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Auszug aus dem Urteil der ARK vom 19. Januar 2001 i.S. M. M. und Kinder, Bundesrepublik Jugoslawien (Kosovo) 

[English Summary]

Art. 1 C Ziff. 5 Abs. 2 FK: "Zwingende Gründe" zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft trotz Wegfall der Verfolgungsgefahr; Anwendung dieser Ausnahmebestimmung auf die Situation im Kosovo.

Da der Kosovo staats- und völkerrechtlich immer noch zur Bundesrepublik Jugoslawien gehört, ist asylsuchenden Personen aus dem Kosovo, welche die Flüchtlingseigenschaft im Zeitpunkt der Ausreise erfüllten, bis auf weiteres Asyl zu gewähren, sofern die in der Praxis entwickelten Kriterien für die Annahme von "zwingenden Gründen" vorliegen (vgl. EMARK 1997 Nr. 14) und die Ausreise vor dem Einmarsch der KFOR-Truppen erfolgte.

Art. 1 C ch. 5 al. 2 Conv. : raisons impérieuses conduisant à la reconnaissance de la qualité de réfugié malgré la cessation du danger de persécution ; application de cette disposition à la situation au Kosovo.

Dès lors que le Kosovo constitue toujours une partie de la République fédérale de Yougoslavie aux plans du droit public et du droit international, les demandeurs d'asile originaires du Kosovo se verront encore accorder l'asile aussi longtemps qu'ils répondront aux critères développés par la jurisprudence en matière de "raisons impérieuses" (JICRA 1997 n° 14), à savoir : un départ du pays avant l'entrée des troupes de la KFOR et la réalisation, à cette date-là, des conditions mises à la reconnaissance de la qualité de réfugié.

Art. 1 C n. 5 cpv. 2 Conv.: riconoscimento della qualità di rifugiato, per motivi gravi, malgrado la cessazione del rischio d'esposizione a persecuzioni; applicazione di tale disposizione alla situazione nel Cossovo.

Il Cossovo, in virtù del diritto pubblico interno ed internazionale, è ancora parte integrante della Repubblica federale di Jugoslavia. Pertanto, ai richiedenti d'asilo originari del Cossovo è attualmente accordato l'asilo allorquando i criteri stabiliti dalla giurisprudenza per l'applicazione della disposizione sui "motivi gravi" sono adempiti (cfr. GICRA 1997 n. 14), 


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l'espatrio è avvenuto prima dell'arrivo delle truppe della KFOR e le condizioni per il riconoscimento della qualità di rifugiato al richiedente erano soddisfatte al momento dell'espatrio.

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Die Beschwerdeführerin verliess ihren Heimatstaat nach eigenen Angaben im August 1998 und stellte in der Schweiz am 17. August 1998 ein Asylgesuch. Am 25. August 1998 wurde sie in der Empfangsstelle Basel befragt. Sie sagte aus, ihr Dorf sei fünf Wochen zuvor von der Polizei umzingelt worden. Die Polizisten hätten ihr Haus durchsucht und ihre Kinder in ein Zimmer geschlossen. Sie sei von zwei Polizisten festgehalten worden, welche ihr die Bluse zerrissen und mit ihr gemacht hätten, was sie gewollt hätten. Auf Nachfrage erklärte sie, sie sei nicht vergewaltigt worden. Am Nachmittag habe die Polizei begonnen, die Häuser zu beschiessen, wobei ihres verbrannt sei. Deshalb habe sie das Haus verlassen und in den Wald gehen müssen.

Am 7. Oktober 1998 wurde die Beschwerdeführerin von der zuständigen kantonalen Behörde angehört. Im Wesentlichen machte sie geltend, dass eines Tages die Polizisten in die Häuser gekommen seien. Sie sei von zwei Polizisten festgehalten worden, welche ihr Hemd zerrissen und sie geschlagen hätten. Sie habe Angst gehabt und wisse nicht genau, was geschehen sei. Sie habe befürchtet, sie könne schwanger sein. Die Polizisten hätten alles mit ihr gemacht, sie wisse nicht sicher, ob sie vergewaltigt worden sei. Sie habe das Bewusstsein verloren und wisse noch, dass die Kinder geweint hätten, als sie wieder zu sich gekommen sei. Sie habe überall Flecken gehabt und geblutet. Seit diesem Tag fühle sie sich krank.

Mit Verfügung vom 7. April 2000 stellte das BFF fest, die Beschwerdeführerin und ihre Kinder erfüllten die Flüchtlingseigenschaft nicht, und lehnte das Asylgesuch ab. Gleichzeitig verfügte es deren Wegweisung aus der Schweiz. Es begründete seinen ablehnenden Entscheid damit, dass bezüglich der Glaubhaftigkeit der Vorbringen der Beschwerdeführerin ein Vorbehalt zu machen sei. Die von ihr geltend gemachten Erlebnisse seien eine Folge der damals im Kosovo herrschenden Situation gewesen. Aufgrund der veränderten Situation im Kosovo sei aber davon auszugehen, dass für sie und ihre Kinder keine begründete Furcht vor staatlichen Verfolgungsmassnahmen bestehe. Die Beschwerdeführerin habe sich zum Vorbringen, sie sei von der Polizei misshandelt worden, widersprüchlich geäussert.


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Mit Eingabe vom 9. Mai 2000 beantragen die Beschwerdeführer, die Verfügung des BFF sei aufzuheben und ihnen sei Asyl zu gewähren. Der Beschwerde wurden mehrere ärztliche Berichte beigelegt. Im Laufe des Instruktionsverfahrens wurden weitere ärztliche Berichte eingereicht. Die mit der Betreuung der Beschwerdeführerin und ihres Kindes A. beauftragten Fachärzte und Psychologen kamen zum Schluss, dass sowohl die Beschwerdeführerin als auch ihr Kind A. (aufgrund einer als glaubhaft erachteten Vergewaltigung der Beschwerdeführerin) schwer traumatisiert seien und dringend einer weiterführenden Behandlung bedürften.

Das BFF beantragt in der Vernehmlassung vom 25. Juli 2000 die Abweisung der Beschwerde.

Die ARK heisst die Beschwerde gut.

Aus den Erwägungen:

5. a) Gemäss publizierter Praxis der ARK ist eine erlittene Vorverfolgung auch nach Wegfall einer weiteren zukünftig drohenden Verfolgungsgefahr weiterhin als asylrechtlich relevant zu betrachten, wenn eine Rückkehr in den früheren Verfolgerstaat aus zwingenden, auf diese Verfolgung zurückgehenden Gründen nicht zumutbar ist; bei dieser Auslegung von Art. 3 AsylG zieht die Kommission die entsprechende Formulierung der Ausnahmebestimmung des Art. 1C Ziff. 5 Abs. 2 FK bei (EMARK 1993 Nr. 31, S. 220 ff.; bestätigt in 1995 Nr. 16, S. 166 ff.; 1996 Nr. 10, S. 74 ff.; 1996 Nr. 42, S. 371 ff.; 1997 Nr. 14, S. 121 ff.). Als "zwingende Gründe" in diesem Zusammenhang sind vorab traumatisierende Erlebnisse zu betrachten, die es dem Betroffenen angesichts erlebter schwerwiegender Verfolgungen, insbesondere Folterungen, im Sinne einer Langzeittraumatisierung psychologisch verunmöglichen, ins Heimatland zurückzukehren (vgl. EMARK 1995 Nr. 16, S. 166 ff.; 1996 Nr. 10, S. 74 ff.; 1996 Nr. 42, S. 371 ff.).

b) Das BFF hat im angefochtenen Entscheid aufgrund der veränderten Situation im Heimatland darauf verzichtet zu prüfen, ob die Beschwerdeführerin Vorverfolgung erlitten hat. In der Vernehmlassung würdigt es die Vorbringen erstmals hinsichtlich Intensität, indem es ausführt, dass sich die Frage stelle, ob die durch die kriegerischen Auseinandersetzungen erlittenen Übergriffe und Entbehrungen die Anwendung von Art. 1C Ziff. 5 Abs. 2 FK rechtfertigten, was allerdings bedingen würde, dass die Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt ihrer Ausreise die Flüchtlingseigenschaft erfüllt hätte. Das BFF gelangt zum Schluss, die Beschwerdeführerin und ihr Sohn hätten objektiv gesehen weniger schwerwie-


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gende Erlebnisse gehabt, als der Beschwerdeführer im Grundsatzentscheid der ARK (publiziert in EMARK 1997 Nr. 14). Zudem sei die Situation im Kosovo mit derjenigen in Bosnien-Herzegowina nicht vergleichbar, da die albanische Ethnie, deren Sicherheit durch die KFOR gewährleistet sei, im Kosovo die Mehrheit stelle. Die ehemaligen Machthaber, die sich teilweise an Verbrechen beteiligt hätten, hätten die Provinz verlassen müssen.

c) In diesem Zusammenhang ist vorab zu prüfen, ob Art. 1C Ziff. 5 Abs. 2 FK im Kosovo-Kontext grundsätzlich analog zur von der ARK festgelegten Praxis zu Bosnien-Herzegowina anwendbar ist, das heisst, es ist zu beurteilen, ob die zur Zeit im Kosovo bestehende rechtliche Lage gleichzusetzen ist mit derjenigen in Bosnien-Herzegowina, bei welcher die ARK zum Schluss gekommen ist, dass die "zwingenden Gründe" trotz objektivem Wegfall der Verfolgungsgefahr einer Rückkehr in den Heimatstaat entgegenstehen. Den Ausführungen des BFF in seiner Vernehmlassung ist insofern beizupflichten, als dass die den Kosovo-Albanern feindlich gesinnten Serben im Kosovo zur Zeit keinen Einfluss auszuüben vermögen; der ehemalige "Verfolgerstaat" ist somit im Kosovo faktisch nicht mehr vorhanden. Eine Rückkehr der Beschwerdeführerin würde so gesehen nicht bedeuten, dass sie sich unter den Schutz des ehemaligen Verfolgerstaates stellen würde, da sie zu den Angehörigen ihrer eigenen Ethnie zurückkehren und sich unter den Schutz der internationalen Behörden (UNMIK, KFOR) stellen würde. Aus diesem Grund stellt sich die Frage, welche "zwingenden Gründe" eine von den Serben verfolgte Person haben kann, die Rückkehr in ein Gebiet abzulehnen, welches de facto nicht mehr der Staatsmacht des ehemaligen Verfolgers untersteht. In der bisherigen Praxis wurden infolge erlittener schwerer Verfolgung bestehende psychische Blockaden, welche es dem Betroffenen verunmöglichten, sich mit Vertretern des ehemaligen Verfolgerstaates in Kontakt zu setzen, als "zwingende Gründe" anerkannt; dies selbst dann, wenn dieser Staat nunmehr demokratisch geführt wird und lediglich eine Kontaktnahme mit der Botschaft dieses Staates notwendig geworden wäre (vgl. EMARK 1995 Nr. 16). "Zwingende Gründe", wie sie in der Praxis anerkannt wurden, beziehen sich somit nicht auf den "Ort des Schreckens", sondern auf den Staat, der diese Schrecken zu einem früheren Zeitpunkt verübt hat. Bezüglich des Kosovo gilt es in diesem Zusammenhang indessen zu beachten, dass dieser formell immer noch zur Bundesrepublik Jugoslawien gehört; in der UNO-Resolution 1244 wurde der Bestand des bisherigen Staatsgebietes garantiert, völkerrechtlich bleibt der Kosovo somit zur Zeit Bestandteil Jugoslawiens. Der Weg zu einem unabhängigen Kosovo scheint nach der politischen Wende in Belgrad zudem vorderhand blockiert und fraglich. Die weitere Entwicklung ist zur Zeit noch nicht verlässlich abschätzbar; es besteht sowohl die Möglichkeit, dass das UNO-Protektorat zu gegebener Zeit aufgehoben und der Kosovo wieder in den jugoslawischen Staatenverband integriert als auch diejenige, dass der 


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Kosovo von der Bundesrepublik Jugoslawien unabhängig wird. Eine Abwägung der vorgenannten Elemente führt die ARK zum Schluss, dass die nach dem Abzug der serbischen Sicherheitskräfte erfolgte Entwicklung im Kosovo noch nicht derart ist, dass die analoge Anwendung von Art. 1C Ziff. 5 Abs. 2 FK bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen werden könnte. Schliesslich gilt es festzuhalten, dass unter Hinweis auf EMARK 2000 Nr. 2 auch im Kontext des Kosovo die Anwendung der "raisons-impérieuses"-Klausel gemäss Art. 1C Ziff. 5 Abs. 2 FK in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt werden müsste, da gemäss diesem Grundsatzentscheid (vgl. auch EMARK 1999 Nr. 7) sich nicht auf "zwingende Gründe" berufen kann, wer den ehemaligen Verfolgerstaat erst in einem Zeitpunkt verlassen hat, als die Verfolgungsgefahr bereits weggefallen war (im vorliegenden Kontext also nach dem Abzug der serbischen Sicherheitskräfte im Juni 1999). Diese Frage braucht im vorliegenden Fall indessen nicht näher geprüft zu werden, da die Beschwerdeführerin bereits im Jahre 1998 in die Schweiz gelangte. Zudem dürfte bei einer weiteren Konsolidierung der allgemeinen Lage im Kosovo absehbar sein, dass die bisherige Praxis der ARK, welche explizit oder implizit davon ausging, bezüglich der analogen Anwendung von Art. 1C Ziff. 5 Abs. 2 FK zum Kosovo sei die zu Bosnien-Herzegowina entwickelte Praxis sinngemäss zu übernehmen, einer Überprüfung zu unterziehen sein wird.

Zusammenfassend ist Folgendes festzuhalten: Da der Kosovo staats- und völkerrechtlich immer noch zur Bundesrepublik Jugoslawien gehört, ist asylsuchenden Personen aus dem Kosovo bis auf weiteres Asyl zu gewähren, sofern die in der Praxis entwickelten Kriterien für die Annahme von "zwingenden Gründen" vorliegen, die Ausreise vor dem Einmarsch der KFOR-Truppen erfolgte und sie die Flüchtlingseigenschaft im Zeitpunkt der Ausreise erfüllten.

d) Nachdem die ARK die grundsätzliche analoge Anwendbarkeit von Art. 1C Ziff. 5 Abs. 2 FK bei der Frage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch bezüglich des Kosovo bejaht und die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Vergewaltigung, welche von schweren Misshandlungen begleitet war, als glaubhaft erachtet, kann der Würdigung der Vorinstanz des vorliegenden Falles nicht gefolgt werden. Aus den als glaubhaft erachteten Schilderungen der Beschwerdeführerin und den ärztlichen Berichten geht hervor, dass die Beschwerdeführerin in überdurchschnittlichem Masse von den ethnischen Vertreibungsmassnahmen der serbischen Sicherheitskräfte betroffen war. Aufgrund der als glaubhaft erachteten Vergewaltigung der Beschwerdeführerin, welche ihr im Rahmen der ethnischen Vertreibungen von serbischen Polizisten mit dem mutmasslichen Einverständnis der serbischen Machthaber zugefügt wurde, folgt, dass die Beschwerdeführerin in ihrem Heimatland ernsthaften Nachteilen ausgesetzt wurde. Angesichts der damaligen Zustände im Heimatland der Beschwerde-


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führerin ist zudem davon auszugehen, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Ausreise zumindest subjektiv begründete Furcht vor der Zufügung weiterer asylrechtlich relevanter Nachteile haben durfte.

e) Aufgrund der eingereichten, von fachlich kompetenter Seite erstellten ärztlichen Berichte erachtet es die ARK als erstellt, dass bei der Beschwerdeführerin und ihrem Sohn A. vom Bestehen einer Langzeittraumatisierung, welche eine Rückkehr ins Heimatland im jetzigen Zeitpunkt psychisch verunmöglicht, im Sinne der oben skizzierten Rechtsprechung auszugehen ist. Es bestehen somit "zwingende Gründe", die einer Rückkehr der Beschwerdeführerin und ihres Sohnes A. in den Kosovo entgegenstehen; ihre Vorbringen erweisen sich - zumal auch die übrigen Voraussetzungen wie Staatlichkeit der erlittenen und befürchteten Nachteile und genügend enger Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht nicht fraglich sind - ungeachtet der zwischenzeitlich erfolgten Veränderung der Lage im Kosovo weiterhin als asylrechtlich relevant. Daran vermag im vorliegenden Fall auch nichts zu ändern, dass die serbischen Machthaber den Kosovo verlassen haben und dass eine psychotherapeutische Behandlung im Kosovo grundsätzlich möglich wäre. Die Frage, ob die für die Beschwerdeführerin und ihren Sohn A. notwendige Therapie im Kosovo konkret durchführbar wäre, und wenn ja, ob ihnen eine Rückkehr in den Kosovo, was den Wechsel der Therapeuten mit sich bringen würde, zumutbar wäre, kann somit offen bleiben.

f) Zusammenfassend ergibt sich, dass die Vorbringen der Beschwerdeführerin den Anforderungen von Art. 3 AsylG genügen. Die Beschwerdeführerin und ihr Sohn A. erfüllen die Flüchtlingseigenschaft; die Beschwerde ist gutzuheissen. Nachdem keine Asylausschlussgründe vorliegen, ist die Vorinstanz anzuweisen, der Beschwerdeführerin und ihrem Sohn A. Asyl zu gewähren. Gemäss Art. 51 Abs. 1 AsylG wird minderjährigen Kindern von Flüchtlingen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt und Asyl gewährt, sofern keine besonderen Umstände dagegen sprechen. Vorliegend sprechen keine besonderen Umstände gegen die Anerkennung als Flüchtlinge der drei anderen Kinder der Beschwerdeführerin, weshalb das BFF anzuweisen ist, auch ihnen Asyl zu gewähren.

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