indexEMARK - JICRA - GICRA  2003 / 19


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Auszug aus dem Urteil der ARK vom 6. August 2003 i.S. G.G., Georgien

Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG: Nichteintreten auf ein Asylgesuch; Hinweise auf Verfolgung.

1. Bei der Prüfung von Hinweisen auf Verfolgung ist ein weiter Verfolgungsbegriff anzuwenden (s. dazu vorstehendes Grundsatzurteil, EMARK 2003 Nr. 18) (Erw. 3c).

2. Als haltlos im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG gelten dabei nur solche Verfolgungshinweise, welche bereits auf ersten Blick als unglaubhaft erkennbar sind. Hinweise auf Verfolgung im weiten Sinne - in casu: Blutrache - dürfen dagegen nicht mit der Begründung als haltlos bezeichnet werden, wonach die Vorbringen nicht asylrelevant im Sinne von Art. 3 AsylG seien; eine solche Prüfung ist bei einem Nichteintretensentscheid unzulässig, was in der Regel dessen Kassation zur Folge hat (Erw. 3 und 4; vgl. dazu auch nachstehendes Urteil EMARK 2003 Nr. 20).

Art. 32 al. 2 let. a LAsi : non-entrée en matière sur une demande d'asile ; indices de persécution.

1. Lors de l'examen des indices de persécution, c'est la notion de persécution au sens large qui est applicable (cf. décision de principe JICRA 2003 n° 18) (consid. 3c).

2. Ne sont manifestement infondés au sens de l'art. 32 al. 2 let. a LAsi que les indices de persécution qui, à première vue déjà, apparaissent comme non crédibles. En revanche, les indices de persécution au sens large (in casu, une vendetta) qui, après examen des allégations du requérant, ne se révéleraient pas pertinents au regard de l'art. 3 LAsi, ne peuvent pas, pour cette raison, être qualifiés de manifestement infondés. En effet, un tel examen n’est pas admissible dans le cadre d'une décision de non-entrée en matière et conduit, en règle générale, à la cassation de la décision incriminée (consid. 3 et 4 ; cf. JICRA 2003 n° 20).


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Art. 32 cpv. 2 lett. a LAsi: non entrata nel merito di una domanda d'asilo; indizi di persecuzione.

1. Nozione d'indizio di persecuzione in senso lato secondo la decisione di principio GICRA 2003 n. 18 (consid. 3c).

2. Risultano manifestamente infondati secondo l'art. 32 cpv. 2 lett. a LAsi solo quegli indizi di persecuzione che si basano su dichiarazioni chiaramente inattendibili. Per contro, l'irrilevanza giusta l'art. 3 LAsi d'indizi di persecuzione in senso lato, quali la vendetta di sangue, non giustifica di per sé una decisione di non entrata nel merito della domanda d'asilo, con la conseguenza che una siffatta decisione va, di regola, annullata e gli atti rinviati per nuovo giudizio all'autorità inferiore. Infatti, l'esame riguardante la rilevanza di un indizio di persecuzione va esperito in procedura ordinaria (consid. 3 e 4; v. pure GICRA 2003 n. 20).

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Der Beschwerdeführer begründete sein Asylgesuch vom 18. Mai 2003 damit, er werde von der Familie eines einflussreichen Politikers mit Blutrache bedroht, weil er im Dezember 2000 in einen Verkehrsunfall verwickelt gewesen sei, als dessen Folge eine Cousine dieses Politikers ums Leben gekommen sei. Die Angehörigen dieser verunfallten Frau hätten das Haus der Familie des Beschwerdeführers beschossen und dabei seine Mutter verletzt. Ende Dezember 2000 sei sein Bruder nach Deutschland ausgereist und dort kurz danach ermordet worden. Im Mai 2003 hätten Unbekannte auf den Beschwerdeführer und zwei seiner Onkel geschossen; der eine Onkel sei dabei umgekommen, der andere schwer verletzt worden. Nach diesem Vorfall habe er Georgien verlassen.

Mit Verfügung vom 18. Juni 2003 trat das BFF auf das Asylgesuch des Beschwerdeführers nicht ein und verfügte gleichzeitig dessen sofortige Wegweisung aus der Schweiz. Einer allfälligen Beschwerde wurde die aufschiebende Wirkung entzogen. Das BFF begründete seinen auf Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG gestützten Nichteintretensentscheid damit, dass der Beschwerdeführer den Asylbehörden keinerlei Ausweispapiere als Identitätsnachweis eingereicht habe und dafür auch keine entschuldbaren Gründe vorlägen. Seine Vorbringen enthielten keine Hinweise auf Verfolgung, die sich nicht als offensichtlich haltlos erwiesen. Offensichtlich haltlos seien solche Hinweise, wenn keine vernünftigen Zweifel daran bestünden, dass sie nicht den Tatsachen entsprächen, oder wenn sie sich auf Ereignisse bezögen, die für die Flüchtlingseigenschaft eindeutig nicht relevant seien. Bei den von ihm geltend gemachten Vorfällen handle es


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sich um kriminelle Akte von privaten Drittpersonen. Die angeführten Nachteile hätten weder einen politischen, religiösen noch einen ethnischen Hintergrund, sondern bezögen sich ausschliesslich auf Racheakte von Seiten der Familie des verstorbenen Unfallopfers. Er hätte die Möglichkeit gehabt, sich diesbezüglich an die Behörden zu wenden und um Schutz nachzusuchen. Die Vorbringen des Beschwerdeführers bezögen sich auf Ereignisse, die für die Flüchtlingseigenschaft eindeutig nicht relevant seien, weshalb sie als offensichtlich haltlos zu qualifizieren seien. Den Wegweisungsvollzug erachtete das BFF als zulässig, zumutbar und möglich.

Gegen diese Verfügung erhob G.G. Beschwerde an die ARK.

Mit Zwischenverfügung vom 16. Juli 2003 wurde das sinngemässe Gesuch um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde vom Instruktionsrichter der ARK gutgeheissen.

Das BFF beantragte in seiner Vernehmlassung die Abweisung der Beschwerde.

Die ARK heisst die Beschwerde gut, hebt die angefochtene Verfügung auf und weist die Sache an das BFF zum neuen Entscheid zurück.

Aus den Erwägungen:

3.a) Die angefochtene Verfügung des BFF stützt sich auf den Nichteintretenstatbestand von Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG. Die von Art. 36 Abs. 1 AsylG geforderte Anhörung nach den Art. 29 und 30 AsylG ist vorab durchgeführt worden.

b) Gemäss Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG wird auf ein Asylgesuch nicht eingetreten, wenn Asylsuchende den Behörden nicht innerhalb von 48 Stunden nach Einreichung des Gesuches Reisepapiere oder andere genügliche Identitätspapiere abgeben. Diese Bestimmung findet keine Anwendung, wenn Asylsuchende für die Nichteinreichung von Identitätspapieren entschuldbare Gründe glaubhaft machen können, beziehungsweise wenn Hinweise auf eine Verfolgung vorliegen, die sich nicht als offensichtlich haltlos erweisen.

c) Die ARK geht in ihrer Praxis davon aus, dass bei der Beurteilung, ob Hinweise auf eine Verfolgung im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG vorliegen, von einem weiten Verfolgungsbegriff auszugehen ist. Dieser umfasst nicht nur auf Art. 3 AsylG und Art. 3 EMRK bezogene Vorbringen, sondern auch Vorbringen, die sich auf anderweitige Wegweisungshindernisse (namentlich im


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Sinne von Art. 3 EMRK, Art. 3 FoK und Art. 14a Abs. 4 ANAG) beziehen können (vgl. EMARK 1999 Nrn. 16 und 17). Zur Vermeidung von Wiederholungen kann diesbezüglich auf die Ausführungen in EMARK 1999 Nrn. 16 und 17 [1] verwiesen werden. Damit erweist sich bereits die einleitend geäusserte Auffassung der Vorinstanz, wonach Vorbringen, die für die Flüchtlingseigenschaft eindeutig nicht relevant seien, sich als haltlos im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG erwiesen, als nicht vereinbar mit der publizierten und auch für die Vorinstanz verbindlichen Praxis der ARK.

4.a) Der Beschwerdeführer wiederholt in seiner Beschwerdeschrift im Wesentlichen den bereits anlässlich der Befragungen vorgebrachten Sachverhalt und macht geltend, er könne gegenwärtig nicht nach Georgien zurückkehren.

b) Zunächst ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer bis heute keine Identitätspapiere zu den Akten gereicht hat. Im Sinne der Erwägungen des BFF ist festzuhalten, dass angesichts seiner Ausführungen und des Umstandes, dass er in Georgien offenbar über ein verzweigtes Beziehungsnetz verfügt, nicht von entschuldbaren Gründen für deren Nichteinreichung ausgegangen werden dürfte. Diesbezüglich kann auf die zutreffenden Ausführungen in der vorinstanzlichen Verfügung verwiesen werden.

c) Der Beschwerdeführer machte anlässlich der Anhörungen geltend, seine Familienangehörigen und er seien nach dem Unfall vom 5. Dezember 2000, in dessen Folge eine Frau gestorben sei, von deren Angehörigen angegriffen worden. Sein Bruder und sein Onkel seien im Rahmen der von den Angehörigen des Todesopfers angedrohten Blutrache getötet, seine Mutter und sein anderer Onkel seien verletzt worden. Sein Vater sei von der Polizei geschlagen worden, weil diese den Aufenthaltsort des Beschwerdeführers habe herausfinden wollen. Die Vorinstanz verneinte die Frage von Hinweisen auf Verfolgung, die sich nicht als offensichtlich haltlos erwiesen, mit der - wie bereits oben ausgeführt, im Lichte der Praxis der ARK nicht haltbaren - Begründung, dass die Vorbringen des Beschwerdeführers für die Flüchtlingseigenschaft eindeutig nicht relevant seien. Aufgrund der Begründung zum Nichteintretenspunkt gibt die Vorinstanz implizit zu verstehen, dass die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Vorbringen nicht auf den ersten Blick als unglaubhaft beziehungsweise haltlos erkennbar waren, da sie sich materiell mit diesen auseinandergesetzt hat. Mit anderen Worten ausgedrückt hat das BFF vorliegend nicht an der Glaubhaftigkeit der Aussagen des Beschwerdeführers gezweifelt und eine Überprüfung deren asyl­

[1] vgl. dazu die vorstehende Änderung der Rechtsprechung (EMARK 2003 Nr. 18)

  v. à ce sujet la modification de jurisprudence sous JICRA 2003 n° 18

  cfr. in proposito la modifica di giurisprudenza di cui a GICRA 2003 n. 18

 


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rechtlicher Relevanz nach Art. 3 AsylG vorgenommen. Schwer verständlich erscheint in diesem Zusammenhang der Umstand, dass das BFF bezüglich der Prüfung von Art. 3 EMRK in einer Art Kehrtwendung nunmehr an der Glaubhaftigkeit der Vorbringen des Beschwerdeführers Zweifel hegt, da es das Nichtvorliegen eines "real risk" mit wenig glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers begründet. Die entsprechenden Begründungen lassen sich somit nicht miteinander vereinbaren. Die ARK gelangt aufgrund der Prüfung der Aktenlage indessen ohnehin zur Ansicht, dass die Vorbringen des Beschwerdeführers sich nicht als offensichtlich haltlos im Sinne der zu beachtenden Bestimmung und der ARK-Praxis erweisen. Es liegen Hinweise auf eine Verfolgung im weiten Sinne des Verfolgungsbegriffs und somit im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG vor, welche einer materiellen Beurteilung bedürfen. Eine solche Beurteilung kann indessen nur im Rahmen einer materiellen Prüfung des Asylgesuches im ordentlichen Verfahren erfolgen und ist bei einem Nichteintretensentscheid unzulässig (vgl. EMARK 1993 Nr. 16, S. 105[2]).


 
 
[2] vgl. dazu die vorstehende Änderung der Rechtsprechung (EMARK 2003 Nr. 18)

  v. à ce sujet la modification de jurisprudence sous JICRA 2003 n° 18

  cfr. in proposito la modifica di giurisprudenza di cui a GICRA 2003 n. 18

 

 

 

 

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