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Auszug aus dem Urteil der ARK vom 1. Juli 2003 i.S. O.A. Afghanistan

Art. 3 AsylG, Art. 14a Abs. 1 - 4 ANAG: Analyse der aktuellen Situation in Afghanistan; Wegfall der Verfolgungsgefahr seitens der Taliban; Prüfung der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs.

1. Nach der internationalen militärischen Intervention vom Oktober 2001 haben die Taliban ihre frühere quasi-staatliche Herrschaft (vgl. EMARK 1997 Nr. 6) verloren. Erlittenen oder befürchteten Verfolgungen durch die Taliban kommt daher grundsätzlich keine Asylrelevanz mehr zu (Erw. 6 - 8).

2. Darstellung der Lage in Afghanistan, insbesondere Unterschiede zwischen der Stadt Kabul und anderen Regionen des Landes (Erw. 10b).

3. Infolge der vergleichsweise günstigeren Situation in Kabul kann der Wegweisungsvollzug dorthin unter bestimmten strengen Voraussetzungen (insb. einem tragfähigen Beziehungsnetz) als zumutbar erachtet werden (Erw. 10b.cc).

Art. 3 LAsi, art. 14a al. 1 - 4 LSEE : analyse de la situation actuelle en Afghanistan ; cessation du danger de persécutions de la part des Talibans ; examen de l'exigibilité de l'exécution du renvoi.

1. A la suite de l'intervention militaire internationale d'octobre 2001, les Talibans ont perdu le pouvoir quasi étatique qu'ils détenaient antérieurement (cf. JICRA 1997 n° 6). Les persécutions subies ou craintes de la part des Talibans ne sont, en principe, plus pertinentes au regard de l'asile (consid. 6 - 8).

2. Description de la situation en Afghanistan ; différences entre Kaboul et les autres régions du pays (consid. 10b).

3. En raison de la situation comparativement meilleure existant à Kaboul, l'exécution du renvoi peut y être exigée à certaines conditions strictes (en particulier présence d'un solide réseau de relations) (consid. 10b.cc).


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Art. 3 LAsi, art. 14a cpv. 1-4 LDDS: analisi della situazione attuale in Afghanistan; cessazione del pericolo di persecuzione da parte dei Taliban; esame dell'esigibilità dell'esecuzione dell'allontanamento.

1. A seguito dell'intervento militare internazionale dell'ottobre 2001 i Taliban non esercitano più un potere quasi-statale (GICRA 1997 n. 6). Le persecuzioni già subite o i timori dei Taliban non sono più, di principio, rilevanti in materia d'asilo (consid. 6-8).

2. Descrizione della situazione vigente in Afghanistan, segnatamente di quella della città di Kabul e d'altre regioni del Paese (consid. 10b).

3. Ritenuta la situazione comparativamente migliore vigente a Kabul, l'esecuzione dell'allontanamento verso la capitale può, a determinate condizioni restrittive - segnatamente in presenza di una solida rete sociale - essere considerata ragionevolmente esigibile (consid. 10b cc).

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Der Beschwerdeführer, ein Tadschike aus Kabul, verliess den Heimatstaat nach eigenen Angaben Mitte August 2001 und gelangte am 1. Oktober 2001 in die Schweiz, wo er am 3. Oktober 2001 um Asyl nachsuchte.

Im Wesentlichen machte der Beschwerdeführer geltend, er sei wiederholt von den Taliban behelligt worden. In Kabul habe er einen Blumenladen geführt, in welchem vornehmlich Frauen Blumen gekauft hätten. Diese hätten dabei in seinem Geschäft oft ihr Gesichtstuch abgenommen. Deswegen hätten die Taliban ihn mehrmals festgenommen und geschlagen. Sie hätten ihn zudem immer wieder aufgefordert, einen Bart und eine Kopfbedeckung zu tragen. Für den Inhalt der weiteren Aussagen wird auf die Akten verwiesen.

Das BFF stellte mit Verfügung vom 23. Oktober 2002 fest, der Beschwerdeführer erfülle die Flüchtlingseigenschaft nicht, und lehnte das Asylgesuch ab. Gleichzeitig verfügte es die Wegweisung des Beschwerdeführers aus der Schweiz.

Mit Beschwerde vom 20. November 2002 beantragte der Beschwerdeführer im Wesentlichen, die Verfügung des BFF sei aufzuheben, die Flüchtlingseigenschaft sei anzuerkennen und ihm Asyl zu gewähren. Sodann sei die Unzulässigkeit, Unzumutbarkeit und Unmöglichkeit des Wegweisungsvollzugs festzustellen und die vorläufige Aufnahme anzuordnen.


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Das BFF beantragte in seiner Vernehmlassung vom 19. Mai 2003 die Abweisung der Beschwerde.

Die ARK weist die Beschwerde ab.

Aus den Erwägungen:

6. a) Die Vorinstanz verneinte die Flüchtlingseigenschaft und lehnte die Asylgewährung mit der Begründung ab, der Beschwerdeführer habe jedenfalls zum heutigen Zeitpunkt keine begründete Furcht vor einer Verfolgung durch die Taliban mehr. Diese hätten durch die militärische Intervention der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan ihre Macht verloren. Im Dezember 2001 sei dort eine Übergangsregierung eingesetzt worden, welche um die Sicherheit und die Normalisierung der Situation bemüht sei. Im Übrigen könnten die geltend gemachten Behelligungen durch die Taliban auch nicht als erhebliche Nachteile im Sinne des Asylgesetzes qualifiziert werden.

b) Der Beschwerdeführer macht in seiner Eingabe dagegen sinngemäss geltend, er sei in Afghanistan noch immer gefährdet. Zwischen den heutigen Machthabern und den Taliban bestehe kein Unterschied.

7. Die angefochtene Verfügung des BFF vom Oktober 2002 erging im Rahmen der neuen Praxis des Bundesamtes bei der Behandlung von Asylgesuchen afghanischer Personen. Im November 2001 hatte das BFF seine Entscheidtätigkeit hinsichtlich dieser Nationalitätenkategorie aufgrund der unklaren und instabilen politischen Situation in Afghanistan vorübergehend ausgesetzt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren abgewiesene afghanische Asylbewerberinnen und -bewerber vom BFF nach Kenntnis der ARK in der Regel vorläufig aufgenommen worden. Das Entscheidmoratorium wurde von der Vorinstanz im September 2002 mit der Begründung aufgehoben, die Lage habe sich stabilisiert. Wie oben erwähnt, ging die Vorinstanz ab diesem Zeitpunkt davon aus, die Taliban seien infolge der militärischen Intervention der US-Koalition entmachtet worden. Somit müsse keine asylrechtlich relevante Verfolgung durch die Taliban mehr befürchtet werden. Ausserdem ging das BFF nach Feststellung der ARK ab Herbst 2002 dazu über, bei abgewiesenen afghanischen Asylsuchenden - besondere individuelle Schutzbedürfnisse vorbehalten - den Vollzug der Wegweisung als zumutbar zu qualifizieren.

Es erscheint der ARK als angezeigt, sich im Rahmen des vorliegenden Urteils mit dieser Praxisänderung des BFF auseinanderzusetzen, wobei zunächst ein


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kurzer Rückblick auf die historische Entwicklung der politischen Verhältnisse Afghanistans in den letzten Jahrzehnten vorzunehmen ist.

8. a) Nach dem Sturz des afghanischen Königs Mohammed Zahir Shah rief Mohammed Daud Khan Mitte 1973 die Republik aus. Nach einem Militärputsch errang im Jahre 1978 die orthodox-marxistische Demokratische Volkspartei die Macht. Ihr Bestreben, Afghanistan eng an die damalige Sowjetunion zu binden, führte zu innerstaatlichen Auseinandersetzungen mit verschiedenen muslimischen Gruppen und schliesslich zu einem Bürgerkrieg, in den Ende 1979 Truppen der damaligen Sowjetunion eingriffen. Im Jahre 1989 gelang es den - unter anderem von den USA, Saudi-Arabien und Pakistan unterstützten - so genannten Mujahedin, die rote Armee zum Abzug aus Afghanistan zu zwingen. Gegen Ende 1994 kamen die Taliban im Süden Afghanistans auf, brachten das Land in den darauffolgenden Jahren unaufhaltsam unter ihre Herrschaft, eroberten im September 1996 Kabul und übten später über rund 90 % des Staatsgebietes Afghanistans staatsähnlichen - in der asylrechtlichen Terminologie: "quasi-staatlichen" - Einfluss aus (vgl. EMARK 1997 Nr. 6, S. 41 ff.; 1999 Nr. 11, S. 77 f.). Die Terrorangriffe vom 11. September 2001 auf New York und Washington führten zur Militäroffensive alliierter Kräfte unter amerikanischer und britischer Führung und in der Folge zum Sturz des Taliban-Regimes, nachdem sich dieses geweigert hatte, den vermuteten Hauptverantwortlichen, Osama bin Laden, auszuliefern und seine Unterstützung dessen Organisation al-Kaida einzustellen. Im Schutz der am 7. Oktober 2001 begonnenen Luftangriffe der alliierten Kampftruppen machte die von Tadschiken dominierte Nordallianz rasche militärische Landgewinne und nahm bis Mitte Oktober 2001 Kabul und die wichtigsten anderen Städte des Landes ein. Ende 2001 wurden eine ethnisch gemischte Übergangsregierung und in der Region Kabul die Internationale Schutztruppe für Afghanistan (International Security Assistance Force; ISAF) eingesetzt. Der Vorsitzende der Übergangsregierung, der Paschtunenführer Hamid Karzai, wurde im Juni 2002 durch die traditionelle afghanische Ratsversammlung, die Loya Jirga, als Präsident des Islamischen Übergangsstaates Afghanistan gewählt. Die Macht der Übergangsregierung ist seither faktisch auf die Region Kabul beschränkt. Die übrigen Gebiete des Landes werden, ähnlich wie vor der Machtübernahme der Taliban, von verschiedenen Gouverneuren und Kriegsfürsten kontrolliert. Im Mai 2003 erklärte der amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld die Kampfhandlungen in Afghanistan für abgeschlossen. In den letzten Monaten waren auf dem ganzen Staatsgebiet - gehäuft im Südosten des Landes - wiederholte Anschläge auf US-amerikanische Stützpunkte, Einrichtungen und Repräsentanten internationaler Organisationen und der Zentralregierung zu registrieren, für welche verstreut operierende Terroreinheiten der Taliban und al-Kaida, regierungsfeindliche Kommandeure und im Untergrund operierende Mujahedingruppen verantwortlich gemacht werden.


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b.aa) Nach dem Gesagten, ist - wie von der Vorinstanz zutreffend festgestellt - im heutigen Zeitpunkt nicht mehr davon auszugehen, die Taliban kontrollierten bestimmte Gebiete Afghanistans. Aufgrund der militärischen Kräfteverhältnisse kann trotz der erwähnten Anschläge auch ausgeschlossen werden, dass es den Taliban in nächster Zeit gelingen könnte, die Kontrolle über Teile des afghanischen Staatsgebietes in der Weise wiederzuerlangen, dass wieder von einer dauerhaften, stabilen und effektiven Herrschaft im Sinne der Rechtsprechung der ARK zum Institut des Quasi-Staates (vgl. EMARK 1995 Nr. 2, S. 22 f.) auszugehen wäre. Mit dem Verlust ihrer quasi-staatlichen Herrschaft sind frühere Verfolgungen durch die Taliban damit grundsätzlich nicht mehr als asylrechtlich relevant zu qualifizieren.

bb) Einer Verfolgung durch nicht-staatliche Akteure sprechen die schweizerischen Asylbehörden, im Gegensatz zur mittlerweile weit überwiegenden Anzahl aller Signatarstaaten der Flüchtlingskonvention, die asylrechtliche Relevanz ab, was von der herrschenden Lehre und seitens der Flüchtlingsorganisationen seit längerer Zeit kritisiert wird (vgl. hierzu etwa EMARK 2000 Nr. 15, Erw. 9b, S. 115 f. mit weiteren Hinweisen). Im Rahmen des vorliegenden Beschwerdeverfahrens besteht keine Veranlassung, die konstante diesbezügliche Praxis der ARK einer grundsätzlichen Überprüfung zu unterziehen.

cc) Angesichts der Asylvorbringen des Beschwerdeführers und seines geringen Exponiertheitsgrades können zukünftige Behelligungen durch - untergetauchte oder verdeckt operierende - Taliban-Anhänger ohnehin ausgeschlossen werden. Soweit er vorbringt, zwischen der derzeitigen Übergangsregierung und den Taliban bestehe faktisch "kein Unterschied" und damit implizit geltend macht, er müsse befürchten, von der derzeitigen Regierung verfolgt zu werden, ist Folgendes auszuführen: Der Beschwerdeführer hat sich eigenen Angaben zufolge nie politisch aktiv betätigt. Es ist nicht davon auszugehen, dass er, beispielsweise wegen seiner beruflichen Kontakte zu Frauen oder wegen seines Unwillens, einen Bart und eine Kopfbedeckung zu tragen, berechtigterweise erwarten müsste, von der Übergangsregierung in flüchtlingsrechtlich relevanter Weise verfolgt zu werden. Die Übergangsregierung hat zwar ein "Departement für islamische Weisung" mit dem Ziel eingerichtet, dem Alkoholkonsum und der "Unzucht" mittels religiöser Belehrung vorzubeugen. Nach den vorliegenden Berichten ist das Wirken dieser Behörde (des auch nach der Vertreibung der "Gotteskrieger" streng islamischen Landes) indessen offensichtlich nicht mit demjenigen des berüchtigten Ministeriums der Taliban "zur Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasters" zu vergleichen.

c) Nach Kenntnis der ARK gehen mehrere westeuropäische Staaten - teils nach Aufhebung der Ende 2001 angeordneten Entscheidungsmoratorien - zur Zeit


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dazu über, die (nötigenfalls zwangsweise vollziehbare) Wegweisung abgewiesener afghanischer Asylsuchender in ihr Heimatland anzuordnen. Diese Praxis widerspiegelt sich auch in einem mit "Afghanistan Return Plan" betitelten Grundsatzpapier des Rats der Europäischen Union vom 25. November 2002; darin wird unter anderem festgehalten, dass es den Mitgliedstaaten freigestellt sei, afghanische Asylbewerber, die weder einer besonderen Risikogruppe angehörten, noch besonderen humanitären Schutzes bedürften, in ihr Heimatland zurückzuführen.

Das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) und die im Flüchtlingsbereich tätigen nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen sprechen sich demgegenüber zwar für die Unterstützung und Förderung der freiwilligen Rückkehr afghanischer Asylsuchender in ihr Heimatland, hingegen übereinstimmend und klar gegen zwangsweise Rückführungen nach Afghanistan aus. Auch diese Organisationen heben die Existenz von "Risikogruppen" besonders hervor, deren Angehörige trotz der Veränderung der politischen und militärischen Verhältnisse unter Umständen weiterhin befürchten müssten, in ihrem Heimatland in flüchtlingsrechtlich relevanter Weise verfolgt zu werden. Genannt werden in den verschiedenen der ARK vorliegenden Berichten und Stellungnahmen beispielsweise Angehörige des ehemaligen kommunistischen Regimes oder der Taliban, regimekritische Medienschaffende und Intellektuelle, Angehörige gewisser (insbesondere ethnischer) Gruppen, die in ihrer Herkunftsregion nicht mehr an der Macht sind, Angehörige religiöser Minderheiten und Konvertiten, Homosexuelle und westlich orientierte oder der afghanischen Gesellschaftsordnung aus anderen Gründen nicht entsprechende Frauen (vgl. zum Ganzen: UNHCR, Insecurity Threatening Afghan Return Programs, 17.4.2003; UNHCR, Aktualisierte Darstellung der Situation in Afghanistan und Überlegungen zum Internationalen Schutz für Afghanen, 24.9.2002; European Council for Refugees and Exiles [ECRE], Guidelines for the Treatment of Afghan Asylum Seekers and Refugees in Europe, April 2003; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Asylsuchende aus Afghanistan - Position der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, 10.3.2003; SFH, Afghanistan - die aktuelle Situation [Update], 3.3.2003; Amnesty International [AI], Briefing on the EU Return Plan to Afghanistan, 6.5.2003; Human Rights Watch [HRW], Afghanistan Unsafe for Refugee Returns, 23.7.2002).

Die asylrechtliche Situation von Angehörigen der genannten Gruppierungen wird von der ARK bei allfälligen konkreten Beschwerdeverfahren mittels einzelner Urteile zu klären sein.

d) Der Beschwerdeführer des vorliegenden Verfahrens gehört nach den vorstehenden Erwägungen namentlich auch hinsichtlich seiner ethnischen Zugehörig-


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keit keiner der erwähnten potenziellen Risikogruppen an: Die Tadschiken stellen zwar nicht die grösste der afghanischen Bevölkerungsgruppen dar (die Gruppe der Paschtunen vereinigt rund 40 %, die der Tadschiken 25 % und diejenige der Hazara zirka 15 % der afghanischen Bevölkerung); sie verfügen als Kerngruppe der Nordallianz aufgrund ihrer militärischen Rolle insbesondere bei der Eroberung der Hauptstadt Kabul aber über eine Stellung in der Zentralregierung, die von verschiedenen unabhängigen Beobachtern als politisches Übergewicht bezeichnet wird. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung des Beschwerdeführers in Kabul aufgrund seiner tadschikischen Ethnie kann damit ebenfalls ausgeschlossen werden.

e) Zusammenfassend folgt nach dem Gesagten, dass der Beschwerdeführer keine Gründe nach Art. 3 AsylG nachweisen oder glaubhaft machen konnte. Die Vorinstanz hat das Asylgesuch des Beschwerdeführers demnach zu Recht abgelehnt.

9. [...]

10. [...]

a) Niemand darf in irgendeiner Form zur Ausreise in ein Land gezwungen werden, in dem sein Leib, sein Leben oder seine Freiheit aus einem Grund nach Art. 3 Abs. 1 AsylG gefährdet sind oder in dem die Gefahr besteht, dass er zur Ausreise in ein solches Land gezwungen wird (Art. 5 Abs. 1 AsylG und Art. 25 Abs. 2 BV). Gemäss Art. 25 Abs. 3 BV, Art. 3 Folterkonvention und der Praxis zu Art. 3 EMRK darf niemand in einen Staat ausgeschafft werden, in dem ihm Folter oder eine andere Art grausamer und unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung droht.

Wie den vorstehenden Erwägungen entnommen werden kann, ist es dem Beschwerdeführer nicht gelungen, eine gemäss Art. 3 AsylG relevante Gefährdung nachzuweisen oder glaubhaft zu machen; mithin erfüllt der Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft nicht. Die Normen des flüchtlingsrechtlichen Non-refoulements (Art. 5 AsylG, Art. 25 Abs. 2 BV, Art. 33 FK) schützen nur Personen, welche die Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 3 AsylG beziehungsweise Art. 1 A FK erfüllen. Auf abgewiesene Asylbewerber mit fehlender Flüchtlingseigenschaft findet dieses Rückschiebungsverbot keine Anwendung. Nach dem Gesagten ist eine erzwungene Rückkehr des Beschwerdeführers in seinen Heimatstaat unter dem Aspekt von Art. 5 AsylG rechtmässig.

Sodann ergeben sich nach den vorstehenden Ausführungen weder aus den Aussagen des Beschwerdeführers noch aus den Akten Anhaltspunkte dafür, dass


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ihm für den Fall einer Ausschaffung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine nach Art. 3 EMRK oder Art. 1 FoK verbotene Strafe oder Behandlung drohen würde. Gemäss Praxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie jener des UN-Anti-Folterausschusses müsste der Beschwerdeführer eine konkrete Gefahr nachweisen oder glaubhaft machen, dass ihm im Fall einer Rückschiebung Folter oder unmenschliche Behandlung drohen würde (vgl. EMARK 2001 Nr. 16, S. 122, Nr. 17, S. 130 f., sowie 1996 Nr. 18, S. 182 ff. mit weiteren Hinweisen). Die allgemeine Menschenrechtssituation lässt den Wegweisungsvollzug praxisgemäss ebenfalls nicht als unzulässig erscheinen.

b) Aus humanitären Gründen, nicht in Erfüllung völkerrechtlicher Pflichten der Schweiz, wird auf den Vollzug der Wegweisung auch verzichtet, wenn die Rückkehr in den Heimatstaat für den Betroffenen eine konkrete Gefährdung darstellt. Eine solche kann angesichts der im Heimatland herrschenden allgemeinen politischen Lage, die sich durch Krieg, Bürgerkrieg oder durch eine Situation allgemeiner Gewalt kennzeichnet, oder aufgrund anderer Gefahrenmomente, wie beispielsweise einer notwendigen medizinischen Behandlung, angenommen werden (vgl. Botschaft zum Bundesbeschluss über das Asylverfahren vom 22. Juni 1990, BBl 1990 II 668).

aa) Nach Auswertung der zur Verfügung stehenden Informationsquellen muss die Sicherheitslage in Afghanistan - insbesondere wegen der mangelnden landesweiten Durchsetzungsfähigkeit und Akzeptanz der Übergangsregierung sowie der Unberechenbarkeit der lokalen Kriegsfürsten - als instabil bezeichnet werden. Im Norden Afghanistans, wo es seit dem Sturz der Taliban verschiedentlich zu Gewalteskalationen und namentlich zur Vertreibung von offenbar Zehntausenden von Paschtunen kam, entstand aufgrund von Rivalitäten zwischen dem usbekischen Kriegsfürsten Dostum und dessen tadschikischen Rivalen Atta ein Sicherheitsvakuum. In der Region Herat im Westen des Landes, die in verschiedenen Berichten als vergleichsweise ruhig (wenngleich mit erheblichem Spannungspotenzial belastet) beschrieben wird, hat der tadschikische Gouverneur Ismail Khan einen eigenen Kleinstaat errichtet. Am prekärsten stellt sich die Sicherheitslage verschiedenen Berichten zufolge namentlich in den (Süd-) Ostprovinzen im Grenzgebiet zu Pakistan dar: Der Osten und Süden des Landes wird von paschtunischen Mujahedin kontrolliert. In diesem Gebiet sammeln sich gemäss vorliegenden Berichten regierungsfeindliche Gruppen, darunter untergetauchte Angehörige der Taliban und der al-Kaida, um Anschläge und Überfälle gegen nationale und internationale Sicherheitskräfte auszuführen. Im Mai 2003 suspendierte die UNO alle Aktivitäten in den südlichen Provinzen Zabul, Oruzgan und Helmand, nachdem drei ihrer Mitarbeiter von Unbekannten angegriffen und verletzt worden waren. Der Aufbau einer nationalen Armee kommt nur zögernd zustande. Das Justizsystem ist zusammengebrochen. Die


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Regierung ist kaum imstande, gegen bewaffnete Gruppen vorzugehen. Die gemäss Schätzung der UNO im Land verbliebenen 5 bis 10 Millionen Landminen und Blindgänger - überdurchschnittlich stark betroffen sind offenbar die westlichen und östlichen Provinzen - stellen für die traditionelle afghanische Agrargesellschaft eine grosse Gefahr dar und behindern den Wiederaufbau des Landes zusätzlich.

Trotzdem kehrten im Jahre 2002 ungefähr 2 Millionen Menschen, mehrheitlich aus Pakistan und Iran, nach Afghanistan zurück. Davon zogen indessen bis Winterbeginn 2002 etwa 300'000 Personen wieder nach Pakistan zurück. Die grösste Gruppe von Heimkehrenden liess sich in der Ostprovinz Nangarhar und in der Provinz Kabul – davon etwa 650'000 Menschen im Grossraum Kabul – nieder. Ein Abkommen zwischen Afghanistan, Pakistan und dem UNHCR zur Rückführung von weiteren 1,2 Millionen Personen in den nächsten drei Jahren wurde im März 2003 unterzeichnet.

Die Sicherheitslage in Kabul kann dank der Präsenz von rund 5'000 Angehörigen der ISAF-Truppen und mehreren Tausend Polizisten trotz wiederholten Anschlägen als relativ stabil bezeichnet werden. Ab August 2003 wird die NATO zur Unterstützung der ISAF in Afghanistan präsent sein, wobei vorgesehen ist, dass der NATO-Rat die politische Kontrolle übernimmt.

bb) Die humanitäre und wirtschaftliche Situation in Afghanistan muss als desolat bezeichnet werden. Der Wiederaufbau kommt trotz internationaler Hilfe nur langsam voran. Das Land leidet unter einer jahrelangen Dürre; die Gefahr einer Hungersnot wird von verschiedenen Beobachtern als gross erachtet. Nach mehr als zwei Jahrzehnten (Bürger-) Krieg ist die bauliche Infrastruktur des Landes (Strassen, Brücken, Bewässerungssysteme, Schulen und Verwaltungsgebäude) ruiniert. Weite Teile des Landes, namentlich in den zentralen und nördlichen Landesteilen, sind auf dem Landweg nur schwer erreichbar, was die Versorgung der Bevölkerung mit Hilfsgütern erheblich beeinträchtigt. Eine ausreichende medizinische Versorgung der ausserstädtischen, insbesondere offenbar der zentralen und südlichen Landesteile, ist nicht gewährleistet. Nach Angaben des UNO-Kinderhilfswerks (UNICEF) vom April 2003 rangiert Afghanistan bei den Ländern mit der höchsten Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren weltweit an vierter Stelle. Die vorliegenden Quellen, unter anderem der Weltgesundheitsorganisation (WHO), geben die durchschnittliche Lebenserwartung mit 42 bis 45 Jahren an. Die Versorgung der Bevölkerung des Landes mit Nahrung und Trinkwasser ist nicht zufriedenstellend. Der einzige einträgliche Wirtschaftszweig ist der illegale Drogenhandel. Die Arbeitslosigkeit ist generell hoch.


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Im etwa zwei Millionen Einwohner zählenden Grossraum von Kabul stellt sich neben der Sicherheits- auch die humanitäre Situation aufgrund der grossen Präsenz internationaler Organisationen vergleichsweise besser dar. In den Märkten wird reger Handel getrieben; viele Handwerksbetriebe sind geöffnet. In der von zerstörten Häusern und Ruinen geprägten Stadt werden Gebäude wieder in Stand gestellt oder neu gebaut. Trotzdem herrscht, unter anderem aufgrund der Anzahl von Rückkehrern nach Kabul, welche die sozialen Strukturen stark belasten, ein grosser Mangel an Wohnungen. Die Wohnkosten sind stark angestiegen. Etwa eine halbe Million Menschen leben ohne angemessene Unterkunft. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung sollen über keinen ungehinderten Zugang zu sauberem Trinkwasser verfügen und sind auch diesbezüglich auf fremde Hilfe angewiesen. Eine minimale medizinische Grundversorgung erscheint dank der Präsenz der internationalen Hilfsorganisationen als weitgehend gewährleistet; Teile der medizinischen Infrastruktur der Stadt Kabul befinden sich aber weiterhin in schlechtem Zustand.

cc) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass aufgrund der derzeitigen Lage in der Stadt Kabul - im Unterschied zu anderen Gebieten des Landes - keine Situation allgemeiner Gewalt vorliegt. Der Beschwerdeführer kann daher nicht als "Gewalt- oder de-facto-Flüchtling" qualifiziert werden. Angesichts der auch in Kabul herrschenden äusserst schwierigen humanitären und wirtschaftlichen Situation drängt sich jedoch eine sorgfältige Prüfung der individuellen Kriterien auf, wobei der ARK insbesondere die Existenz eines tragfähigen Beziehungsnetzes sowie konkrete Möglichkeiten der Sicherung des Existenzminimums und der Wohnsituation als massgebend erscheinen.

Der 19-jährige, soweit aktenkundig gesunde und ledige Beschwerdeführer stammt eigenen Aussagen zufolge aus der Stadt Kabul, wo er gemäss Akten über ein tragfähiges familiäres Beziehungsnetz verfügt, zumal seine Eltern und Geschwister dort im eigenen Haus leben und eine eigene Apotheke führen. Seine Wohnsituation darf bei dieser Aktenlage daher als gesichert betrachtet werden. Der Beschwerdeführer verfügt über eine vergleichsweise gute Schulbildung und arbeitete mehrere Jahre in der Apotheke sowie im Blumengeschäft seines Vaters. Er gehört keiner der in verschiedenen Quellen erwähnten, so genannten "Vulnerable Groups" an; aus den Akten ergeben sich auch sonst keinerlei Hinweise auf andere spezifische Schutzbedürfnisse. Es ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer nach seiner Rückkehr wieder wird bei seiner Familie leben - und auch zu ihrem Unterhalt beitragen - können. Es steht dem Beschwerdeführer folglich offen und ist ihm zuzumuten, sich wieder in der Stadt Kabul niederzulassen.


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dd) Nach dem Gesagten kann der Vollzug der Wegweisung durch Rückschaffung des Beschwerdeführers nicht als unzumutbar bezeichnet werden.

 

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