etwa an der im Oktober 2005 angekündigten Bildung eines Ministeriums für Frauenangelegenheiten (Women’s Affairs Ministry), der Schaffung entsprechender parlamentarischer Kommissionen, der Durchführung spezifischer Aufklärungskampagnen in ruralen Landesteilen und der Zusammenarbeit mit verschiedenen in- und ausländischen Organisationen erkennen lässt (vgl. zu diesen neueren Entwicklungen U.S. State Department, S. 16; J. Newton, Wellbeing in Developing Countries, ESRC Research Group, Gender


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mainstreaming in Ethiopia: translation of policy into practice and implications on the ground, im Rahmen der „4th International Conference on Ethiopian Economy“, 10 - 12. Juni, S. 17; US Fed News, 21. Februar 2006 [Ethiopia: Members of U.S. Congress hold talks with House Deputy Speaker, Women Standing Committee Chairs]). Entsprechende Bemühungen gehen in erster Linie von den zentralen Bundesbehörden aus, lassen sich aber vereinzelt auch auf der Stufe regionaler Behörden feststellen (vgl. Scholastic Update, 20. Februar 2006 [„Africa’s child brides“], wo beschrieben wird, wie ein - freilich nicht näher bezeichneter - Gliedstaat Äthiopiens gegen mehrere Eltern Anklage erhob, die ihre Töchter - im Alter zwischen 12 und 15 Jahren - zu einer Heirat gezwungen hatten). Neben diesen mehrheitlich langfristig angelegten Massnahmen ist zu erwähnen, dass am 28. Oktober 2004 eine neue Abteilung des Bundesgerichts Erster Instanz (Federal First Instance Court) ihre Tätigkeit aufgenommen hat, die offenbar zur Behandlung von „Fällen sexuellen Missbrauchs“ („cases of sexual abuse“) von Frauen und Kindern zuständig ist und bereits eine bestimmte Anzahl von Urteilen gefällt hat (vgl. U.S. State Department 2004 und 2005, S. 6 bzw. 7). Allerdings fehlen im heutigen Zeitpunkt weitere Erkenntnisse über die Art der von der betreffenden Abteilung des Bundesgerichts Erster Instanz behandelten Fälle und die von ihr gefällten Urteile, aber auch ganz allgemein über die Umsetzung der Strafrechtsreform durch andere äthiopische Strafgerichte. Entsprechend lässt sich auch nicht mit Bestimmtheit voraussagen, wie sich die Strafgesetzrevision auf die Praxis auswirken wird. Mit Blick auf die aktuellen Verhältnisse ist jedenfalls festzustellen, dass das Phänomen der Entführung zwecks Heirat nach wie vor weit verbreitet ist und die praktische Umsetzung von Reformen zu seiner Bekämpfung wie auch zur Verbesserung der Situation der Frauen ganz allgemein durch bestehende kulturelle Normen und Traditionen stark behindert wird (vgl. Newton, a.a.O., S. 6, 13 f., 17 und 19 f., C. Barnes, Ethiopia : A Sociopolitical Assessment, Writenet, Mai 2006, S. 28, der in diesem Zusammenhang im Wesentlichen die Lageeinschätzung im bereits erwähnten Writenet-Bericht aus dem Jahre 2004 [vgl. vorne, Erw. 7.3.2.1.] bestätigt ; Freedom House, Freedom in the World - Ethiopia, 2006 [Allgemeiner Länderbericht für das Jahr 2005]; World Bank, Ethiopia: A Country Status Report on Health and Poverty, Vol. I: Executive Summary, Juli 2005, S. 3). Angesichts der nach wie vor grossen kulturellen und sozialen Bedeutung des Phänomens der Entführung zwecks Heirat, aber auch aufgrund der weiterhin vorhandenen Mängel des äthiopischen Strafsystems, bestehen damit insgesamt keine eindeutigen Anhaltspunkte für die Annahme, dass der äthiopische Staat in näherer Zukunft in der Lage wäre, die Täter - anders als bisher - konsequent zu verfolgen und zu bestrafen. Vielmehr ist in diesem Zusammenhang etwa auf die Einschätzung des ehemaligen Präsidenten der Weltbank, James Wolfensohn, hinzuweisen, der Mitte Oktober 2004 erklärte, die neuen Bestimmungen des äthiopischen Strafgesetzbuchs zu Entführung und Vergewaltigung würden ohne einen gesellschaftli-


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chen Wandel in Äthiopien toter Buchstabe bleiben (vgl. IRIN, Ethiopia: World Bank calls for change in attitude towards women, 18. Oktober 2004). Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht auch die Einleitung zum Strafgesetzbuch von 2004. Zwar kann ihr durchaus ein allgemein gefasstes politisches Bekenntnis des äthiopischen Staates zu den in Verfassung und internationalen Abkommen gewährleisteten Rechten der Frauen entnommen werden. Allerdings wird gleichzeitig eingeräumt, aufgrund des Strafgesetzbuchs von 1957 sei den Frauen ein wirksamer Schutz vor schädlichen traditionellen Praktiken versagt geblieben. Zudem wird mit Bezug auf die neuen Strafbestimmungen Folgendes ausgeführt: „It is also futile to issue a law that does not have the trust and support of the people for it usually remains impracticable. But it is well recognized in the philosophy of criminal legislation that the legislature should, by adopting progressive laws at times, educate and guide the public to dissociate itself from harmful traditional practices.” Auch diese Ausführungen legen den Schluss nahe, dass die konsequente Umsetzung der Strafrechtsrevision von 2004 in die Praxis einen noch nicht stattgefundenen gesellschaftlichen Wandel bedingen wird, der unter anderem zu einem Mentalitätswechsel bei einem Teil der Behördenvertreter führen muss. Diese grundlegenden Veränderungen sind auch nach den Worten der äthiopischen Regierung nur in einem langwierigen Prozess möglich, der jedenfalls heute noch weit davon entfernt ist, abgeschlossen zu sein.

7.4.3. Kann nach dem Gesagten auch im heutigen Zeitpunkt nicht angenommen werden, dass die Beschwerdeführerin in ihrer Heimatregion Amhara von den lokalen Behörden wirksam gegen weitere Übergriffe durch ihren Entführer und Vergewaltiger geschützt werden könnte, ist in einem nächsten Schritt zu prüfen, ob ihr allenfalls in Äthiopien eine innerstaatliche Fluchtalternative offen stünde.

7.4.3.1. In allgemeiner Hinsicht kann eine innerstaatliche Fluchtalternative in Fällen von Entführung zwecks Heirat grundsätzlich gegeben sein. Dieses Phänomen ist nämlich - wie bereits erwähnt - vor allem in ländlichen Gegenden sehr weit verbreitet. Überdies sind auch die aufgezeigten Mängel des äthiopischen Strafsystems - wie ebenfalls dargelegt - in ruralen Landesteilen bedeutend stärker als in urbanen Zentren ausgeprägt, auch wenn freilich nicht zu übersehen ist, dass es etwa selbst in der Hauptstadt Addis Abeba für fünf Millionen Menschen insgesamt nur fünf Gerichte gibt (vgl. Österreichisches Rotes Kreuz, S. 32). Die Anforderungen an die Effektivität des am inländischen Zufluchtsort gewährten Schutzes sind allerdings gemäss Praxis der ARK hoch anzusetzen (vgl. dazu ausführlich EMARK 1996 Nr. 1, Erw. 5c, S. 6 f.). Von denselben hohen Schutzanforderungen ist grundsätzlich auch nach dem Wechsel zur Schutztheorie auszugehen, nachdem die ARK im erwähnten Grundsatzurteil vom 8. Juni 2006 i.S. A.I.I. festgestellt hat, dass bei der Beurteilung, welche Art beziehungsweise wel-


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cher Grad von Schutz im Heimatstaat als „genügend“ zu qualifizieren sei, vollumfänglich auf die bisherige Praxis abgestellt werden könne (vgl. EMARK 2006 Nr. 18, Erw. 10.3.1.).

7.4.3.2. Besonders Rechnung zu tragen ist aber auch den konkreten Umständen des Einzelfalles, von denen das Vorhandensein einer innerstaatlichen Fluchtalternative entscheidend abhängen kann. Diesbezüglich ist im Falle der Beschwerdeführerin darauf hinzuweisen, dass ihr Entführer und Vergewaltiger ein älterer hoher Offizier der äthiopischen Armee ist, der bereits in der Vergangenheit in der Lage war, die Einleitung eines gegen ihn gerichteten Strafverfahrens zu verhindern. Es ist deshalb nicht davon auszugehen, dass sie durch einen Wegzug nach Addis Abeba oder an einen anderen Ort in Äthiopien wirksamen Schutz vor weiteren Übergriffen dieses Offiziers finden könnte, zumal sie dabei kaum mit der Unterstützung ihres Vaters rechnen könnte, der aufgrund seiner geschäftlichen Situation den Einfluss des besagten Offiziers fürchtet. Vielmehr ist anzunehmen, dass die Beschwerdeführerin allfälligen weiteren Übergriffen durch ihren Entführer und Vergewaltiger angesichts der zu vermutenden Machtfülle und der Beziehungen dieses älteren hohen Offiziers weiterhin landesweit schutzlos ausgeliefert wäre.

7.4.4. Damit ist im heutigen Zeitpunkt festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin bei einer Rückkehr nach Äthiopien trotz der Strafrechtsreform von 2004 landesweit keinen wirksamen staatlichen Schutz vor weiteren Übergriffen seitens ihres Entführers und Vergewaltigers, die sie nach ihrer plausiblen Darstellung nach wie vor befürchten müsste, erwarten könnte. Sie hat daher grundsätzlich eine begründete Furcht vor Verfolgung, wobei ihre Flüchtlingseigenschaft noch davon abhängt, ob ihr diese Verfolgung aus einem flüchtlingsrechtlich relevanten Motiv im Sinne von Art. 3 AsylG droht, was nachfolgend noch näher zu untersuchen ist.

8.

8.1. Gemäss Art. 3 Abs. 1 AsylG muss die Verfolgung einer asylsuchenden Person „wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen” erfolgt sein beziehungsweise künftig drohen. Nach Art. 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG ist „den frauenspezifischen Fluchtgründen (…) Rechnung zu tragen“. Da sich die Beschwerdeführerin nicht unmittelbar auf eine ethnisch, religiös oder politisch motivierte Verfolgung beruft, sondern sinngemäss geltend macht, aufgrund der Bedeutung des Phänomens der Entführung zwecks Heirat als Frau nicht mit dem Schutz des äthiopischen Staates vor weiteren Übergriffen ihres Entführers und Vergewaltigers rechnen zu können, ist nachfolgend zu klären, ob der ihr drohenden Verfolgung ein flüchtlingsrechtlich relevantes Motiv zugrunde liegt.


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Dabei ist zunächst auf dem Wege der Auslegung zu ermitteln, ob ein nach Art. 3 Abs. 1 AsylG relevantes Motiv grundsätzlich auch dann vorliegen kann, wenn die Verfolgung allein an das Geschlecht anknüpft, und welche Bedeutung in diesem Zusammenhang Art. 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG zukommt.

8.2. Ausgangspunkt jeder Auslegung ist der Wortlaut einer Bestimmung. Ist der Text aber - wie im vorliegenden Fall - nicht ohne weiteres klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente nach seiner wahren Tragweite gesucht werden; dabei kommt es namentlich auf den Zweck der Regelung, die dem Text zu Grunde liegenden Wertungen sowie auf den Sinnzusammenhang an, in dem die Norm steht (BGE 130 II 202, Erw. 5.1., S. 212, m.w.H.). Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis. Im Sinne eines pragmatischen Methodenpluralismus ist es deshalb abzulehnen, einzelne Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen. Es können auch die Gesetzesmaterialien herangezogen werden, wenn sie auf die streitige Frage eine klare Antwort geben und der richterlichen Rechtsanwendung damit dienlich sind (BGE 131 III 33, Erw. 2, S. 35, m.w.H.). Zudem deckt sich die Definition des Flüchtlingsbegriffs gemäss Art. 3 AsylG im Wesentlichen mit der völkerrechtlichen Umschreibung des Flüchtlingsbegriffs in Art. 1 A Ziff. 2 FK; die beiden Flüchtlingsbegriffe stimmen aber auch inhaltlich weitgehend überein, sollen doch Abweichungen im Wortlaut von Art. 3 AsylG nach dem Willen des Gesetzgebers in erster Linie einer sprachlichen Verdeutlichung des konventionsrechtlichen Flüchtlingsbegriffs dienen, wie die ARK zuletzt im bereits erwähnten Grundsatzurteil vom 8. Juni 2006 i.S. A.I.I. bestätigt hat (vgl. EMARK 2006 Nr. 18, Erw. 7; vgl. zur entsprechenden Meinung in der schweizerischen asylrechtlichen Literatur S. Werenfels, Der Begriff des Flüchtlings im schweizerischen Asylrecht, Bern u.a. 1987, S. 60 ff.; W. Kälin, Grundriss des Asylverfahrens, Basel/Frankfurt a.M. 1990, S. 28; A. Achermann/Ch. Hausammann, Handbuch des Asylrechts, 2. Aufl., Bern/Stuttgart 1991, S. 40 und 71 f.; W. Stöckli, in: Handbücher für die Anwaltspraxis, Bd. VIII, Ausländerrecht, Basel u.a. 2002, § 8 Asyl, Rz. 8.14; M. S. Nguyen, Droit public des étrangers, Bern 2003, S. 418; vgl. ausführlicher zur Entstehungsgeschichte von Art. 3 AsylG sogleich hinten, Erw. 8.3.). Vor diesem Hintergrund ist Art. 3 AsylG gestützt auf Art. 5 Abs. 4 BV und Art. 191 BV völkerrechtskonform auszulegen (vgl. auch Art. 27 der Wiener Vertragsrechtskonvention [Wiener Übereinkommen vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge, VRK] sowie allgemein zum Prinzip der völkerrechtskonformen Auslegung von Landesrecht BGE 125 II 417, Erw. 4c, S. 424; U. Häfelin/W. Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Die neue Bundesverfassung, 6. Aufl., Zürich 2005, Rz. 162 ff.; W. Kälin/A. Epiney, Völkerrecht, Eine Einführung, Bern 2003, S. 97 f.), das heisst in erster Linie im Lichte der Ausle-


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gung des konventionsrechtlichen Flüchtlingsbegriffs gemäss Art. 1 A Ziff. 2 FK, wie er auch dem für die Schweiz bindenden flüchtlingsrechtlichen Refoulement-Verbot nach Art. 33 Ziff. 1 FK (vgl. Art. 5 Abs. 1 AsylG) zugrunde liegt. Dem UNHCR kommt bei der Auslegung des konventionsrechtlichen Flüchtlingsbegriffs eine besondere Rolle zu, die darauf beruht, dass diesem in seinem Statut unter anderem die Aufgabe zugewiesen wird, die Anwendung flüchtlingsrechtlich relevanter internationaler Konventionen zu überwachen (vgl. Art. 8 Bst. a des Statuts des UNHCR [im Anhang zur Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen 428 V vom 14. Dezember 1950 publiziert; nachfolgend: UNHCR-Statut]; vgl. daneben auch den letzten Absatz der Präambel der Flüchtlingskonvention, wo diese dem UNHCR zukommende Aufgabe ausdrücklich bekräftigt wird). Die Vertragsstaaten der Flüchtlingskonvention verpflichten sich denn auch gemäss Art. 35 FK, mit dem UNHCR - auch bezüglich dieser Überwachungsaufgabe, die ihm zukommt - zusammenzuarbeiten (vgl. auch Art. II des Zusatzprotokolls von 1967 und für die im schweizerischen Asylgesetz statuierte entsprechende Verpflichtung Art. 113 AsylG). Von besonderer Bedeutung für das Verständnis des konventionsrechtlichen Flüchtlingsbegriffs kann schliesslich unter gewissen Umständen auch die von den Vertragsstaaten geübte Auslegungspraxis sein (vgl. Art. 31 Abs. 3 Bst. b VRK; Kälin/Epiney, a.a.O., S. 37 f.).

8.3. Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte von Art. 3 AsylG ist zwar nicht zu übersehen, dass es Bundesrat und Parlament im Rahmen der Totalrevision von 1998 abgelehnt haben, die Geschlechtszugehörigkeit ausdrücklich als neues, selbständiges Verfolgungsmotiv in der Liste von Art. 3 Abs. 1 AsylG zu erwähnen (vgl. Botschaft vom 4. Dezember 1995 zur Totalrevision des Asylgesetzes, BBl 1996 II S. 40 f. [nachfolgend: Botschaft]; W. Kälin, Die Bedeutung geschlechtsspezifischer Verfolgung im Schweizerischen Asylrecht, in: ASYL 2001/2, S. 7 f.; M. Gattiker, Das Asyl- und Wegweisungsverfahren, Asylgewährung und Wegweisung nach dem Asylgesetz vom 26.6.1998, Bern 1999, S. 66 f.). In der Botschaft des Bundesrats wurde allerdings davon ausgegangen, eine Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Verfolgung käme einer „Ausdehnung“ (bzw. „Ausweitung“) des asylgesetzlichen Flüchtlingsbegriffs und gleichzeitig einer Abweichung von der Flüchtlingsdefinition nach Art. 1 A Ziff. 2 FK gleich (vgl. Botschaft, S. 40). Diese nicht näher begründete Einschätzung erstaunt insofern, als in der Botschaft selbst auch ausgeführt wurde, von der Flüchtlingskonvention würden nach Ansicht des Exekutivkomitees des UNHCR auch „frauenspezifische Verfolgungsgründe“ erfasst (Botschaft, S. 41). Der Botschaft lässt sich aber zumindest die klare Absicht des Bundesrats entnehmen, inhaltliche Abweichungen zwischen dem asylgesetzlichen Flüchtlingsbegriff und der Flüchtlingsdefinition nach Art. 1 A Ziff. 2 FK zu vermeiden, was bereits in der Botschaft vom 31. August 1977 zum Asylgesetz vom 5. Oktober 1979 klar


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zum Ausdruck gebracht worden war (vgl. BBl 1977 III 117, wo unter ausdrücklichem Verweis auf Art. 1 A Ziff. 2 FK festgehalten wurde, dass „diese Verfolgungsmotive […] als Bestandteil des international anerkannten Flüchtlingsbegriffs […] auch mit dem im schweizerischen Recht und der Praxis verwendeten Flüchtlingsbegriff“ übereinstimmen würden). Dieselbe Absicht dürfte vom Parlament verfolgt worden sein, als im Rahmen der parlamentarischen Beratung Art. 3 Abs. 2 AsylG um den Begriff der „frauenspezifischen Fluchtgründe“ ergänzt wurde (vgl. Art. 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG). Es deutet jedenfalls nichts darauf hin, dass mit diesem Zusatz eine inhaltliche Abweichung vom konventionsrechtlichen Flüchtlingsbegriff bezweckt worden wäre. Wie bereits angedeutet (vgl. vorne, Erw. 8.2., mit Hinweis auf EMARK 2006 Nr. 18, Erw. 7), ist vielmehr davon auszugehen, dass sich das Parlament bei der Umschreibung des asylgesetzlichen Flüchtlingsbegriffs ebenfalls an der Flüchtlingsdefinition nach Art. 1 A Ziff. 2 FK ausrichtete, deren Gehalt aber in Art. 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG mit dem Begriff der „frauenspezifischen Fluchtgründe“ sprachlich verdeutlichen wollte. Dafür spricht etwa, dass während der parlamentarischen Debatte betont wurde, dass durch die Ergänzung in Art. 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG dem Flüchtlingsbegriff in Art. 3 Abs. 1 AsylG kein neuer Gehalt gegeben, sondern nur ein ohnehin bereits berücksichtigtes Anliegen „viel prominenter“ als bisher genannt werde (Amtl. Bull. SR 1997, S. 1195). Jedenfalls lässt sich aufgrund der Entstehungsgeschichte von Art. 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG nicht schliessen, dass eine asylsuchende Person die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllt, wenn die Gründe für ihre Verfolgung ausschliesslich frauen- beziehungsweise geschlechtsspezifischer Natur sind.

Zusammenfassend lässt sich aufgrund der Materialien lediglich feststellen, dass der Flüchtlingsbegriff nach Art. 3 AsylG - und damit auch der Zusatz in Art. 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG - nicht zuletzt angesichts der wichtigen Rolle, welche die konventionsrechtliche Flüchtlingsdefinition auch im Rahmen der Gesetzgebungsarbeiten gespielt hat, völkerrechtskonform, das heisst im Lichte von Art. 1 A Ziff. 2 FK anzuwenden ist.

8.4. Unter systematischen Gesichtspunkten könnte Art. 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG als nähere Erläuterung der Verfolgungsformen und der dabei erforderlichen Verfolgungsintensität (d.h. des Begriffs „ernsthafte Nachteile“) verstanden werden. „Frauenspezifischen Fluchtgründen“ wäre also in dem Sinne „Rechnung zu tragen“, dass auch geschlechtsspezifische Verfolgungsformen die erforderliche Intensität aufweisen könnten und als flüchtlingsrechtlich relevant zu erachten wären, soweit auch die übrigen Kriterien der Flüchtlingsdefinition nach Art. 3 Abs. 1 AsylG erfüllt wären. Gegen ein solches enges Verständnis der Tragweite von Art. 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG spricht allerdings bereits dessen Wortlaut, das heisst der Begriff „Fluchtgründe“ („motifs de fuite“ bzw. „motivi


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di fuga“), der inhaltlich nicht so sehr auf bestimmte Formen der Verfolgung verweist, sondern vielmehr in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Verfolgungsgründen steht. Entsprechend ist davon auszugehen, dass Art. 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG eine ausdrückliche Verpflichtung enthält, nicht nur die relevanten Formen von Verfolgung, sondern den Flüchtlingsbegriff als solchen mit besonderer Rücksicht auf alle Implikationen auszulegen, die sich aus der Geschlechterperspektive ergeben (vgl. Kälin, Geschlechtsspezifische Verfolgung, S. 9 f.). Mit anderen Worten also bezieht sich der Auftrag an die Rechtsanwendung, „frauenspezifischen Fluchtgründen Rechnung zu tragen“, auf alle Elemente des Flüchtlingsbegriffs (vgl. Gattiker, a.a.O., S. 67).

8.5. Von zentraler Bedeutung unter den rechtlichen Stellungnahmen des UNHCR ist das im Jahr 1979 ausgearbeitete Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft (Neuauflage 2003; nachfolgend: UNHCR-Handbuch). Darin geht das UNHCR allerdings nicht besonders auf die Problematik geschlechtsspezifischer Verfolgung ein. In seinen „Richtlinien zum internationalen Schutz: Geschlechtsspezifische Verfolgung im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ vom 7. Mai 2002 (HCR/GIP/02/01; nicht-amtliche deutsche Übersetzung [nachfolgend: UNHCR-Richtlinien, Geschlechtsspezifische Verfolgung]) hält das UNHCR fest, es sei ein feststehender Grundsatz, dass bei der Auslegung der Definition des Flüchtlingsbegriffs (Art. 1 A Ziff. 2 FK) in seiner Gesamtheit stets auf eine mögliche geschlechtsbezogene Dimension zu achten sei, um Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft korrekt zu beurteilen. Das Geschlecht - in seiner sozialen Bedeutung (englisch „gender“, im Gegensatz zu „sex“, dem Begriff für das Geschlecht im biologischen Sinne) - sei zwar in der Flüchtlingsdefinition nicht ausdrücklich als Verfolgungsgrund erwähnt, doch habe sich allgemein die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Geschlecht die Art der Verfolgung oder des zugefügten Leids und die Gründe für diese Eingriffe beeinflussen oder bestimmen könne. Insbesondere könne auch eine geschlechtsspezifische Diskriminierung, die darin bestehen würde, dass eine Person wegen ihres Geschlechts nicht vor der Zufügung ernsthafter Nachteile durch Dritte geschützt würde, flüchtlingsrechtliche Relevanz aufweisen, wobei es allerdings im Falle nichtstaatlicher Verfolgung letztlich gleichgültig sei, ob die Verfolgung selbst oder aber nur die Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft des betreffenden Staates, Schutz zu bieten, auf einem Konventionsgrund beruhe. Bei richtiger Auslegung schliesse daher die Flüchtlingsdefinition durchaus mit geschlechtsspezifischer Verfolgung begründete Anträge ein, weshalb auch keine Notwendigkeit bestehe, diese Definition durch einen weiteren Grund zu ergänzen. Es sei wichtig, jeden einzelnen konventionsrechtlichen Verfolgungsgrund geschlechtsgerecht auszulegen, wobei in vielen geschlechtsspezifischen Fällen die befürchtete Verfolgung gleichzeitig


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auf mehreren Gründen beruhen könne. „Allergrösste Bedeutung“ misst das UNHCR allerdings dem Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu, wobei es aufgrund einer allgemeinen Definition dieses Begriffs zum Schluss kommt, das Geschlecht könne „durchaus in die Kategorie der bestimmten sozialen Gruppe fallen“ (vgl. zum Ganzen UNHCR-Richtlinien, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Ziffn. 2, 6, 15, 19, 21-23, 28-31; in gleichem Sinne äussert sich das UNHCR folgerichtig auch in seinen „Richtlinien zum internationalen Schutz: ‚Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe’ im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ vom 7. Mai 2002 [HCR/GIP/02/02; nicht-amtliche deutsche Übersetzung], Ziffn. 12 und 15).

8.6. Verschiedene Vertragsstaaten der FK sind der Interpretation durch das UNHCR gefolgt, wonach das Geschlecht „durchaus in die Kategorie der bestimmten sozialen Gruppe fallen“ könne (vgl. in diesem Sinne den Kommentar des UNHCR zur EU-Qualifikationsrichtlinie, Genf, Mai 2005 [Deutsche Fassung der UNHCR-Vertretung Deutschland, Mai 2005], S. 20). So haben die zuständigen Behörden der betreffenden Staaten etwa auch in Fällen von Zwangsheirat, häuslicher Gewalt, Genitalverstümmelung oder sexuellen Missbrauchs, in denen die Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 1 A Ziff. 2 FK (bzw. gemäss inländischem, im Lichte der Flüchtlingskonvention ausgelegtem Recht) bejaht wurde, das relevante Verfolgungsmotiv regelmässig in der Zugehörigkeit der betroffenen Frau zu einer bestimmten sozialen Gruppe erblickt (vgl. beispielsweise für Deutschland: VG Stuttgart, Urteile vom 23. Januar 2006, Nr. A 11 K 13008/04, und vom 10. Juni 2005, Nr. A 10 K 13121/03; VGH Hessen, Urteil vom 23. März 2005, Nr. 3 UE 3457/04.A; für Frankreich: Commission des Recours des Réfugiés en France [CRR], Urteil vom 16. Juni 2005, Nr. 492440; CRR, Urteil vom 22. Februar 2005, Nr. 456133; für Grossbritannien: Urteil des House of Lords i.S. Islam v. Secretary of State for the Home Department / Regina v. Immigration Appeal Tribunal and Another Ex Parte Shah vom 25. März 1999; Urteil des Lord Chief Justice [Court of Appeal] i.S. “P” and “M” v. Secretary of State for the Home Department [Nr. 2004/0059 und 2004/0969] vom 8. Dezember 2004; für Belgien: Commission Permanente de Recours des Réfugiés [CPRR], Urteil vom 22. März 2002, Nr. 01-0089/F1374; CPRR, Urteil vom 8. März 2002, Nr. 01-0668/F1356; für Kanada: Commission de l'Immigration et du Statut de Réfugié du Canada [CISRC], Urteil vom 12. Juni 2003, Nr. MA2-10373; CISRC, Urteil vom 18. Dezember 2001, Nr. MA1-00356; CISRC, Urteil vom 21. November 1996, Nr. V95-00374; für Australien: Refugee Review Tribunal, Urteil vom 27. Juni 2000, Nr. V98/09568).


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8.7.

8.7.1. In der bisherigen schweizerischen Asylpraxis ist darauf verzichtet worden, die asylgesetzlichen beziehungsweise konventionsrechtlichen Verfolgungsmotive näher zu definieren. Davon kann auch an dieser Stelle weiterhin abgesehen werden. Die Erfüllung der Flüchtlingseigenschaft kann nämlich bei einem zeitgemässen Verständnis des Flüchtlingsbegriffs nicht von einer bestimmten Definition eines Verfolgungsmotivs abhängig sein, bestimmt doch letztlich der Verfolger allein, wen er weshalb verfolgt, und damit auch, ob und wie er von ihm verfolgte „Rassen“ oder „soziale Gruppen“ etc. definiert (vgl. Stöckli, a.a.O., Rz. 8.12.). Zudem ist gerade in Fällen häuslicher und ähnlicher Gewalt in der Privatsphäre oft unklar, aus welchem Grund ein Staat keinen wirksamen Schutz gewährt beziehungsweise gewähren kann (vgl. Kälin, Geschlechtsspezifische Verfolgung, S. 12). Ausschlaggebend muss deshalb sein, ob die Verfolgung wegen äusserer oder innerer Merkmale erfolgt ist beziehungsweise künftig droht, die untrennbar mit der Person oder Persönlichkeit des Opfers verbunden sind, wie sie etwa den Merkmalslisten in verfassungsrechtlichen und internationalen Diskriminierungsverboten (vgl. etwa Art. 8 Abs. 2 BV, Art. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie Art. 2 Abs. 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte) entnommen werden können. Der Aspekt der Diskriminierung ist im Verfolgungskonzept, das der Flüchtlingskonvention und dem Asylgesetz zugrunde liegt, mit enthalten; der Unterschied zwischen Diskriminierung und flüchtlingsrechtlicher Verfolgung liegt vorab in der Intensität des Eingriffs (vgl. Kälin, Geschlechtsspezifische Verfolgung, S. 14 f., unter Hinweis auf das in Erw. 8.6. bereits zitierte Urteil des britischen House of Lords vom 25. März 1999; Stöckli, a.a.O., Rz. 8.12 und Fn 16; A. Binder, Frauenspezifische Verfolgung vor dem Hintergrund einer menschenrechtlichen Auslegung des Flüchtlingsbegriffs der Genfer Flüchtlingskonvention unter besonderer Berücksichtigung der schweizerischen, deutschen, kanadischen und amerikanischen Flüchtlings- und Asylpraxis, Basel u.a. 2001, S. 483, die in diesem Zusammenhang ausdrücklich von „antidiskriminatorischer Zielsetzung der Konvention“ spricht). Verfolgung im Sinne des Asylgesetzes und der Flüchtlingskonvention erfolgt immer wegen des Seins, nicht wegen des Tuns; zwar kann der Verfolger gleichfalls oder sogar vordergründig hauptsächlich auf Handlungsweisen einer Person abzielen; bedeutsam für die Flüchtlingseigenschaft wird der Eingriff des Verfolgers aber nur, wenn dieser die hinter einer Handlungsweise steckende Eigenart und Gesinnung der entsprechenden Person treffen will (vgl. Stöckli, a.a.O., Rz. 8.12).

8.7.2. Daher braucht nach Ansicht der ARK im Zusammenhang mit einer Verfolgung wegen des Geschlechts auch die in der Asylpraxis anderer Staaten beziehungsweise in der flüchtlingsrechtlichen Lehre oft diskutierte Frage, ob


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Frauen eine bestimmte soziale Gruppe bilden, nicht näher geprüft zu werden (vgl. für die entsprechende Praxis anderer Vertragsstaaten der FK bereits vorne, Erw. 8.6.; für die Auseinandersetzung mit dieser Frage in der Asylrechtsliteratur Kälin, Geschlechtsspezifische Verfolgung, S. 12 ff. und insbes. 15 f., der sich dafür ausspricht, „das Geschlecht unter den Begriff der ‚sozialen Gruppe’ zu subsumieren“, wobei allerdings nicht gefragt werden sollte, „ob Frauen theoretisch eine soziale Gruppe bilden“ könnten oder nicht, sondern zu untersuchen sei, „ob in einer vorgegebenen Situation Frauen […] vom Staat und der Gesellschaft als solche behandelt“ würden; ähnlich bereits Kälin, Grundriss, S. 96 f.; G.S. Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, 2. Aufl., Oxford 1996, 362 ff.; Binder, a.a.O., S. 210 ff. und 438 ff.; vgl. im Übrigen für die diesbezügliche Position des UNHCR bereits vorne, Erw. 8.5.). Zielt nämlich der Verfolger mit gewissen Massnahmen darauf ab, das weibliche Geschlecht zu unterdrücken, ist das für die Entstehung der Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 3 Abs. 1 AsylG beziehungsweise Art. 1 A Ziff. 2 FK relevante Verfolgungsmotiv gegeben (vgl. wiederum Stöckli, a.a.O., Rz. 8.12; vgl. überdies - ebenfalls mit Hinweis auf Stöckli - bereits EMARK 2003 Nr. 2, Erw. 5b/cc, S. 18, wo allerdings die Frage der Relevanz einer Verfolgung, die in der Unterdrückung des weiblichen Geschlechts begründet liegt, offen gelassen wurde). Mit anderen Worten kann in einer Verfolgung einer Frau wegen ihres Geschlechts grundsätzlich ein flüchtlingsrechtlich relevantes Verfolgungsmotiv erblickt werden, unabhängig davon, ob und inwieweit diese Frau zusammen mit anderen eine bestimmte soziale Gruppe gemäss Art. 3 Abs. 1 AsylG beziehungsweise Art. 1 A Ziff. 2 FK bildet.

8.7.3. „Frauenspezifischen Fluchtgründen“ ist in diesem Sinne auch mit Blick auf das Motiv der Verfolgung „Rechnung zu tragen“. In derselben Weise nämlich, wie in Art. 3 Abs. 2 erster Satz AsylG unmittelbar Bezug auf Art. 3 Abs. 1 AsylG genommen wird, indem die bereits dort erwähnten „ernsthaften Nachteile“ näher umschrieben werden, ist auch in Art. 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG ein Verweis auf Art. 3 Abs. 1 AsylG enthalten. Dieser Verweis bezieht sich aber - wie bereits dargelegt - angesichts seiner offenen Formulierung nicht nur auf ein bestimmtes, sondern vielmehr auf sämtliche Elemente des Flüchtlingsbegriffs (vgl. vorne, Erw. 8.4.) und damit auch auf das Verfolgungsmotiv. Nicht zuletzt aus diesem Grund hält es die ARK für entbehrlich, der Frage nachzugehen, ob und unter welchen Voraussetzungen Frauen, die wegen ihres Geschlechts verfolgt werden, unter den Begriff der „bestimmten sozialen Gruppe“ gemäss Art. 3 Abs. 1 AsylG fallen. Denn unabhängig von der Beantwortung dieser Frage ist Verfolgung aufgrund des Geschlechts - in seiner sozialen Bedeutung („gender“) - bei der Auslegung von Art. 3 Abs. 1 AsylG mit zu berücksichtigen, was gerade auch durch Art. 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG zum Ausdruck gebracht werden soll. Zu betonen ist allerdings, dass dies nicht heisst, dass


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die Liste der in Art. 3 Abs. 1 AsylG aufgezählten Verfolgungsgründe um ein neues, selbständiges Motiv erweitert würde. Vielmehr wird aus der Aufzählung der einzelnen Verfolgungsgründe der allgemeine Schluss gezogen, dass ein flüchtlingsrechtlich relevantes Verfolgungsmotiv stets daran zu erkennen ist, dass eine Verfolgung in diskriminierender Weise an persönliche Merkmale der verfolgten Person anknüpft, zu welchen auch das Geschlecht zählt. Diese Auslegung orientiert sich an Sinn und Zweck von Art. 3 AsylG und dabei in besonderem Masse an der antidiskriminatorischen Zielsetzung der Flüchtlingskonvention, berücksichtigt die Weiterentwicklung des Völkerrechts auf dem Gebiet der frauenspezifischen Menschenrechte (vgl. etwa die im Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau gewährleisteten Rechte) und entspricht damit einem zeitgemässen, völkerrechtskonformen Verständnis des Flüchtlingsbegriffs. Die Lehre spricht sich denn auch seit längerer Zeit für eine bessere Harmonisierung von Menschen- und Flüchtlingsrechten beziehungsweise für eine Berücksichtigung der Entwicklungen der Menschenrechte bei der Anwendung flüchtlingsrechtlicher Instrumente aus (vgl. EMARK 2006 Nr. 18, Erw. 7.5.4. a.E., mit Hinweis auf W. Kälin, Das menschenrechtliche Verbot der Rückschiebung, in: ASYL 1997/1, S. 3 ff., insbes. S. 8). Im Übrigen bedeutet eine geschlechtsgerechte Auslegung von Art. 3 AsylG keineswegs, dass alle Frauen automatisch als Flüchtlinge gelten würden. Jede asylsuchende Frau hat nämlich im Einzelfall glaubhaft zu machen, dass sie begründete Furcht vor Verfolgung hat (vgl. Art. 7 Abs. 1 AsylG und für eine entsprechende Präzisierung mit Bezug auf die Flüchtlingskonvention UNHCR-Richtlinien, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Ziff. 4); sind ihre Vorbringen als glaubhaft zu erachten, setzt eine behördliche Feststellung der Flüchtlingseigenschaft voraus, dass neben einem flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmotiv auch die übrigen Kriterien von Art. 3 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Dabei ist gerade mit Blick auf das Erfordernis einer bestimmten Intensität erlittener Nachteile zu beachten, dass geschlechtsspezifische Diskriminierungen für sich allein in der Regel keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung darstellen (vgl. EMARK 1996 Nrn. 29 und 30 [Diskriminierung wegen Homosexualität] und zur entsprechenden Auslegung der Flüchtlingskonvention UNHCR-Richtlinien, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Ziffn. 14 f., sowie in allgemeinerem Sinne, das heisst ohne Bezug auf die Problematik geschlechtsspezifischer Verfolgung, auch UNHCR-Handbuch Ziff. 54 f.).

8.8.

8.8.1. Die ARK kommt im Falle der Beschwerdeführerin zum Schluss, dass das Ausbleiben adäquaten staatlichen Schutzes vor ihrem Verfolger in einer Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts begründet liegt. Selbst wenn nämlich in erster Linie von einer auf strukturellen Mängeln beruhenden Unfähigkeit des äthiopischen Staates ausgegangen wird, das kulturelle und soziale Phänomen der


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Entführung zwecks Heirat aktiver zu bekämpfen, ist aufgrund der bereits erwähnten Länderberichte offensichtlich, dass weibliche Opfer von Entführung zwecks Heirat beziehungsweise von Vergewaltigung nicht denselben staatlichen Schutz erhalten, mit dem im Allgemeinen männliche Opfer privater Gewalt rechnen können. Darin ist nach dem Gesagten - unabhängig von der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die betroffenen Frauen und damit auch die Beschwerdeführerin eine „bestimmte soziale Gruppe“ gemäss Art. 3 Abs. 1 AsylG bilden - ein flüchtlingsrechtlich erhebliches Verfolgungsmotiv zu erblicken.

8.8.2. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass sich zumindest mit Blick auf die der Beschwerdeführerin künftig drohende Verfolgung zudem sagen lässt, dass weitere Übergriffe beziehungsweise das Ausbleiben wirksamen staatlichen Schutzes, unter anderem auch dadurch motiviert sein könnten, dass sie gegen gängige, von der äthiopischen Tradition diktierte Regeln verstossen hat beziehungsweise erneut verstossen würde, die einer Frau vorschreiben, Entführung und Vergewaltigung zwecks Heirat widerstandslos zu erdulden. Die Beschwerdeführerin hat diese Form von Frauendiskriminierung und das damit verbundene geschlechtsspezifische Rollenverständnis abgelehnt, was sie spätestens durch ihre Flucht aus Äthiopien zu erkennen gegeben hat. In dieser Ablehnung und dem aus ihr folgenden Verstoss gegen kulturelle Wertvorstellungen und soziale Normen Äthiopiens könnte durchaus auch ein „geschlechtsspezifischer Ausdruck politischer (…) Anschauungen“ erblickt werden (Kälin, Geschlechtsspezifische Verfolgung, S. 11; vgl. in ähnlichem Sinne auch Binder, a.a.O., S. 468 f., und insbes. 487 ff.; T. Spijkerboer, Gender and Refugee Status, Aldershot 2000, S. 115 f.; A. Edwards, Age and Gender Dimensions in International Refugee Law, in: Feller/Türk/Nicholson [Hrsg.], Refugee Protection in International Law, UNHCR's Global Consultations on International Protection, Cambridge, 2003, S. 68 f.; UNHCR-Richtlinien, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Ziff. 32). Auf diesen politischen Aspekt braucht jedoch vorliegend nicht weiter eingegangen zu werden, nachdem sich ergeben hat, dass die Verfolgung, die der Beschwerdeführerin in Äthiopien auch künftig drohen würde, bereits deshalb auf einem flüchtlingsrelevanten Motiv beruhen würde, weil sie wegen ihres Geschlechts, das heisst aufgrund einer frauenspezifischen Diskriminierung durch die äthiopischen Behörden, keinen adäquaten Schutz vor einer weiteren schweren Gefährdung ihrer physischen und psychischen Integrität durch ihren Entführer und Vergewaltiger erhielte.

 

 

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© 29.12.06