EMARK - JICRA - GICRA
2004 / 3
Art. 3 AsylG: Asylrelevanz von Übergriffen der Hizbollah in der Türkei.
1. Die türkische Hizbollah bildete offensichtlich zu keinem Zeitpunkt eine quasi-staatliche Gruppierung im Sinne der Rechtsprechung (Erw. 4c).
2. Seit dem repressiven Vorgehen des türkischen Staats gegen die Hizbollah im Jahr 2000 gilt diese als praktisch zerschlagen. Die Frage einer mittelbaren staatlichen Verfolgung wird offen gelassen, wiewohl Indizien auf eine Mitverantwortung des türkischen Staates für die von der Hizbollah in den neunziger Jahren in der Osttürkei verübten Verbrechen hinweisen (Erw. 4d und e).
Art. 3 LAsi : pertinence, en matière d’asile, d’abus de pouvoir du Hezbollah en Turquie.
1. Le Hezbollah n’a à aucun moment exercé un pouvoir quasi étatique, au sens de la jurisprudence (consid. 4c).
2. Depuis la répression engagée, en 2000, par l’Etat turc contre le Hezbollah, le mouvement est considéré comme pratiquement détruit. La question de l’existence d’une éventuelle persécution étatique indirecte peut demeurer indécise, bien qu’il existe de sérieux indices d’une coresponsabilité de l’Etat turc dans les crimes perpétrés par le Hezbollah dans l’est de la Turquie, durant les années nonante (consid. 4d et e).
Art. 3 LAsi: rilevanza in materia d'asilo di soprusi/minacce da parte di Hezbollah turchi.
1. Il movimento Hezbollah non ha mai esercitato una potestà di natura quasi-statale (consid. 4c).
2. Il quesito dell’esistenza di una persecuzione statale indiretta - nel senso dell’incitazione, del sostegno o della tolleranza dei crimini commessi dagli Hezbollah contro i curdi politicamente attivi nell'est della Turchia durante gli anni novanta - può essere lasciato indeciso. Infatti, a partire
dalla repressione promossa nel 2000 dallo Stato turco contro il movimento degli Hezbollah, quest’ultimo è considerato smantellato. (consid. 4d-e).
Der Beschwerdeführer, ein ursprünglich aus der Region Erzincan stammender Kurde, lebte mit seiner Familie seit ungefähr 1985 in Istanbul. Mitte Februar 2001 verliess er seinen Heimatstaat und stellte am 26. Februar 2001 in der Schweiz ein Asylgesuch. Dabei machte er im Wesentlichen geltend, er sei seit dem Jahr 1996 von der Hizbollah erpresst worden. Nachdem er sich geweigert habe, die Organisation zu unterstützen, sei ihm mit Konsequenzen gedroht worden. Darauf habe er sich sofort zur Polizei begeben, um Anzeige zu erstatten; indessen habe er es sich noch im Polizeigebäude anders überlegt und die Anzeige schliesslich unterlassen. Nach einiger Zeit sei er verschleppt und während insgesamt fünf Tagen unter Folterungen und Drohungen festgehalten worden, bis er die Forderungen seiner Entführer, ihnen Geld zu geben und nicht zur Polizei zu gehen, akzeptiert habe. Nach diesem Erlebnis sei er nicht mehr zur Arbeit gegangen, und im Jahr 1997 habe er deshalb sein Textilunternehmen verkaufen müssen. Gleichwohl hätten ihn Angehörige der Hizbollah weiterhin erpresst, und aus Angst, erneut entführt zu werden, habe er sich in der Folge praktisch nicht mehr aus dem Haus begeben. Nachdem er eines Tages erfahren habe, dass er sich auf der Todesliste der Hizbollah befinde, habe er sich schliesslich zur Flucht entschlossen.
Mit Verfügung vom 11. Juli 2003 lehnte das BFF das Asylgesuch des Beschwerdeführers ab, ordnete dessen Wegweisung aus der Schweiz an und erachtete den Vollzug als zulässig, zumutbar und möglich. Zur Begründung im Asylpunkt führte die Vorinstanz aus, die geltend gemachten Probleme mit der Hizbollah seien für die Frage der Asylgewährung offensichtlich nicht relevant, indem sie keine staatliche Verfolgung, sondern Übergriffe durch Dritte darstellten. Dabei lägen auch keine Verletzung der Schutzpflicht oder mangelnde Schutzfähigkeit seitens des Heimatstaats des Beschwerdeführers vor. Letzterer habe nämlich die Übergriffe durch die Hizbollah den Behörden nicht gemeldet, so dass die Gewährung von Schutz gar nicht möglich gewesen sei. Die Vorbringen des Beschwerdeführers hielten somit nach Ansicht der Vorinstanz den Anforderungen an die Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 3 AsylG nicht stand.
Mit Eingabe vom 13. August 2003 beantragte der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsvertreter die Aufhebung der angefochtenen Verfügung und die Gutheissung seines Asylgesuchs. Eventualiter sei die Sache zur eingehenden Abklä-
rung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Allenfalls sei subeventualiter auf die Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs zu erkennen und der Beschwerdeführer vorläufig aufzunehmen.
In seiner Vernehmlassung vom 22. September 2003 beantragte das BFF die Abweisung der Beschwerde, während der Beschwerdeführer mit Replik vom 27. Oktober 2003 an seinen Rechtsbegehren festhielt.
Die ARK weist die Beschwerde ab.
4. a) Die Vorinstanz stützt ihre Ablehnung des Asylgesuchs auf die Einschätzung, die Probleme des Beschwerdeführers mit der Hizbollah seien für die Frage der Asylgewährung offensichtlich nicht relevant im Sinne des Art. 3 AsylG, indem keine staatliche Verfolgung, sondern Übergriffe durch Dritte geltend gemacht würden. Indem der Beschwerdeführer die betreffenden Übergriffe nicht den Behörden seines Heimatstaats gemeldet habe, könne auch nicht von einer Verletzung der Schutzpflicht oder einer mangelnden Schutzfähigkeit seitens der Türkei die Rede sein.
b) Diesbezüglich macht der Beschwerdeführer in der Beschwerdeschrift geltend, die türkische Hizbollah habe in den neunziger Jahren unter dem Deckmantel von Armee, Gendarmerie und Polizei operiert und dabei Tausende von Morden insbesondere an Kurden verübt. Nach der Schwächung des kurdischen Widerstands und damit dem Verschwinden ihres primären Feindbilds habe sich die Hizbollah Ende der neunziger Jahre in Istanbul und anderen Städten der Türkei zunehmend der Erpressung von Geschäftsleuten zugewandt. Dies habe den türkischen Staatsapparat zu einer grossangelegten Offensive der Sicherheitskräfte gegen die Hizbollah gezwungen. In deren Verlauf habe sich herausgestellt, dass die Sicherheitskräfte durch mafiose Strukturen der Hizbollah unterwandert gewesen seien und deren Aktivitäten zumindest passiv teilweise geduldet hätten. In diesem Zusammenhang sei eine grössere Zahl von Staatsbeamten wegen deren Zusammenarbeit mit der Hizbollah entlassen beziehungsweise verhaftet worden. Unter diesen Voraussetzungen aber sei es dem Beschwerdeführer nicht vorzuwerfen, dass er die Übergriffe durch die Hizbollah nicht den Behörden gemeldet habe, hätte er doch damit sein Leben aufs Spiel gesetzt.
c) In Bezug auf die Beurteilung des BFF, die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Nachstellungen durch die Hizbollah stellten keine staatliche Verfolgung dar (wie in der schweizerischen Asylrechtspraxis für die Anerkennung der
Flüchtlingseigenschaft unter anderem vorausgesetzt, vgl. EMARK 2000 Nr. 15, S. 115 f., m.w.N.), ist zunächst im Sinne einer Ergänzung festzuhalten, dass die Hizbollah offensichtlich keine Gruppierung bildet, welcher quasi-staatlicher Charakter zukäme (zu den entsprechenden Kriterien EMARK 1995 Nr. 2, S. 22 f.). Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass - wie in der Beschwerdeschrift unter Hinweis auf entsprechende Berichte angesprochen - die Unterwanderung der türkischen Sicherheitskräfte durch die Hizbollah gemäss vereinzelten Kommentatoren zeitweise Ansätze zur Bildung eines eigentlichen "Staats im Staat" gezeigt haben soll.
d) Demgegenüber kann sich die Frage stellen, ob angesichts einer Unterwanderung türkischer Behörden durch Angehörige der Hizbollah allenfalls die Schutzwilligkeit des türkischen Staates in einem Ausmass in Zweifel zu ziehen sei, dass letztlich eine mittelbare staatliche Verfolgung anzunehmen wäre (vgl. allgemein zur Konstellation mittelbarer staatlicher Verfolgung mangels staatlicher Schutzwilligkeit EMARK 1996 Nr. 16, Erw. 4c, S. 146 f. ; 2002 Nr. 16, Erw. 5c.bb, S. 132 f.). Dabei ist grundsätzlich nicht auszuschliessen, dass die türkischen Behörden die von der Hizbollah in den neunziger Jahren verübten Verbrechen gegen politisch engagierte Kurden in einer Weise angeregt, gebilligt, unterstützt oder tatenlos hingenommen haben, dass gemäss der erwähnten Rechtsprechung der ARK von einer Mitverantwortung des türkischen Staats im Sinne mittelbarer staatlicher Verfolgung zu sprechen wäre. Indizien auf eine derartige Verwicklung zwischen dem türkischen Staat und der Hizbollah finden sich in einschlägigen Berichten zur Menschenrechtslage jedenfalls für jene Gebiete in der Osttürkei, in welchen in den neunziger Jahren die PKK besonders aktiv war (vgl. etwa U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 1999, Turkey; Washington Institute for Near East Policy, Policywatch No 439: Implications of Turkey’s Anti-Hizbullah Operation, Washington 2000). Vor diesem Hintergrund ist den Vorbringen in der Beschwerdeschrift insofern zuzustimmen, als bei geltend gemachter Bedrohung durch die türkische Hizbollah nicht von vornherein auszuschliessen ist, dass im Einzelfall unter bestimmten Voraussetzungen eine Mitverantwortung des türkischen Staats im Sinne mittelbarer staatlicher Verfolgung zu bejahen ist. Immerhin ist aber auch zu erwähnen, dass der türkische Staat seit dem Jahr 2000 in teilweise rigoroser Art gegen die Hizbollah vorgegangen ist (U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2000, Turkey; Amnesty International Report 2001, Turkey), und im Jahr 2001 schliesslich keine Berichte über Entführungen und Morde durch die Hizbollah mehr zu verzeichnen waren (U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2001, Turkey; vgl. auch Denise Graf, Türkei - Zur aktuellen Situation: Juni 2003, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Info-Börse Sept. 2003).
e) Es erweist sich allerdings nach Einschätzung der ARK, dass die grundsätzlich denkbare Konstellation einer asylrelevanten Verfolgung im Zusammenhang mit Aktivitäten der Hizbollah im vorliegenden Fall nicht zutrifft. Eine solche Sachlage wäre dann anzunehmen, wenn der Beschwerdeführer eine begründete Furcht davor geltend machen könnte, bei einer Anzeige der Nachstellungen durch die Hizbollah bei der Polizei hätten ihm die staatlichen Behörden den (tatsächlich erforderlichen) Schutz verwehrt. Indessen hat der Beschwerdeführer, wie von der Vorinstanz zutreffenderweise festgestellt, die behaupteten Übergriffe den Behörden nicht gemeldet. Dabei ist der in der Beschwerdeschrift vorgebrachte Einwand, angesichts der befürchteten Verbindung zwischen den türkischen Sicherheitsbehörden und der Hizbollah sei es dem Beschwerdeführer nicht vorzuwerfen, dass er die Übergriffe durch die Hizbollah nicht den Behörden meldete, aus verschiedenen Gründen nicht stichhaltig: Zunächst bezieht sich der in den einschlägigen Berichten zur Menschenrechtslage in der Türkei erhobene Vorwurf der behördlichen Duldung und sogar Unterstützung der Hizbollah auf deren Aktivitäten gegen den kurdischen Widerstand in der Osttürkei, während vom Beschwerdeführer - wenngleich selbst kurdischer Abstammung - eine Verwicklung in den politischen Widerstand der Kurden nie geltend gemacht wurde. Aus den Akten ergeben sich auch keinerlei konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer hätte befürchten müssen, durch eine Anzeige der behaupteten Nachstellungen setze er sich einer Gefahr aufgrund einer allfälligen Verbindung zwischen den Behörden und der Hizbollah aus. Die nicht zu bestreitende Tatsache alleine, dass sich Mitglieder der Hizbollah im türkischen Staatsdienst befanden, vermag kein ausreichendes Indiz dafür zu bilden, eine derartige Verwicklung treffe gerade für jene Mitglieder der Staatsorgane bzw. Polizeibeamten zu, an welche sich der Beschwerdeführer hätte wenden können. Ungeachtet der Ausführungen in der Beschwerdeschrift wurden vom Beschwerdeführer im massgeblichen Zeitraum offenbar auch nie ernstlich derartige Befürchtungen gehegt: Aus dem Protokoll der kantonalen Befragung des Beschwerdeführers ergibt sich nämlich gerade nicht, dass dieser aus Furcht vor einer Verwicklung der Polizei mit der Hizbollah von einer Anzeige absah. Sondern auf die Frage, warum er seine Probleme mit der Hizbollah letztlich doch nicht gemeldet habe, nachdem er sich bereits ins Polizeigebäude begeben hatte, antwortete der Beschwerdeführer, er habe sich gedacht, er könne seine Erpresser auf frischer Tat erwischen lassen, wenn er die Polizei beim nächsten Kommen der Hizbollah-Angehörigen benachrichtige. Auf die Nachfrage, was sonst alles dagegen gesprochen habe, die Probleme mit der Organisation bei der Polizei anzuzeigen, wiederholte er diese Aussage. Auf die Frage schliesslich, ob die Hizbollah derart mächtig sei, dass die Polizei nichts gegen jene unternehmen könne, antwortete der Beschwerdeführer, ihm sei unbekannt, inwiefern die Polizei etwas gegen die Organisation unternehmen könne oder nicht. Dabei ergibt sich aus den Aussagen des Beschwerdeführers auf entsprechende Fragen hin auch,
dass dieser über die Tätigkeit der Hizbollah (zum Zeitpunkt der Befragung) keinerlei Kenntnisse besass, die über die in türkischen Medien verbreitete allgemeine Tatsache hinausgegangen wären, dass die Hizbollah Menschen - Zivilisten wie auch Polizisten - umgebracht hatte. Mit anderen Worten ging der Beschwerdeführer weder davon aus, in Bezug auf die Machenschaften der Hizbollah fehle es dem türkischen Staat (bzw. den lokalen Behörden) an der Schutzwilligkeit, noch besass er irgendwelche Kenntnisse, die ihn zu einer solchen Vermutung überhaupt hätten bringen können.
f) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte vorliegen, welche zur Annahme einer - grundsätzlich bei entsprechender Konstellation nicht von vornherein auszuschliessenden - Mitverantwortung des türkischen Staats im Sinne einer mittelbaren staatlichen Verfolgung im Zusammenhang mit den vom Beschwerdeführer geltend gemachten Problemen mit der Hizbollah führen würden. Vielmehr hat der Beschwerdeführer selbst gar nie an eine derartige Gefährdung gedacht, sondern, wie sich aus seinen Aussagen im Rahmen der kantonalen Befragung ergibt, durchaus darauf vertraut, die Polizei werde ihm bei späterer Gelegenheit helfen können. Zudem liegen aufgrund der Akten auch sonst keine konkreten Hinweise darauf vor, für den Beschwerdeführer habe die tatsächliche Gefahr einer mittelbaren Verfolgung aus einer Verwicklung des türkischen Staats mit der Hizbollah bestanden. Dem in der Beschwerdeschrift gestellten Begehren, die Sache sei eventuell zur näheren Abklärung des Sachverhalts an die Vorinstanz zurückzuweisen, ist nach dem Gesagten keine Folge zu leisten. Die Vorinstanz ist vielmehr im Ergebnis zu Recht zur Beurteilung gelangt, die Vorbringen des Beschwerdeführers seien nicht asylrelevant und dieser erfülle somit die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Art. 3 AsylG nicht.
© 27.04.04