indexEMARK - JICRA - GICRA  2004 / 8
  


next2004 / 8 - 054

Auszug aus dem Urteil der ARK vom 16. Januar 2004 i.S. K.A., Türkei

Art. 14a Abs. 4 ANAG: Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs.

Neubeurteilung der Situation in den südöstlichen Provinzen der Türkei. Der Vollzug von Wegweisungen abgewiesener Asylsuchender in gewisse Provinzen der Türkei (vgl. EMARK 2000 Nr. 13 mit Hinweisen auf frühere Lagebeurteilungen) ist nicht mehr als generell unzumutbar zu qualifizieren.
 

Art. 14a al. 4 LSEE : exigibilité de l’exécution du renvoi.

Nouvelle évaluation de la situation dans les provinces du sud-est de la Turquie. L’exécution du renvoi dans certaines provinces de Turquie (cf. JICRA 2000 n° 13 fondée sur une précédente analyse de la situation) des demandeurs d’asile déboutés n’est plus considérée comme généralement inexigible.
 

Art. 14a cpv. 4 LDDS: esigibilità dell'esecuzione dell'allontanamento.

Nuova valutazione della situazione esistente nelle province del sud-est della Turchia. L'esecuzione dell'allontanamento in certe province – v. GICRA 2000 n. 13 basata su una precedente valutazione - non è più considerata siccome generalmente inesigibile.
 

Aus den Erwägungen:

5. […]

e) […]

aa) Der Beschwerdeführer stammt aus der Provinz Bingöl, einer der kurdischen Provinzen im Südosten der Türkei, über die am 19. Juli 1987 seitens der türkischen Regierung der Ausnahmezustand verhängt wurde. Ausgelöst durch den am 15. August 1984 begonnenen bewaffneten Kampf der kurdischen Arbeiterpartei PKK (Partiya Karkeren Kürdistan) für die Errichtung eines "unabhängigen Kurdistan" in der Grenzregion zu Iran und Irak, forderte der Bürgerkrieg


nextprevioustop  2004 / 8 - 055

nach offiziellen Angaben mehr als 30'000 Menschenleben; die Lage in den türkischen Ostprovinzen war gekennzeichnet von einer Situation allgemeiner Gewalt, einer vollständigen Militarisierung der Region, massiven militärischen Auseinandersetzungen und gravierenden Übergriffen der Kampfparteien auf die Zivilbevölkerung. Bis Ende der 90er-Jahre wurden mehr als 3'000 Dörfer und Weiler zerstört; rund drei Millionen Menschen sollen aus ihrer engeren Heimatregion geflohen oder von dort vertrieben worden sein. Erst nach der Festnahme des PKK-Führers Abdullah Öcalan im Jahre 1999 und dem mit der Verkündung eines "einseitigen Waffenstillstandes" einhergehenden Abzug der PKK-Truppen in den Nordirak hob die türkische Regierung den Ausnahmezustand in den Ostprovinzen sukzessiv auf, zuletzt am 30. November 2002 bezüglich der Provinzen Diyarbakir und Sirnak.

Die Bürgerkriegssituation in den kurdischen Regionen veranlasste die ARK zu einer kontinuierlichen und umfassenden Lagebeurteilung im Hinblick auf die Beurteilung der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs in dieses Gebiet, wobei die ARK von einer generellen Unzumutbarkeit des Vollzugs in die eigentlichen Ausnahmezustandsprovinzen ausging. Darüber hinaus definierte die ARK in den angrenzenden Gebieten zusätzlich so genannte Quasi-Ausnahmezustandsprovinzen, in denen nach ihrer Einschätzung die Sicherheitslage aufgrund gewalttätiger Auseinandersetzungen als so prekär eingestuft werden musste, dass ein Wegweisungsvollzug dorthin ebenfalls als generell unzumutbar zu qualifizieren war (vgl. die publizierte Darstellung der Ergebnisse der letzten umfassenden Lagebeurteilungen in: EMARK 2000 Nr. 13, S. 99 ff.; 1999 Nr. 9, S. 57 ff.; 1998 Nr. 2, S. 16 ff.; 1997 Nr. 2, S. 14 ff.).

bb) Im Rahmen einer im Jahre 2003 vorgenommenen Aktualisierung ihrer Analyse der Sicherheitslage im Südosten der Türkei hat die ARK Folgendes festgestellt:

Die PKK und ihre im April 2002 gegründete Nachfolgeorganisation KADEK (Kongress für Frieden und Demokratie in Kurdistan; Kongreya Azadi u Demokrasiya Kurdista) halten sich weitgehend an den im August 1999 verkündeten "einseitigen Waffenstillstand"; einige tausend PKK-Kämpfer sollen sich im Nordirak und im iranischen Grenzgebiet aufhalten. Nach der Beendigung der militärischen Auseinandersetzung der PKK mit der türkischen Armee und der Aufhebung des Ausnahmezustandes beschränkt sich die KADEK eigenen Angaben zufolge auf die friedliche Durchsetzung der Rechte der Kurden. Die militärische Präsenz in den kurdischen Provinzen ist auch nach der Aufhebung der letzten beiden Notstandsgebiete am 30. November 2002 weiterhin hoch; die türkische Regierung sieht sich mit dem Problem der gesellschaftlichen Wiedereingliederung der von ihr während des bewaffneten Kampfes gegen die PKK - vor-


nextprevioustop  2004 / 8 - 056

nehmlich aus regierungstreuen Kurden - rekrutierten so genannten Dorfschützern (Köy Korucusu) konfrontiert, von denen immer noch Zehntausende im Amt sein sollen. Obwohl bewaffnete Auseinandersetzungen in den ehemals betroffenen Regionen nach wie vor zu verzeichnen sind, ist insgesamt festzustellen, dass es sich hierbei um vereinzelte Vorkommnisse handelt und die gewaltsamen Ereignisse militärischen Charakters in den letzten Jahren kontinuierlich abgenommen haben; letztere Feststellung wird von nationalen und internationalen Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen bestätigt, welche indessen auch auf die in der Türkei - nicht nur im Osten des Landes - nach wie vor zu registrierenden Menschenrechtsverletzungen hinweisen (vgl. etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe, SFH, Türkei - zur aktuellen Situation, Juni 2003, S. 23 ff.; Human Rights Watch World Report 2003 - Turkey, 14.1.2003; Amnesty International, Jahresbericht 2003 / Türkei, S. 582 ff.; Norwegian Refugee Council, Profile of International Displacement - Turkey, 16.7.2003). Die deutliche Abnahme militärischer Zwischenfälle wird auch durch den Vergleich der vom Türkischen Menschenrechtsverein TIHD (Türkiye Insan Haklari Dernegi) systematisch erhobenen Opferzahlen eindrücklich dokumentiert: Die vom Verein publizierten Auflistungen rapportierter Menschenrechtsverletzungen in der Türkei (Human Rights Violations in Turkey, Summary Table; zugänglich beispielsweise auf der Internetseite der Organisation: www.ihd.org.tr [Stand: Januar 2004]) ergeben unter der Rubrik "Deaths in Armed Conflicts" für die vergangenen neun Jahre die folgenden jährlichen Opferzahlen: 5000 (1994), 3894 (1995), 2856 (1996), 2514 (1997), 1718 (1998), 857 (1999), 147 (2000), 92 (2001), 30 (2002); für das erste Quartal des Jahres 2003 werden 14 Todesopfer statistisch ausgewiesen.

cc) Unter Berücksichtigung dieser Umstände ist die ARK zum Schluss gekommen, dass zum heutigen Zeitpunkt nicht mehr von einer generellen Unzumutbarkeit der Rückkehr in die südöstlichen Provinzen der Türkei ausgegangen werden muss. Der Vollzug der Wegweisung abgewiesener türkischer Asylsuchender erweist sich somit auch in diese Gebiete der Türkei als grundsätzlich zumutbar. Die angemessene Berücksichtigung individueller persönlicher Umstände, die für die Ermittlung der Zumutbarkeit bedeutungsvoll sein können, bleibt weiterhin vorbehalten; namentlich ist der Situation von Angehörigen so genannter Vulnerable Groups (beispielsweise unbegleitete Minderjährige, Alleinerziehende, Alte und Kranke) bei der Beurteilung der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs angemessen Rechnung zu tragen. Erweist sich der Vollzug der Wegweisung in die südöstlichen Provinzen auf Grund einer solchen Einzelfallprüfung als unzumutbar, bleibt weiterhin die Frage einer zumutbaren innerstaatlichen Aufenthaltsalternative zu prüfen (vgl. auch EMARK 1996 Nr. 2, S. 12 ff.).


previoustop  2004 / 8 - 057

dd) Nach dem Gesagten erweist sich die Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Heimatprovinz Bingöl als grundsätzlich zumutbar.

Der Beschwerdeführer verfügt über enge verwandtschaftliche Beziehungen in der Türkei und mithin über ein tragfähiges soziales Netz. So leben die Eltern des Beschwerdeführers sowie [mehrere Geschwister] in seinem Heimatdorf beziehungsweise in Istanbul. […] Auch aus dem eingereichten Arztbericht […] kann nicht geschlossen werden, dass der Beschwerdeführer nach seiner Rückkehr in sein Heimatland aus medizinischen Gründen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt würde. […]

 

topprevious


© 27.04.04