EMARK - JICRA - GICRA  2003 / 20


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Auszug aus dem Urteil der ARK vom 28. August 2003 i.S. A.M., Russland

Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG: Nichteintreten auf ein Asylgesuch; Hinweise auf Verfolgung.

1. Bei der Prüfung von Hinweisen auf Verfolgung ist ein weiter Verfolgungsbegriff anzuwenden (s. dazu vorstehendes Grundsatzurteil, EMARK 2003 Nr. 18) (Erw. 3c).

2. Als haltlos im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG gelten dabei nur solche Verfolgungshinweise, welche bereits auf ersten Blick als unglaubhaft erkennbar sind. Hinweise auf Verfolgung im weiten Sinne - in casu: Entführung durch Banditen - dürfen dagegen nicht mit der Begründung als haltlos bezeichnet werden, wonach die Vorbringen nicht asylrelevant im Sinne von Art. 3 AsylG seien; eine solche Prüfung ist bei einem Nichteintretensentscheid unzulässig, was in der Regel dessen Kassation zur Folge hat (Erw. 3 und 5b; vgl. dazu auch vorstehendes Urteil EMARK 2003 Nr. 19).

Art. 32 al. 2 let. a LAsi : non-entrée en matière sur une demande d'asile ; indices de persécution.

1. Lors de l'examen des indices de persécution, c'est la notion de persécution au sens large qui est applicable (cf. décision de principe JICRA 2003 n° 18) (consid. 3c).

2. Ne sont manifestement infondés au sens de l'art. 32 al. 2 let. a LAsi que les indices de persécution qui, à première vue déjà, apparaissent comme non crédibles. En revanche, les indices de persécution au sens large (in casu, un enlèvement par des bandits) qui, après examen des allégations du requérant, ne se révéleraient pas pertinents au regard de l'art. 3 LAsi, ne peuvent pas, pour cette raison, être qualifiés de manifestement infondés. En effet, un tel examen n’est pas admissible dans le cadre d'une décision de non-entrée en matière et conduit, en règle générale, à la cassation de la décision incriminée (consid. 3 et 5b ; cf. JICRA 2003 n° 19).


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Art. 32 cpv. 2 lett. a LAsi: non entrata nel merito di una domanda d'asilo; indizi di persecuzione.

1. Nozione d'indizio di persecuzione in senso lato secondo la decisione di principio GICRA 2003 n. 18 (consid. 3c).

2. Risultano manifestamente infondati secondo l'art. 32 cpv. 2 lett. a LAsi solo quegli indizi di persecuzione che si basano su dichiarazioni chiaramente inattendibili. Per contro, l'irrilevanza giusta l'art. 3 LAsi d'indizi di persecuzione in senso lato, quali il rapimento da parte di malviventi, non giustifica di per sé una decisione di non entrata nel merito della domanda d'asilo, con la conseguenza che una siffatta decisione va, di regola, annullata e gli atti rinviati per nuovo giudizio all'autorità inferiore. Infatti, l'esame riguardante la rilevanza di un indizio di persecuzione va esperito in procedura ordinaria (consid. 3 e 5b; v. pure GICRA 2003 n. 19).

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Die Beschwerdeführer, Angehörige der russischen Volksgruppe in Nordossetien, stellten am 6. Februar 2003 ein Asylgesuch. Der wichtigste Grund für ihre Ausreise sei die Entführung ihres Sohnes gewesen, welche sich anfangs Juli 2001 zugetragen habe. Ihr Sohn sei etwa eine Woche lang in den Händen von Banditen gewesen; dabei hätten ihn die Banditen verletzt und zu vergewaltigen versucht. Nach Bezahlung eines Lösegeldes sei der Sohn freigelassen worden. Hinzu gekommen sei die unerträgliche Situation, insbesondere der russisch sprechenden Bevölkerung in Nordossetien.

Mit Verfügung vom 3. Juli 2003 trat das BFF auf die Asylgesuche der Beschwerdeführer nicht ein und verfügte gleichzeitig deren sofortige Wegweisung aus der Schweiz. Einer allfälligen Beschwerde wurde die aufschiebende Wirkung entzogen. Das BFF begründete seinen auf Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG gestützten Nichteintretensentscheid damit, dass die Beschwerdeführer den Asylbehörden keine Ausweispapiere abgegeben hätten und dafür auch keine entschuldbaren Gründe vorlägen. Die Vorbringen der Beschwerdeführer enthielten keine Hinweise auf Verfolgung, die sich nicht als offensichtlich haltlos erwiesen. Offensichtlich haltlos seien solche Hinweise, wenn keine vernünftigen Zweifel daran bestünden, dass sie nicht den Tatsachen entsprächen, oder wenn sie sich auf Ereignisse bezögen, die für die Flüchtlingseigenschaft eindeutig nicht relevant seien. Bei einer Entführung handle es sich um ein gemeinrechtliches Delikt seitens Drittpersonen, bei der eine asylrelevante Verfolgung nur dann vorliege,


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wenn der Staat trotz bestehender Schutzpflicht und -fähigkeit den erforderlichen Schutz nicht gewähre. Vorliegend könne nicht geglaubt werden, dass die Behörden ihnen nicht beigestanden hätten. Dass diese eine Kindesentführung nicht ernst nähmen, könne nicht geglaubt werden. Die Beschwerdeführer hätten sich an die Behörden wenden können und müssen. Allgemein falle auf, dass die Beschwerdeführer ein übersteigert negatives Bild ihrer Heimatregion Nordossetien zeichneten. Somit stehe fest, dass ihre Vorbringen keine asylrelevante Verfolgung darstellten. Dies gehe auch daraus hervor, dass sich das Ereignis eineinhalb Jahre vor der Ausreise zugetragen habe. Die Vorbringen der Beschwerdeführer hielten demnach den Anforderungen an die Asylrelevanz offensichtlich nicht stand. Den Wegweisungsvollzug erachtete das BFF als zulässig, zumutbar und möglich.

Mit Beschwerde vom 31. Juli 2003 fochten die Beschwerdeführer diese Verfügung bei der ARK an.

Mit Zwischenverfügung vom 7. August 2003 wurde das sinngemässe Gesuch um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde vom zuständigen Instruktionsrichter der ARK gutgeheissen.

Das BFF beantragt in der Vernehmlassung vom 15. August 2003 die Abweisung der Beschwerde.

Die ARK heisst die Beschwerde gut, hebt die angefochtene Verfügung auf und weist die Sache an das BFF zum neuen Entscheid zurück.

Aus den Erwägungen:

3.a) Die angefochtene Verfügung des BFF stützt sich auf den Nichteintretenstatbestand von Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG. Die von Art. 36 Abs. 1 AsylG geforderte Anhörung nach den Art. 29 und 30 AsylG ist vorab durchgeführt worden.

b) Gemäss Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG wird auf ein Asylgesuch nicht eingetreten, wenn Asylsuchende den Behörden nicht innerhalb von 48 Stunden nach Einreichung des Gesuches Reisepapiere oder andere genügliche Identitätspapiere abgeben. Diese Bestimmung findet keine Anwendung, wenn Asylsuchende für die Nichteinreichung von Identitätspapieren entschuldbare Gründe glaubhaft machen können, beziehungsweise wenn Hinweise auf eine Verfolgung vorliegen, die sich nicht als offensichtlich haltlos erweisen.


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c) Die ARK geht in ihrer Praxis davon aus, dass bei der Beurteilung, ob Hinweise auf eine Verfolgung im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG vorliegen, von einem weiten Verfolgungsbegriff auszugehen ist. Dieser umfasst nicht nur auf Art. 3 AsylG bezogene Vorbringen, sondern auch Vorbringen, die sich auf anderweitige Wegweisungshindernisse (namentlich im Sinne von Art. 3 FoK und Art. 14a Abs. 4 ANAG) beziehen können (vgl. EMARK 1999 Nrn. 16 und 17). Zur Vermeidung von Wiederholungen kann diesbezüglich auf die Ausführungen in EMARK 1999 Nrn. 16 und 17 [1] verwiesen werden. Damit erweist sich bereits die einleitend geäusserte Auffassung der Vorinstanz, wonach Vorbringen, die für die Flüchtlingseigenschaft eindeutig nicht relevant seien, sich als haltlos im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG erwiesen, als nicht vereinbar mit der publizierten und auch für die Vorinstanz verbindlichen Praxis der ARK.

4. Die Beschwerdeführer machen in ihrer Rechtsmitteleingabe geltend, in der Republik Ossetien-Alanien seien Menschen wegen ihrer Nationalität und ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt. Das EDA rate von Reisen in dieses Gebiet ab, da die persönliche Sicherheit von Reisenden in dieser Region weder von den Zentralbehörden noch von den lokalen Sicherheitsorganen gewährleistet werden könne; die Gefahr von Geiselnahmen sei hoch. Sie seien als ethnische Russen in der Republik Nordossetien-Alanien aufgrund ihrer Nationalität ernsthaften Nachteilen ausgesetzt. Da die russischen Behörden ihre Sicherheit nicht garantieren könnten, sei die Entführung nicht ernst genommen worden. Ohne Vermögen hätten sie sich keinen Anwalt leisten können und sie würden keinen Parlamentarier kennen, da sie sich früher nie für Politik interessiert hätten. Da die russischen Behörden nicht schutzfähig seien, seien sie in asylrechtlich relevanter Weise verfolgt worden.

5.a) Zunächst ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführer bis heute keine rechtsgenüglichen Identitätspapiere zu den Akten gereicht haben. Die Frage, ob es aufgrund der vorliegenden Gesamtumstände entschuldbare Gründe für die Nichteinreichung von Identitätspapieren gibt, kann vorliegend aufgrund der nachfolgenden Erwägungen offen gelassen werden.

b) Die Beschwerdeführer machten anlässlich der Anhörungen geltend, ihr Sohn sei von Banditen entführt, missbraucht und nach Bezahlung eines Teils des geforderten Lösegeldes wieder freigelassen worden. Sie seien von den Entführern aufgefordert worden, noch den restlichen Betrag nachzuzahlen. Sie hätten sich

[1] vgl. dazu die vorstehende Änderung der Rechtsprechung (EMARK 2003 Nr. 18)

  v. à ce sujet la modification de jurisprudence sous JICRA 2003 n° 18

  cfr. in proposito la modifica di giurisprudenza di cui a GICRA 2003 n. 18


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nicht an die Behörden gewandt, da sie dadurch in noch grössere Schwierigkeiten geraten wären. Die Vorinstanz verneinte die Frage von Hinweisen auf Verfolgung, die sich nicht als offensichtlich haltlos erwiesen, mit der - wie bereits oben ausgeführt, im Lichte der Praxis der ARK nicht haltbaren - Begründung, dass die Vorbringen der Beschwerdeführer für die Flüchtlingseigenschaft eindeutig nicht relevant seien. Aufgrund der Begründung zum Nichteintretenspunkt gibt die Vorinstanz implizit zu verstehen, dass die von den Beschwerdeführern geltend gemachten Vorbringen nicht auf den ersten Blick als unglaubhaft beziehungsweise haltlos erkennbar waren, da sie sich materiell mit diesen auseinandergesetzt hat. Mit anderen Worten ausgedrückt hat das BFF vorliegend nicht an der Glaubhaftigkeit der Aussagen der Beschwerdeführer gezweifelt und eine Überprüfung deren flüchtlings- beziehungsweise asylrechtlicher Relevanz nach Art. 3 AsylG vorgenommen. Nichts daran zu ändern vermag der Umstand, dass das BFF in seinen Ausführungen zu den eingereichten Beweismitteln deren Authentizität sinngemäss bezweifelt. Schliesslich hat sich das BFF nicht zur für den vorliegenden Fall zentralen Frage geäussert, inwiefern es angesichts des nicht als unglaubhaft erachteten vorgebrachten Sachverhalts zur Ansicht gelangt, es lägen auch keine Hinweise auf Verfolgung im weiten Sinne des Verfolgungsbegriffs vor (vgl. dazu nochmals: EMARK 1999 Nrn. 16 und 17 [2]). Die ARK gelangt aufgrund der Prüfung der Aktenlage zur Ansicht, dass die Vorbringen der Beschwerdeführer sich aus den oben angeführten Gründen nicht als offensichtlich haltlos im Sinne der zu beachtenden Bestimmung und der ARK-Praxis erweisen. Es liegen Hinweise auf eine Verfolgung im weiten Sinne des Verfolgungsbegriffs und somit im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG vor, welche einer materiellen Beurteilung bedürfen. Eine solche Beurteilung kann indessen nur im Rahmen einer materiellen Prüfung des Asylgesuches im ordentlichen Verfahren erfolgen und ist bei einem Nichteintretensentscheid unzulässig (vgl. EMARK 1993 Nr. 16, S. 105 2).

[2] vgl. dazu die vorstehende Änderung der Rechtsprechung (EMARK 2003 Nr. 18)

  v. à ce sujet la modification de jurisprudence sous JICRA 2003 n° 18

  cfr. in proposito la modifica di giurisprudenza di cui a GICRA 2003 n. 18

 

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© 26.11.03