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Auszug aus dem Urteil der ARK vom 28. Dezember 2000 i.S. M.A., Tunesien

[English Summary]

Art. 52 Abs. 1 AsylG: Drittstaatsklausel; Prüfung der Wegweisung eines Tunesiers nach Marokko.

  1. Grundsätzlich kann die Drittstaatsklausel in jedem Verfahrensstand angewendet werden. Dabei kann auf die Prüfung der Flüchtlingseigenschaft verzichtet werden, wenn der Weggewiesene im Drittstaat dauernden und sicheren Aufenthalt finden kann (Erw. 5).

  2. Die Ehe mit einer Marokkanerin genügt im konkreten Fall nicht zum Nachweis, dass der Beschwerdeführer in Marokko einreisen und dort dauernden und sicheren Aufenthalt finden kann. Aufgrund der regionalen Abkommen der Maghreb-Staaten, insbesondere deren Auslieferungsbestimmungen, erscheint Marokko für einen Tunesier, der behauptet, wegen Zugehörigkeit zur Organisation Ennahda verfolgt zu werden, nicht als sicherer Drittstaat (Erw. 6).

Art. 52 al. 1 LAsi : clause de l'admission dans un Etat tiers ; examen du renvoi d'un Tunisien au Maroc.

  1. En principe, la clause de l'admission dans un Etat tiers peut être appliquée à n'importe quel stade de la procédure. Cette clause permet de renoncer à l'examen de la qualité de réfugié pour autant toutefois que la personne renvoyée puisse obtenir, dans l'Etat tiers, la garantie d'un séjour durable et sûr (consid. 5).

  2. Dans le cas concret, le mariage avec une Marocaine ne suffit pas à démontrer que le recourant pourra retourner au Maroc et y séjourner durablement en toute sécurité. Compte tenu de dispositions en matière d'extradition contenues dans les Accords régionaux passés entre Etats du Maghreb, le Maroc n'apparaît pas comme un pays sûr pour un ressortissant tunisien qui prétend être poursuivi pour appartenance à l'organisation Ennahda (consid. 6).


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Art. 52 cpv. 1 LAsi: allontanamento in uno Stato terzo; esame dell'allontanamento di un cittadino tunisino verso il Marocco.

  1. Di regola, l'esecuzione dell'allontanamento in uno Stato terzo può essere pronunciata a qualunque stadio della procedura. È possibile rinunciare all'esame della qualità di rifugiato qualora la persona da allontanare possa beneficiare nello Stato terzo di un soggiorno durevole e sicuro (consid. 5).

  2. Tenuto conto degli accordi regionali tra gli Stati del Magreb, e relative disposizioni d'estradizione, non sono date le condizioni per l'esecuzione dell'allontanamento verso il Marocco di un cittadino tuniso che fa valere rischi d'esposizione a persecuzioni per l'appartenenza al movimento Ennahda, e ciò quand'anche egli sia coniugato con una cittadina marocchina (consid 6).

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Der Beschwerdeführer verliess seinen Heimatstaat Tunesien eigenen Angaben gemäss am 26. September 1991 und hielt sich mehrere Jahre in Marokko auf. Zusammen mit seiner marokkanischen Ehefrau verliess er Marokko am 22. Juni 1998 auf dem Luftweg; noch am gleichen Tag erreichten sie den Flughafen Genf-Cointrin, wo sie am 23. Juni 1998 um Asyl ersuchten.

Im Wesentlichen machte der Beschwerdeführer geltend, er sei seit 1985 Mitglied der Bewegung Ennahda und werde in Tunesien deswegen verfolgt. Bis ins Jahr 1996 habe er in Marokko als Student eine Aufenthaltsbewilligung gehabt, deren Erneuerung dann jedoch nicht mehr möglich gewesen sei, da er seinen im Jahre 1995 abgelaufenen Pass nicht habe verlängern können. Im Jahre 1997 habe der Beschwerdeführer sein Studium in Marokko abgeschlossen. Bereits im Dezember 1996 hätten die Beschwerdeführer versucht, eine Heiratsgenehmigung zu bekommen, die ihnen jedoch verweigert worden sei. Im Jahre 1997 und 1998 sei der Beschwerdeführer polizeilich gesucht worden, weshalb er seinen Wohnort gewechselt und, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, auf verschiedenen Märkten Handel getrieben habe. Im April 1998 heirateten die Beschwerdeführer anlässlich einer Reise nach Senegal, nachdem der Beschwerdeführer eben dieser Reise wegen seinen Pass illegal durch einen Freund habe verlängern lassen. Die Ehe werde bis heute von den marokkanischen Behörden nicht anerkannt. Der Beschwerdeführer befürchte nun, von den marokkanischen Behörden ausgewiesen oder gar ausgeliefert zu werden.


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Mit Verfügung vom 30. Juni 1999 lehnte das BFF das Asylgesuch der Beschwerdeführer ab und verfügte gleichzeitig deren Wegweisung aus der Schweiz nach Marokko. Einer allfälligen Beschwerde wurde die aufschiebende Wirkung entzogen.

Mit Beschwerde bei der ARK vom 26. Juli 1999 beantragten die Beschwerdeführer, die Verfügung des BFF vom 30. Juni 1999 sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass die Vorinstanz den rechtserheblichen Sachverhalt nicht hinreichend festgestellt habe, und die Sache sei an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventuell sei den Beschwerdeführern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und Asyl zu gewähren. Subeventuell sei festzustellen, dass die Wegweisung des Beschwerdeführers unzulässig sei. Schliesslich sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung und den Beschwerdeführern die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.

Amnesty International liess der ARK am 27. Juli 1999 einen den Beschwerdeführer betreffenden Bericht zukommen.

Mit Zwischenverfügung vom 3. August 1999 stellte die ARK die von der Vorinstanz entzogene aufschiebende Wirkung wieder her.

Das BFF hielt in der (ersten) Vernehmlassung vom 30. September 1999 an seiner Verfügung fest und beantragt die Abweisung der Beschwerde. Der Beschwerdeführer nahm in seiner Replik vom 20. Oktober 1999 zu den Ausführungen des BFF Stellung.

Nachdem die ARK eines der vom Beschwerdeführer aufgeführten Dossiers zugezogen hatte, wurde das BFF diesbezüglich am 4. August 2000 zu einer zweiten Stellungnahme aufgefordert.

In der (zweiten) Vernehmlassung vom 9. August 2000 machte das BFF auf verschiedene Unterschiede in den beiden vorliegenden Fällen aufmerksam. Die Beschwerdeführer nahmen in Ihrer Duplik vom 13. September 2000 zu den Ausführungen des BFF Stellung.

Die ARK heisst die Beschwerde gut, soweit die Aufhebung der angefochtenen Verfügung beantragt wird, und weist die Sache im Sinne der Erwägungen zur Prüfung der Flüchtlingseigenschaft an die Vorinstanz zurück.


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Aus den Erwägungen:

3. b) Einer Person, die sich in der Schweiz befindet, wird in der Regel kein Asyl gewährt, wenn sie sich vor ihrer Einreise einige Zeit in einem Drittstaat aufgehalten hat, in den sie zurückkehren kann. Ebenso wird in der Regel kein Asyl gewährt, wenn eine Person in einen Drittstaat ausreisen kann, in dem nahe Angehörige leben (Art. 52 Abs. 1 Bst. a und b AsylG; Art. 6 Abs. 1 Bst. a und b aAsylG).

c) Die Vorinstanz stützt ihren Entscheid auf Art. 6 Abs. 1 alt AsylG und auch die Beschwerdeschrift bezieht sich auf diesen Artikel. Vorliegend gelangt jedoch das neue Asylgesetz zur Anwendung, indem die betreffende Bestimmung im Art. 52 Abs. 1 AsylG geregelt ist. Die Bestimmung hat zwar eine numerische nicht aber - jedenfalls in Bezug auf den vorliegenden Fall - eine inhaltliche Änderung erfahren, weshalb die Argumentationsweisen und die bisherige Rechtsprechung ohne weiteres auf das hier zur Beurteilung stehende Verfahren übertragen werden können.

4. a) Das BFF führt in der angefochtenen Verfügung aus, der Beschwerdeführer habe sich über einen langen Zeitraum hinweg in Marokko aufgehalten und habe dort weder Verfolgung noch die Abschiebung nach Tunesien zu befürchten. [Es sei insbesondere aufgrund seiner Ehe mit einer Marokkanerin - die er überdies versucht habe, registrieren zu lassen -, seinem im Jahre 1997 abgeschlossenen Studium und der darauffolgenden Arbeitstätigkeit wie auch der regen Reisetätigkeit des Beschwerdeführers nicht glaubhaft, dass er seine im Jahre 1996 abgelaufene Aufenthaltsbewilligung nicht habe verlängern können. Ferner sei die Angst des Beschwerdeführers vor einer allfälligen Wegweisung nach Tunesien unbegründet.]

Schliesslich müsse darauf hingewiesen werden, dass Marokko die FK unterzeichnet habe und eine Wegweisung des Beschwerdeführers nach Tunesien somit ausgeschlossen sei. Der Beschwerdeführer habe bei einer Wegweisung nach Marokko demzufolge nichts zu befürchten.

b) aa) Diesen Ausführungen hält der Beschwerdeführer in der Beschwerdeschrift entgegen, [...] es [sei] nicht rechtmässig, dass die Vorinstanz keine materielle Prüfung der Flüchtlingseigenschaft [...] vorgenommen habe. Insbesondere habe die Vorinstanz, indem sie Art. 6 Abs. 1 aAsylG (Art. 52 Abs. 1 AsylG) angewendet habe, das Gebot der Rechtsgleichheit verletzt. So werde diese Bestimmung in der Regel nicht mehr angewendet, wenn der Asylsuchende die Flüchtlingseigenschaft erfülle und nicht schon während des Verfahrens weggewiesen worden sei. [...] Der der Vorinstanz vom Gesetz eingeräumte Beurtei-


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lungs- und Ermessensspielraum sei demzufolge willkürlich angewendet worden, da nichts auf eine grundsätzliche Praxisänderung hindeute, die hinlänglich begründet wäre.

Unabhängig davon sei aber eine Wegweisung nach Marokko auch aus dem Grunde unzulässig, da der Beschwerdeführer in Marokko keinen effektiven Schutz erhalten würde. [...] Auch habe es die Vorinstanz unterlassen, die Möglichkeit der Wiedereinreise in Marokko zu prüfen. [...] Dem Beschwerdeführer verhelfe die Heirat mit einer Marokkanerin nicht zu einer Aufenthalts- beziehungsweise Arbeitsbewilligung. Schliesslich müsse der Beschwerdeführer befürchten, er werde von den marokkanischen Behörden nach Tunesien ausgeliefert, weil zwischen diesen Ländern verschiedene entsprechende Abkommen bestehen würden. Insbesondere das Abkommen zur Bildung der Union du Maghreb Arabe (UMA) von 1989 zwischen fünf arabischen Staaten, darunter auch Marokko und Tunesien, habe dazu geführt, dass Staatsangehörige von Mitgliedstaaten nicht als Flüchtlinge anerkannt werden könnten. [...] Zudem beständen zwischen den beiden Staaten bilaterale Verträge, die eine Auslieferung ermöglichten. [...]

Demzufolge habe die Vorinstanz das Prinzip der Rechtsgleichheit, den Untersuchungsgrundsatz sowie das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers verletzt. [...]

bb) [...]

c) Das BFF hält in seiner Vernehmlassung fest, [...] bezüglich der angeblichen Gefahr der Auslieferung nach Tunesien sei anzumerken, dass die vom Beschwerdeführer dokumentierten Fälle, die eine solche Gefahr beweisen sollten, ausschliesslich einen Fall der Auslieferung durch Marokko nach Tunesien aus dem Jahre 1991 beträfen, und ausserdem keinerlei Einzelheiten über die Auslieferung angegeben seien. Es sei zudem darauf aufmerksam zu machen, dass das Abkommen von 1959 bezüglich der gegenseitigen Auslieferung von Straftätern im Artikel 27 eine Auslieferung bei religiös oder politisch motivierten Straftaten ausschliesse. Im Zusammenhang mit dem UMA-Abkommen hätten die tunesischen Behörden im Jahre 1993 ausserdem in ihrem Strafgesetzbuch verankert, dass eine Auslieferung nicht möglich sei, wenn die Straftat einen politischen Charakter aufweise oder wenn sich Umstände abzeichneten, die darauf hinwiesen, dass der Auslieferungsantrag einen politischen Hintergrund habe. Schliesslich sei zu bemerken, dass das Übereinkommen von 1998 über die Zusammenarbeit betreffend Terrorismusbekämpfung nicht friedliche politische Aktivitäten beträfe und zudem bis zum heutigen Zeitpunkt weder von Marokko noch von Tunesien unterzeichnet worden sei. [...]


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d) Der Beschwerdeführer führt in der Replik aus, [...] bezüglich der von [ihm] dokumentierten Fälle sei anzumerken, dass nicht die Anzahl vergleichbarer Fälle ausschlaggebend sein könnte, sondern dass aufgrund der zahlreichen Berichte von Menschenrechtsorganisationen die Furcht vor einer Ausweisung oder Auslieferung durch die marokkanischen Behörden nach Tunesien begründet sei. Auch hier sei das Gebot der Rechtsgleichheit zu beachten, da anderen tunesischen Asylsuchenden, die sich zuvor in Marokko aufgehalten hätten, inzwischen Asyl gewährt worden sei. Bezüglich der Konvention über die Terrorismusbekämpfung sei anzumerken, dass diese zwar tatsächlich noch nicht ratifiziert worden sei, jedoch eine politische Absichtserklärung darstelle, was eine Furcht vor zukünftiger Verfolgung um so mehr begründe. Immerhin sei im Auge zu behalten, dass in Tunesien Hunderte von Personen aus Gewissensgründen inhaftiert seien.

e) Auf einen vom Beschwerdeführer erwähnten vergleichbaren Fall (A.A.) aufmerksam gemacht, führte das BFF in einer zweiten Vernehmlassung aus, die Fälle unterschieden sich insofern, als der Beschwerdeführer im Gegensatz zu A.A. Marokko drei Mal auf legalem Weg verlassen und im Jahre 1998 seinen Pass verlängern lassen habe. Ein solches Verhalten weise darauf hin, dass der Beschwerdeführer offensichtlich keiner ernsthaften Gefahr einer Auslieferung ausgesetzt gewesen sei. Bezüglich einer sich im Dossier von A.A. befindenden Auskunft der schweizerischen Botschaft in Tunis, die festhielt, die tunesische Regierung verfolge Mitglieder der verbotenen Ennahda-Partei und unternehme alles, um sich im Ausland befindende Parteimitglieder zu repatriieren, führte die Vorinstanz aus, dass sie in ihrer Beweiswürdigung frei sei. Insbesondere sei diese Auskunft in Bezug auf eine bestimmte Person ausgestellt worden und könne nicht ohne weiteres auf andere tunesische Staatsangehörige übertragen werden.

f) Die Beschwerdeführer wenden dagegen ein, dass sie zwar aus Marokko aus- und wieder eingereist seien, andererseits sei A.A. in der Lage gewesen, seine Heirat offiziell anerkennen zu lassen. Dies impliziere ebenso Kontakte mit den Behörden, womit der diesbezüglich geltend gemachte Unterschied zwischen den beiden Sachverhalten dahinfalle. Ausserdem habe der Beschwerdeführer seinen Pass nicht selber, sondern durch einen Freund verlängern lassen und es entziehe sich der Kenntnis des Beschwerdeführers, wie dies abgelaufen sei. Jedenfalls könne eine Gefährdung der Beschwerdeführer ohne Berücksichtigung der Gesamtsituation nicht kategorisch ausgeschlossen werden. Bezüglich der Botschaftsauskunft macht der Beschwerdeführer geltend, es handle sich dabei um eine Auskunft einer Amtsstelle, von der nur aufgrund stichhaltiger Gründe abgewichen werden könne. Das BFF mache jedoch keine solchen stichhaltigen Gründe geltend. Insgesamt sei es der Vorinstanz nicht gelungen darzutun, inwie-


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fern sich der Fall A.A. wesentlich von dem des Beschwerdeführers unterscheide. Es sei somit willkürlich, den bestehenden Ermessensspielraum einmal so und einmal anders auszulegen.

5. a) Die Beschwerdeführer stellen sich zunächst auf den Standpunkt, die Asylausschlussklausel von Art. 6 Abs. 1 aAsylG (Art. 52 Abs. 1 AsylG) komme in der Praxis bei einem Gesuchsteller, der die Flüchtlingseigenschaft erfülle, nicht mehr zur Anwendung, wenn er nicht schon während des Verfahrens gestützt auf Art. 19 aAsylG vorsorglich weggewiesen worden sei. [...] Diesbezüglich kann jedoch auf die publizierten Entscheide der ARK verwiesen werden, aus [welchen] zweifellos hervorgeht, dass die Anwendung der Ausschlussklausel verschiedentlich auch unabhängig von einer vorsorglichen Wegweisung angewendet wurde (vgl. statt vieler EMARK 1997 Nr. 24, 1996 Nr. 24, 1993 Nr. 19). [...] Davon ausgehend, dass die Beschwerdeführer in Marokko dauernden Aufenthalt begründen können, konnte demnach die Vorinstanz die Prüfung der Flüchtlingseigenschaft unterlassen. Die Frage hingegen, ob die Ausgangslage zutreffend beurteilt wurde, ist Gegenstand der nachfolgenden Erwägungen.

b) Die Beschwerdeführer machen diesbezüglich geltend, die Vorinstanz habe es in Verletzung der Begründungspflicht und des Untersuchungsgrundsatzes unterlassen, die Aufenthalts- und Einreisemöglichkeit des Beschwerdeführers in Marokko genügend zu prüfen [...] (vgl. EMARK 1995 Nr. 22). Aus diesem Grund müsse der vorinstanzliche Entscheid kassiert und zur entsprechenden Neubeurteilung zurückgewiesen werden.

Den Beschwerdeführern ist insofern Recht zu geben, als im Falle des Unterbleibens einer angemessenen Prüfung der Möglichkeit der Wegweisung eine Rückweisung an die Vorinstanz sinnvoll ist. Im vorliegenden Fall hat sich die Vorinstanz jedoch eingehend mit der Möglichkeit der Rückkehr der Beschwerdeführer nach Marokko befasst und ist nach eingehender Beweiswürdigung zum Schluss gekommen, dass unter Berücksichtigung aller Umstände und aufgrund der Vorgeschichte des Beschwerdeführers, insbesondere seiner Ehe mit einer marokkanischen Staatsbürgerin, ausreichende Anhaltspunkte vorliegen, dass der Beschwerdeführer erneut in Marokko einreisen und sich dort dauerhaft aufhalten kann. Diesbezüglich hat auch die ARK in ihrer Praxis festgehalten, dass genügend Anhaltspunkte für die Einreise und den dauerhaften Aufenthalt vorliegen, wenn der Ehegatte des Gesuchstellers Angehöriger des entsprechenden Drittstaates ist (vgl. EMARK 1996 Nr. 24). Ohne einer materiellen Prüfung dieser Beurteilung zuvorzukommen, ist festzuhalten, dass die Vorinstanz damit den Anforderungen der Sachverhaltsermittlung Genüge getan und damit den Untersuchungsgrundsatz nicht verletzt hat. Auf Beschwerdeebene bleibt demnach abzuklären, ob die Vorinstanz es zu Recht als bewiesen beurteilte, dass der Be-


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schwerdeführer in die Heimat seiner Ehefrau, wo er sich während mehreren Jahren aufgehalten hat, zurückkehren und sich dort dauerhaft aufhalten kann. Sollte die ARK diesbezüglich jedoch zum Schluss gelangen, dass ein entsprechender Beweis nicht geführt werden kann, so ist die Sache aus dem Grund an die Vorinstanz zurückzuweisen, als die Frage der Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers in Tunesien von der Vorinstanz explizit offen gelassen worden ist, eine diesbezügliche materielle Prüfung mithin nicht stattgefunden hat.

6. a) Vorausgehend ist auf den vom Beschwerdeführer verwiesenen Fall i.S. A.A. einzugehen. Diesbezüglich führt das BFF zu Recht aus, dass es sich im Asylverfahren regelmässig um einzelfallspezifische Vorkommnisse handelt und entsprechende Schlussfolgerungen nicht ohne weiteres auf andere Gesuchsteller übertragen werden könnten. Die Kommission stellt jedoch fest, dass insbesondere im Hinblick auf eine zukünftige Möglichkeit der Rückkehr und des sicheren Aufenthaltes Rückschlüsse trotzdem gezogen werden können. So wurde die Situation von A.A. - dieser war wie der Beschwerdeführer ebenfalls mit einer Marokkanerin verheiratet, wobei jene Ehe ausserdem gar offiziell registriert werden konnte; zudem hatte er sich ebenso während seines Studiums und damit mehrere Jahre dort aufgehalten - in dem Sinne beurteilt, dass eine Drittstaatenwegweisung nach Marokko nicht in Betracht gezogen wurde. Das BFF begründete diesen Entscheid damit, dass A.A. seine Gefährdung in Marokko beziehungsweise die Verweigerung der Aufenthaltsbewilligung glaubwürdig habe darstellen können. Aus den Akten ist zu schliessen, dass A.A. Asyl erteilt wurde, weil dieser in Tunesien wegen seiner Ennahda-Mitgliedschaft verurteilt wurde und in Marokko Gefahr liefe, ausgewiesen oder ausgeliefert zu werden. Daraus ist zu schliessen, dass die Verweigerung einer Aufenthaltsbewilligung oder das Einleiten eines Auslieferungsverfahrens durch die marokkanischen Behörden gegenüber einem mit einer Marokkanerin verheirateten Tunesier vom BFF als möglich eingeschätzt wurde.

b) Im vorliegenden Fall führte die Vorinstanz zu Recht aus, das abgeschlossene Studium, die Reisetätigkeit der Beschwerdeführer, die Schilderungen des Beschwerdeführers über die eher zurückhaltenden Suche der Polizei nach ihm und schliesslich die Ausreise des Beschwerdeführers mit seinem eigenen Pass wiesen nicht darauf hin, dass der Beschwerdeführer bei seiner Ausreise der akuten Gefahr einer Auslieferung ausgesetzt gewesen sei. Unbestritten ist auch, dass sich der Beschwerdeführer aufgrund seiner Studien jedenfalls für eine bestimmte Zeit legal in Marokko aufhalten konnte. Es erscheint hingegen möglich, dass der Beschwerdeführer wegen des abgelaufenen Passes nicht in der Lage war, sein Aufenthaltsrecht zu verlängern und das polizeiliche Interesse am Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang stand. Dies könnte auch mit der lediglich jährlichen, nicht sehr intensiven Suche nach ihm in Einklang gebracht 


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werden. Allein aus dem vergangenen Aufenthalt des Beschwerdeführers in Marokko zu schliessen, er könne dort auch wieder einreisen und sich dauernd aufhalten, genügt jedenfalls den Anforderungen der Beweislast betreffend eine mögliche Rückkehr und einem dauernden zukünftigen Aufenthalt nicht (vgl. EMARK 1995 Nr. 22, S. 217).

c) Wie erwähnt, kann in der Regel zwar davon ausgegangen werden, dass der Ehepartner einer Staatsangehörigen eines Drittstaates dort einreisen und sich dauerhaft aufhalten kann. Dies ist jedoch lediglich eine Regelvermutung, die im Einzelfall zu überprüfen ist. Diesbezüglich gaben die Beschwerdeführer übereinstimmend und widerspruchsfrei an, ihre Ehe habe in Marokko nicht anerkannt beziehungsweise registriert werden können. Die Vorinstanz hat sich zu diesen Ausführungen nicht weiter geäussert, sie lassen jedoch erste Zweifel daran aufkommen, ob dem Beschwerdeführer ohne weiteres die Einreise in Marokko gewährt würde. Dies um so mehr, als dem Beschwerdeführer anscheinend keine Reisepapiere zur Verfügung stehen. Diesbezüglich erscheint es durchaus nachvollziehbar, dass ein in Tunesien wegen der Ennahda-Mitgliedschaft Verurteilter - wie es der Beschwerdeführer von sich behauptet - nicht in der Lage ist, seinen Pass zu verlängern.

d) Die Frage des dauernden sicheren Aufenthaltes stellt sich einerseits in Bezug auf die Erteilung einer Aufenhaltsbewilligung beziehungsweise einer möglichen Ausweisung und andererseits in Bezug auf die Gefahr einer Auslieferung an die tunesischen Behörden.

aa) Die politische und wirtschaftliche Vernetzung zwischen Tunesien und Marokko ist vielschichtig. So haben unter anderem Tunesien und Marokko im Jahre 1989 ein gemeinsames Abkommen unterzeichnet, das zur Bildung der "Union du Maghreb Arabe" (UMA) führte. Gemäss einem Bericht von Amnesty International vom November 1998 erlaubt dieses Abkommen den Bürgern eines UMA-Staates in einem anderen Vertragsstaat erleichterte Aufenthaltsbewilligungen zu erlangen. Daraus ist zu schliessen, dass einem tunesischen Bürger, unabhängig davon, ob er mit einer marokkanischen Staatsbürgerin verheiratet ist, unter erleichterten Bedingungen eine Aufenthaltsbewilligung in Marokko erteilt würde. Diesbezüglich problematisch ist allerdings wiederum der Umstand, dass der Beschwerdeführer über keine Reisepapiere verfügt und solche, sollte er in Tunesien tatsächlich einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sein, wohl auch nicht erlangen kann. Insbesondere ist auch zu beachten, dass Marokko zwar die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet hat, gemäss besagtem Bericht von Amnesty International das UMA-Abkommen jedoch dazu führt, dass ein Angehöriger eines UMA-Staates, der vor politischer Verfolgung in einen der Vertragsstaaten flieht, dort aufgrund dieser Regelung nicht als Flücht-


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ling betrachtet werden kann. Somit könnte ihm auch kein besonderer Schutz gewährt werden (vgl. Bericht vom 19. November 1998). Amnesty International setzt sich ausserdem direkt für den Beschwerdeführer ein, indem im Bericht vom 27. Juli 1999 darauf hingewiesen wird, dass die regionalen Abkommen zwischen den arabischen Staaten diese stärker binden als die Genfer Flüchtlingskonvention. Daraus sei zu schliessen, dass in entsprechenden Fällen eine individuelle Prüfung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorgenommen werde und damit eine Ausweisung zumindest theoretisch jederzeit möglich sei. Amnesty International beurteilte in diesem Bericht die Situation des Beschwerdeführers dahingehend, dass dieser in Marokko der Gefahr der Ausweisung oder Auslieferung nach Tunesien ausgesetzt wäre.

bb) Im Weiteren kann eine Auslieferung auf Antrag der tunesischen Behörden nicht zum Vornherein ausgeschlossen werden. Zwar ist, wie das BFF zu Recht festhält, eine Auslieferung aus politischen und religiösen Gründen durch die nationalen Gesetze und internationalen Abkommen grundsätzlich ausgeschlossen. Immerhin kann es offenbar vorkommen, dass die tunesischen Behörden politische Verfolgung mit gemeinrechtlichen Delikten kaschieren, da ein grosses Interesse daran besteht, Oppositionelle, die sich ins Ausland geflüchtet haben, zu repatriieren. Mindestens ein Fall aus dem Jahre 1991 ist in den Akten dokumentiert, als Marokko einen politisch Verfolgten aufgrund eines Auslieferungsgesuches wegen gemeinrechtlicher Delikte an Tunesien auslieferte (vgl. Bericht O.L.T. vom 16. Juli 1999; Bericht "Solidarité tunisienne" vom 16. Juli 1998). Selbst wenn es sich um Einzelfälle handelt und schon lange kein solcher Fall mehr vorgekommen ist, stellt sich unter diesen Umständen die Frage, ob - falls es sich beim Beschwerdeführer tatsächlich um einen politisch Verfolgten handelt - mit Verweis auf das seltene Vorkommen einer Auslieferung der verlangten Beweislast betreffend eine mögliche sichere Rückkehr nach Marokko Genüge getan werden kann.

cc) Beachtung zu finden hat aber insbesondere auch der Umstand, dass das Auslieferungsverbot nur gilt, wenn es sich bei den Straftaten nicht um solche terroristischer Natur handelt. So hält zum Beispiel das tunesische Strafgesetzbuch in diesem Zusammenhang fest: "...ne sont pas également considérées comme politiques, et ne donnent pas lieu à l'octroi de l'asile politique, les infractions visées à l'article 52bis du code pénal" (vgl. Art. 313 Strafgesetzbuch Tunesien). Artikel 52bis wiederum äussert sich zu terroristischen Straftaten und liefert auch eine entsprechende Definition: "Est qualifiée de terroriste, toute infraction en relation avec une entreprise individuelle ou collective ayant pour but de porter atteinte aux personnes ou aux biens, par l'intimidation ou la terreur. Sont traités de la même manière, les actes d'incitation à la haine ou au fanatisme racial ou religieux quels que soient les moyens utilisés". In einem Land wie Tu-


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nesien, wo die politische Opposition ihre Grundlage in der Religion findet, wirft eine solche Definition des Terrorismus jedoch gewisse Fragen auf. Dies insbesondere deshalb, weil Tunesien und Marokko gemäss Auskunft des UNHCR inzwischen das Terrorismus-Abkommen (Abkommen von Zaire vom 22. April 1998) ratifiziert haben. Im Zeitpunkt der vorinstanzlichen Entscheidung war dieses Abkommen lediglich unterzeichnet, indessen noch nicht ratifiziert (vgl. auch Vernehmlassung des BFF vom 30. September 1999). Gegenstand des Abkommens ist die Zusammenarbeit zwischen den arabischen Staaten in Bezug auf die Terrorismusbekämpfung, insbesondere die gegenseitige Auslieferung von Straftätern. In verschiedenen Berichten von Hilfsorganisationen wird die Befürchtung geäussert, dass das Abkommen dazu missbraucht werden könnte, um politischer Oppositioneller habhaft zu werden (vgl. Amnesty International, Berichte vom 27. Juli 1999 und vom 19. November 1998; Comité pour le Respect des Libertés et des Droits de l’Homme en Tunisie, Bericht vom 19. Juli 1999). Das BFF weist zwar darauf hin, dass sich das Abkommen nicht gegen friedliche politische Meinungsäusserung richte. Andererseits hielt auch das BFF im Fall von A.A. eine Ausweisung oder Auslieferung eines in Tunesien politisch Verfolgten durch die marokkanischen Behörden für möglich, und zwar bevor das Abkommen ratifiziert worden war. Die Auswirkungen des neu ratifizierten Abkommens können indes zum heutigen Zeitpunkt noch nicht abgeschätzt werden.

e) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Möglichkeit besteht, wonach der Beschwerdeführer in Marokko einreisen und sich dort dauerhaft aufhalten kann, ebenso jedoch nicht auszuschliessen ist, dass die marokkanischen Behörden dem Beschwerdeführer die Einreise oder eine dauernde Aufenthaltsbewilligung verweigern oder diesen sogar im Rahmen eines Auslieferungsverfahrens den tunesischen Behörden überstellen würden. Die Behörde, die den Wegweisungsvollzug in einen Drittstaat anordnet, trägt jedoch die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen einer solchen Wegweisung tatsächlich vorliegen. Unter den gegebenen Umständen konnte der verlangte Beweis einer sicheren Rückkehr und eines dauernden sicheren Aufenthaltes in Marokko den vorstehenden Ausführungen gemäss nicht geführt werden. Damit aber fällt eine Drittstaatenwegweisung nach Marokko nicht in Betracht. Das BFF hat demnach zu Unrecht in Anwendung von Art. 6 Abs. 1 aAsylG (Art. 52 Abs. 1 AslyG) die Drittstaatenwegweisung verfügt und die Prüfung der Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers unterlassen.

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