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Auszug aus dem Urteil der ARK vom 22. August 2000 i.S. H.O., Irak

[English Summary]

Art. 44 Abs. 2 AsylG: Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs in das faktisch autonome kurdische Gebiet im Norden des Irak.

1. Im kurdisch kontrollierten Teil des Nordirak liegt keine generell existenzbedrohende Situation vor. Insoweit wird die Praxisänderung des BFF grundsätzlich bestätigt, wonach für Personen, welche die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllen, eine Rückkehr in dieses Gebiet - unter ausdrücklichem Ausschluss einer Rückführung in den zentralstaatlich kontrollierten Landesteil - nicht mehr als generell unzumutbar betrachtet wird (Erw. 8a und b).

2. Bei der Frage der Zumutbarkeit einer Rückkehr ins kurdische Gebiet ist zunächst danach zu unterscheiden, ob es sich um eine ursprünglich aus dem zentralstaatlich kontrollierten Teil des Irak stammende Person handelt; in diesen Fällen ist eine Rückkehr in das autonome kurdische Gebiet nur ausnahmsweise - bei Vorhandensein besonderer Beziehungen zu diesem Gebiet oder anderer günstiger Faktoren - als zumutbar zu erachten (Erw. 8c.aa).

3. Stammt die gesuchstellende Person aus dem autonomen kurdischen Gebiet oder hat sie dort vor ihrer Ausreise längere Zeit gelebt, ist die Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs - auch ohne Beziehungsnetz - in der Regel gegeben, wenn gegenteilige Indizien aufgrund der familiären Situation, der Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit, des Alters und der Gesundheit oder anderer Faktoren hinlänglich ausgeschlossen werden können (Erw. 8c.bb).

Art. 44 al. 2 LAsi : exigibilité de l'exécution du renvoi dans les zones autonomes kurdes du nord de l'Irak.

1. Dans les deux zones autonomes du Nord de l'Irak contrôlées par les Kurdes, il n'existe pas de situation de violence généralisée. Dans cette mesure, le changement de pratique de l'ODR est confirmé comme suit : le retour, dans ces zones, de personnes qui ne remplissent pas la qualité de réfugié n'est plus, de manière générale, considéré comme in-


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exigible, étant précisé que le retour dans la partie du pays contrôlée par l'État central est expressément exclu (consid. 8a et b).

2. Lors de l'examen de l'exécution du renvoi dans une zone autonome kurde, il s'agit prioritairement de vérifier si l'on a affaire à des personnes originaires de la partie de l'Irak contrôlée par l'État central. Si tel est le cas, le retour dans la zone autonome kurde ne sera raisonnablement exigible que dans des cas exceptionnels, notamment si les personnes concernées y bénéficient d'un réseau social ou d'autres facteurs favorables à leur réinsertion (consid. 8c.aa).

3. Si le requérant est originaire d'une zone autonome kurde ou qu'il y a vécu assez longtemps, son retour est, en règle générale, exigible - même en l'absence d'un réseau de relations - pour autant qu'aucun indice contraire ne s'y oppose, que ce soit en raison de la situation familiale, de l'appartenance à une minorité religieuse, de l'âge, des conditions de santé ou de tout autre critère (consid. 8c.bb).

Art. 44 cpv. 2 LAsi: esigibilità dell'esecuzione dell'allontanamento verso le zone autonome curde dell'Iraq settentrionale.

1. Nelle zone autonome dell'Iraq settentrionale controllate dai curdi non sussiste una situazione di violenza generalizzata. È pertanto stata tutelata la nuova valutazione dell'UFR secondo la quale per le persone che non adempiono la qualità di rifugiate, un ritorno in dette zone autonome, ad esclusione di tutte le altre controllate dal governo centrale, ha cessato d'essere considerato siccome generalmente inesigibile (consid. 8a e b).

2. Nell'esame dell'esigibilità dell'esecuzione dell'allontanamento verso le zone autonome curde, occorre dapprima verificare se si tratta dell'allontanamento di persona originaria delle zone dell'Iraq controllate dal governo centrale; se tale è il caso, il ritorno nelle zone autonome curde è esigibile solo eccezionalmente, in presenza di particolari relazioni sociali in tali zone o di altri fattori favorevoli al reinserimento (consid. 8c.aa).


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3. Se il richiedente proviene da una zona autonoma curda dell'Iraq settentrionale, o se vi ha vissuto per un periodo sufficientemente lungo prima dell‘espatrio, l'esigibilità dell'esecuzione dell'allontanamento è generalmente data, indipendentemente dall'esistenza di relazioni sociali, nella misura in cui non emergono dagli atti di causa indizi contrari dovuti alla situazione familiare, all'appartenenza a una minoranza religiosa, all'età, alle condizioni di salute o ad altri fattori (consid. 8c.bb).

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Der Beschwerdeführer verliess seinen Heimatstaat gemäss eigenen Angaben am 1. August 1998 in Richtung Iran und gelangte am 10. September 1999 in die Schweiz, wo er am gleichen Tag ein Asylgesuch stellte. Nach einer Kurzbefragung im Transitzentrum wurde er am 1. November 1999 von der zuständigen kantonalen Behörde zu den Gründen für sein Asylgesuch angehört.

Der Beschwerdeführer machte im Wesentlichen geltend, er sei kurdischer Ethnie und stamme aus der Region Dohuk. Sein Vater habe im Jahre 1998 zwei Männer aus seinem Dorf umgebracht, weil einer von diesen in den 80er Jahren seinen Grossvater umgebracht habe. Daraufhin sei sein Vater von den Brüdern der Opfer ebenfalls getötet worden. Die Gesetzmässigkeit der Blutrache fordere indes ein weiteres Opfer aus seiner Familie. Da er der älteste Sohn sei, hätten die Verwandten der Opfer den Beschwerdeführer ebenfalls umbringen wollen. Sie seien zudem auch von der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) aufgefordert worden, den Beschwerdeführer zu töten. Nach dem Tod seines Vaters sei der Beschwerdeführer in den Iran gegangen, weil es ihm nicht möglich gewesen sei, sich in einem anderen Landesteil in Sicherheit zu bringen. Einer seiner Freunde, der auch mit der besagten Familie befreundet sei, habe ihm im Winter 1998 aus dem Irak die Nachricht gebracht, dass diese Familie seinen Aufenthaltsort kenne. Im Iran habe er illegal gelebt, bis er von einem Gericht einen Brief erhalten habe. Darin sei er aufgefordert worden, sich innerhalb von 24 Tagen zu melden. Der Beschwerdeführer sei überzeugt gewesen, dass dieser Brief auf Veranlassung besagter Familie geschrieben worden sei, weshalb er sich nicht gemeldet habe. Er habe zudem befürchtet, dass die iranischen Behörden ihn wegen seiner illegalen Arbeitstätigkeit festhalten, foltern und dann in den Irak zurückschieben würden. Deshalb habe er den Iran schliesslich verlassen und sei via die Türkei in die Schweiz eingereist. In seinem Heimatland sei er nie festgenommen worden und habe auch nie vor 


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Gericht gestanden. Zudem sei er politisch nie aktiv gewesen.

Mit Verfügung vom 17. Januar 2000 lehnte das BFF das Asylgesuch des Beschwerdeführers ohne weitere Abklärungen ab und ordnete dessen Wegweisung aus der Schweiz an. Zur Begründung wurde angeführt, seine Vorbringen hielten den Anforderungen an die Flüchtlingseigenschaft nicht stand. Im Weiteren ordnete die Vorinstanz den Vollzug der Wegweisung an, wobei eine Wegweisung in den zentralstaatlich kontrollierten Teil des Irak ausdrücklich ausgeschlossen wurde. Dagegen stellte die Vorinstanz fest, in den Nordirak sei der Vollzug der Wegweisung zulässig, zumutbar und möglich.

Mit Eingabe vom 14. Februar 2000 erhob der Beschwerdeführer gegen den Entscheid des BFF - beschränkt auf den Punkt des Vollzuges der Wegweisung - Beschwerde. In seiner Eingabe beantragt er die Aufhebung der angefochtenen Verfügung und die Feststellung der Unzulässigkeit, eventualiter der Unzumutbarkeit, subeventualiter der Unmöglichkeit des Wegweisungsvollzuges und die Anordnung der vorläufigen Aufnahme in der Schweiz. Im Übrigen beantragte er die unentgeltliche Prozessführung.

In ihrer Vernehmlassung vom 1. März 2000 hielt die Vorinstanz an der angefochtenen Verfügung fest und beantragte die Abweisung der Beschwerde. Der Beschwerdeführer hat von der ihm gebotenen Gelegenheit zur Replik keinen Gebrauch gemacht.

Die ARK heisst die Beschwerde gut und weist das BFF an, den Beschwerdeführer vorläufig aufzunehmen.

Aus den Erwägungen:

5. a) Die Vorinstanz erachtet den Vollzug der Wegweisung des Beschwerdeführers in den Nordirak, unter ausdrücklichem Ausschluss einer Wegweisung in den zentralstaatlich kontrollierten Teil, als zulässig, zumutbar und möglich. Zur Begründung wird vorgebracht, weder die im kurdisch kontrollierten Teil des Nordirak herrschende politische Situation noch andere Gründe würden gegen die Zumutbarkeit der Rückführung des Beschwerdeführers in den betreffenden nördlichen Landesteil des Iraks sprechen. Im kurdisch kontrollierten Teil des Nordirak könne aus heutiger Sicht nicht von einer Situation allgemeiner Gewalt gesprochen werden, die einen Wegweisungsvollzug unter dem Gesichtspunkt von Art. 14a Abs. 4 ANAG als unzumutbar erscheinen liesse. Ins-


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besondere seit der Einstellung der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den innerkurdischen Fraktionen im Jahre 1997 und der Unterzeichnung des Washingtoner Friedensabkommens durch die beiden führenden kurdischen Parteien KDP und PUK (Patriotic Union of Kurdistan) im Jahre 1998 erweise sich die allgemeine Situation im Nordirak als grundsätzlich stabil, verbunden namentlich auch mit einer deutlich verbesserten Menschenrechtslage. Die Versorgung mit den notwendigen Grundnahrungsmitteln sei ebenfalls gewährleistet. So erhalte jede im kurdischen Teil des Nordirak lebende Person, unabhängig von ihrer politischen Einstellung oder ethnischen Zugehörigkeit, eine monatliche Lebensmittelration, die durch das Welternährungsprogramm der UNO verteilt werde. Der Zugang zur öffentlichen medizinischen Infrastruktur schliesslich sei ebenfalls gewährleistet, soweit es sich um die medizinische Grundversorgung handle. Ausserdem sei der Vollzug der Wegweisung in den kurdisch kontrollierten Teil des Nordirak technisch möglich und praktisch durchführbar.

b) Der Beschwerdeführer bringt in seiner Rechtsmittelschrift vor, die allgemeine Lage im Nordirak sei, entgegen der Einschätzung der Vorinstanz, nach wie vor höchst unsicher. Der Einschätzung des BFF, wonach sich die Lage seit 1998 als grundsätzlich stabil erweise, müsse widersprochen werden. So spreche das Deutsche Orient-institut in seiner Einschätzung vom März 1999 davon, dass eine militärische Besetzung der drei Kurdenprovinzen durch die Zentralregierung sowie die Wiederherstellung der vollen Souveränität Bagdads wahrscheinlich und sogar eine Gruppenverfolgung der Kurden in naher Zukunft möglich sei. Hinzu kämen zahlreiche Ereignisse im Rahmen der fortdauernden Spannungen zwischen den einzelnen Provinzherren. Weiter sei das Erstarken fundamentalistischer Gruppierungen, die ebenfalls ein enormes Gewaltpotential aufbauten, zu berücksichtigen. Nicht zu vergessen seien die kriegerischen Interventionen der Türkei, welche auf dem Gebiet des Nordirak PKK-Stellungen angreife. Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) gehe in ihrer Pressemitteilung vom 1. Februar 2000 davon aus, dass die Situation im Nordirak weiterhin instabil sei. Die Zukunft des Nordirak erscheine gesamthaft als derart prekär, dass eine Rückkehr im heutigen Zeitpunkt eine konkrete Gefährdung an Leib und Leben mit sich brächte und der Wegweisungsvollzug schon daher weiterhin als unzumutbar bezeichnet werden müsse. Hinzu komme, dass sich die Vorinstanz überhaupt nicht mit der Frage auseinandergesetzt habe, ob der Beschwerdeführer vor dem Hintergrund der allgemeinen Lage im Nordirak überhaupt über ein dringend notwendiges soziales und ökonomisches Netz verfüge. Gemäss EMARK 1996 Nr. 2 wären die Sicherung des wirtschaftlichen Existenzminimums, Bezug zum Zufluchtsort und soziale Integration zu prüfen. 


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Angesichts der grossen Zahl an intern vertriebenen Personen im Gebiet des Nordirak und des hohen Grades an Abhängigkeit der Region von humanitärer Hilfe durch ausländische und internationale Organisationen sei eine effektiv valable interne Ausweichmöglichkeit im Nordirak wohl nur im Ausnahmefall zu bejahen, wenn Hinweise auf besonders günstige Bedingungen im Einzelfall vorlägen. Im vorliegenden Fall sei dies nicht gegeben. Der Beschwerdeführer habe keine zumutbare Fluchtalternative, da ihn die Häscher der verfeindeten Familie überall jagen und finden würden. Der Beschwerdeführer sei daher im ganzen Gebiet des Iraks konkret gefährdet im Sinne von Art. 14a Abs. 4 ANAG. Schliesslich sei der Wegweisungsvollzug offensichtlich in absehbarer Zeit nicht möglich. Es existiere keine offizielle, mithin legale Reiseroute in den Nordirak. Damit könne auch eine freiwillige Rückkehr, ohne zwangsweisen Vollzug, nicht zugemutet werden. Es gehe nicht an, dass die Schweiz die weggewiesenen Flüchtlinge gleichsam auf den illegalen und gefährlichen Schlepperweg verweise. Indem die Vorinstanz bewusst in Kauf nehme, dass die praktische Umsetzung der Wegweisung, ob durch freiwillige Rückkehr oder durch zwangsweisen Vollzug, auf absehbare Zeit nicht möglich sei, und dennoch an der Anordnung der Wegweisung festhalte, verstosse sie gegen Treu und Glauben. Laut Art. 44 Abs. 2 AsylG sei bei Unmöglichkeit der Wegweisung nach wie vor eine vorläufige Aufnahme anzuordnen. Mit dem gewählten Vorgehen des BFF würden bewusst zahlreiche Personen in die langjährige Fürsorgeabhängigkeit ohne Aussicht auf Verbesserung ihres Status getrieben, was letztlich nicht dem staatlichen Interesse dienen dürfte. Bekanntlich sei nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens beziehungsweise erfolgter rechtskräftiger Anordnung der Wegweisung die Erwerbstätigkeit ausgeschlossen. Die Anordnung des Wegweisungsvollzugs sei daher auch aus der Warte einer Güterabwägung unangemessen beziehungsweise unverhältnismässig.

c) In ihrer Vernehmlassung hält die Vorinstanz an der angefochtenen Verfügung fest und beantragt die Abweisung der Beschwerde. Unter Hinweis auf eine Vernehmlassung in anderer Sache (vgl. dazu Grundsatzurteil vom 12. Juli 2000 i.S. O. M., EMARK 2000 Nr. 15) legt sie umfangreiche dogmatische Ausführungen zum Thema innerstaatliche Fluchtalternative dar, auf welche im vorliegenden Verfahren indessen nicht näher einzugehen ist. Betreffend das vorliegend betroffene Prozessthema - Zulässigkeit, Zumutbarkeit und Möglichkeit des Wegweisungsvollzuges - legt die Vorinstanz im Wesentlichen Folgendes dar: Nach Einschätzung des BFF sei bei weiterem Bestehen der amerikanisch-britischen Flugverbotszone ein Vorstoss der irakischen Armee in die kurdisch kontrollierten Gebiete im Nordirak nicht als wahrscheinlich zu er-


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achten, wenn auch ein solcher Vorstoss naturgemäss nicht restlos ausgeschlossen werden könne. Es verstehe sich von selbst, dass die Gebiete weder untereinander noch gegen den Zentralirak hermetisch abgeriegelt seien. Dies wäre auch unerwünscht, da sowohl der private Personenverkehr als auch der Güterverkehr möglich sein sollten. Die beiden kurdischen Parteien seien jedoch gewillt und in einem ausreichenden Umfang in der Lage, ihre Autorität in ihrem Gebiet zu gewährleisten und Aktivitäten anderer Geheimdienste oder Milizen möglichst zu unterbinden. Die Frage nach dem Schutzwillen sowie nach der Schutzfähigkeit bleibe jedoch in jedem Fall Teil der Einzelfallprüfung. Im Falle des Beschwerdeführers seien aus den Akten keine Anhaltspunkte ersichtlich, aus welchen zwingend der Schluss gezogen werden müsse, dass in seinem Fall der Schutzwille oder die Schutzfähigkeit der KDP nicht gegeben sei. Attentate im Nordirak, welche dem Regime in Bagdad zugeschrieben werden könnten, hätten seit Herbst 1997 stark abgenommen und richteten sich hauptsächlich gegen exponierte arabische Oppositionelle und abgesprungene höhere Militär- und Geheimdienstangehörige. Auch Anschläge seitens kleinerer und extremer islamistischer Gruppierungen kämen vor. Diesen Tatsachen sei im Rahmen der Einzelfallprüfung Rechnung zu tragen. Menschenrechtsverletzungen kämen vor und würden von den Regierungen nicht bestritten. Die Lage habe sich indes seit 1997 verbessert. Der Einflussbereich der PKK beschränke sich auf das Grenzgebiet zur Türkei. Insbesondere die Städte Zakho, Dohuk und Erbil seien wegen der konsequenten Politik der KDP weitgehend unberührt von den bewaffneten Aktionen der PKK und böten eine hinreichend sichere Wohnsitzalternative. Seit 1997 habe es zudem keine Angriffe der türkischen Armee auf das PUK-Gebiet mehr gegeben. Auch wenn das Washingtoner Abkommen vom 17. September 1998 noch nicht in allen Punkten umgesetzt worden sei, habe sich die Beziehung zwischen der KDP und der PUK stabilisiert. Deshalb könne nach Einschätzung des BFF von einer ausreichenden Stabilität ausgegangen werden. Der Beschwerdeführer habe die Möglichkeit, über die Türkei oder via den Iran direkt in den von der KDP oder der PUK kontrollierten Teil des Nordirak zurückzukehren. Beim Beschwerdeführer handle es sich um einen Kurden aus dem KDP-Gebiet. Den von ihm geltend gemachten Behelligungen seitens Dritter könne er sich durch Verlegung seines Wohnsitzes innerhalb des kurdisch kontrollierten Gebietes entziehen. Die Weiterreise in diese Gebiete und eine allfällige Durchreise durch diese seien als unproblematisch einzustufen. Die ersten freiwilligen Rückkehrer seien Ende 1999 via die Türkei und mit Unterstützung der International Organisation for Migration (IOM) bis zum Grenzübergang Ibrahim Khalil in den Nordirak zurückgereist, wobei sich keine Probleme ergeben hätten. Eine Aus- beziehungsweise Einreise via die durch die KDP respektive PUK kontrollierten 


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Grenzübergänge im Nordirak könnten zudem nicht als gezielte Umgehung der offiziellen Grenzkontrollen gewertet werden, da dies für eine aus dem Nordirak stammende Person der natürliche Weg nach Europa sei.

6. Aufgrund der gesamten Aktenlage ist von folgendem Sachverhalt auszugehen. Der Beschwerdeführer sieht sich an seinem Heimatort beziehungsweise in seiner Heimatregion (KDP-Gebiet) mit einer drohenden Blutrache konfrontiert. Sein Vater brachte im Rahmen einer Blutrache im Jahre 1998 zwei Männer aus seinem Dorf um, woraufhin er selbst zum Opfer der Rache von Seiten der Familie der Getöteten wurde. Der Beschwerdeführer als ältester Sohn wäre aufgrund der Gesetzmässigkeit der Blutrache das nächste Opfer. Dieser Verfolgung entzog sich der Beschwerdeführer durch Ausreise in den Iran, wo er ungefähr ein Jahr lang illegal lebte.

Dieser Sachverhalt wird vom BFF grundsätzlich nicht bestritten. Die Darstellung dieser Familienfehde erscheint plausibel; die Kommission hat keinen Anlass, die Glaubhaftigkeit der Vorbringen des Beschwerdeführers in Zweifel zu ziehen.

Vom BFF wird allerdings nicht die Blutrache an sich in Zweifel gezogen, sondern das Ausmass der daraus für den Beschwerdeführer entstehenden Gefährdung. Mit dem Argument, die mit dem Beschwerdeführer verfeindete Familie habe dessen Aufenthaltsort gekannt, ohne dass dieser deswegen in Gefahr geraten sei, nimmt das BFF an, der Beschwerdeführer könne sich innerhalb der kurdisch kontrollierten Gebiete an einem anderen als seinem Heimatort unbehelligt niederlassen. Dies ist indessen keine Frage der Sachverhaltsfeststellung, sondern eine solche der Einschätzung einer Gefährdung und damit eine Frage der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts bzw. der Ermessensausübung, auf welche bei der Prüfung der Zulässigkeit bzw. der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs einzugehen ist (s. hinten Erw. 7c und 9).

7. a) Der Vollzug der Wegweisung des Beschwerdeführers in den Irak verletzt den Grundsatz des Non-refoulement gemäss Art. 5 AsylG nicht, da das darin statuierte Rückschiebungsverbot nur Flüchtlingen im Sinne von Art. 3 AsylG Schutz bietet. Die Feststellung des BFF, wonach der Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllt, ist unangefochten in Rechtskraft erwachsen. Unter diesem Titel ist daher vorbehältlich allfälliger subjektiver Nachfluchtgründe (dazu sogleich) der Vollzug der Wegweisung des Beschwerdeführers zulässig.


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b) Zur Frage der Unzulässigkeit des Wegweisungsvollzugs in den Nordirak aufgrund subjektiver Nachfluchtgründe wird auf das diesbezügliche Grundsatzurteil verwiesen, in welchem die ARK ihre bisherige Praxis (EMARK 1999 Nr. 29) insofern teilweise modifiziert, als für Kurden aus dem Norden des Irak aufgrund der Einreichung eines Asylgesuchs im Ausland und der illegalen Ausreise keine subjektiven Nachfluchtgründe mehr angenommen werden (vgl. dazu Grundsatzurteil vom 22. August 2000 i.S. N.S., EMARK 2000 Nr. 16, Erw. 5). Auch unter diesem Titel ist daher der Wegweisungsvollzug als zulässig zu bezeichnen.

c) Über den Non-refoulement-Schutz des Art. 5 AsylG hinausgehend beinhaltet Art. 14a Abs. 3 ANAG zwar weitere völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz (insbesondere Art. 3 EMRK und Art. 3 FoK), die dem Vollzug der Wegweisung entgegenstehen können. Die Gefahr, im Land, wohin der Betroffene ausgeschafft werden soll, zum Opfer von Blutrache zu werden, kann die drohende Ausschaffung u.U. als unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK erscheinen lassen. Dass der drohende Übergriff auf Leib und Leben nicht von staatlicher, sondern von privater Urheberschaft stammt, ist unter diesem Aspekt nicht massgeblich (s. dazu EMARK 1996 Nr. 18, Erw. 14b, S. 182 ff., mit weiteren Hinweisen).

(...)

Indessen kann diese Frage unter dem Aspekt der Zulässigkeit des Wegweisungsvollzugs letztlich offen bleiben, da - wie nachfolgend darzulegen - der Vollzug der Wegweisung des Beschwerdeführers sich ohnehin als unzumutbar erweist.

8. a) In den bereits publizierten Entscheiden betreffend den Irak (vgl. EMARK 1996 Nr. 9 und EMARK 1999 Nr. 29) hat sich die ARK kaum zur Frage der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzuges geäussert.

Das BFF hatte in seiner früheren Praxis bei sämtlichen irakischen Staatsangehörigen grundsätzlich eine vorläufige Aufnahme angeordnet. Die ARK hatte aufgrund der bisherigen Beschwerdeverfahren nie Veranlassung, diese Praxis in Frage zu stellen. Diese Praxis wird insofern vom BFF weitergeführt, als eine Wegweisung in den zentralstaatlich kontrollierten Teil des Irak weiterhin generell - somit auch für aus dem Norden stammende Personen - als unzumutbar gilt. Geändert hat das BFF diese Praxis nur insoweit, als es um die Rückreise in das autonome kurdische Gebiet im Nordirak geht; in dieser Hinsicht 


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geht nunmehr das BFF davon aus, dass der Wegweisungsvollzug grundsätzlich als zumutbar erachtet werden könne. Vorliegend stellt sich somit die Frage, ob - soweit es um eine Rückführung in das Gebiet im Norden des Irak geht (vgl. nachfolgend) - gute beziehungsweise genügende Gründe dafür bestehen, um von der früheren Praxis, welche die Rückkehr in Bezug auf das gesamte irakische Staatsgebiet als unzumutbar erachtete, abzuweichen.

b) Wie in den Grundsatzurteilen vom 12. Juli 2000 i.S. M.O. und vom 22. August 2000 i.S. N.S. (vgl. EMARK 2000 Nr. 15 und Nr. 16) festgestellt wird, hat der irakische Zentralstaat seit dem Jahre 1991 faktisch die direkte Kontrolle über die drei kurdischen Provinzen Dohuk, Erbil und Suleimaniyah verloren. Dieses Gebiet wird heute zur Hauptsache von der KDP auf der einen Seite und der PUK auf der anderen Seite kontrolliert. Der nordwestliche Teil des Gebietes - im Wesentlichen das Gebiet der KDP - liegt innerhalb einer amerikanisch-britischen Flugverbotszone, der südöstliche Teil - im Wesentlichen das Gebiet der PUK - hingegen nicht (vgl. dazu Grundsatzurteil vom 12. Juli 2000 i.S. M.O., EMARK 2000 Nr. 15, Erw. 11b, zweitletzter Abschnitt). Dieser Flugverbotszone kommt im Übrigen hauptsächlich eine geostrategische Bedeutung zu; einen besonderen Schutz vermittelt sie der örtlichen Bevölkerung nicht. Das Gebiet im Nordirak verfügt nicht über einen besonderen völkerrechtlichen Status; von den verschiedenen interessierten Parteien wird es einhellig als integraler Bestandteil des Irak bezeichnet.

Aus den umfassenden Erwägungen im Grundsatzurteil vom 12. Juli 2000 i.S. M.O., EMARK 2000 Nr. 15, ergibt sich, dass sich die heutige Situation im Norden des Irak aufgrund verschiedenster Interessen und in Wechselwirkung zwischen einer beachtlichen Anzahl sehr unterschiedlicher "Mitspieler" (Zentralstaat, KDP, PUK, Internationale Gemeinschaft im Sinne der UNO, Internationale Gemeinschaft im Sinne der aus dem Golfkrieg entstandenen militärischen Allianz; im Weiteren auch islamistische Gruppierungen sowie im nördlichen Grenzgebiet die PKK und die türkische Armee) entwickelt hat. Nach teilweise sehr heftigen Kämpfen zwischen der KDP und der PUK - teilweise unter Beteiligung zentralstaatlicher Kräfte (Eroberung von Erbil) - in den Jahren 1996/1997, kam es durch Vermittlung der USA am 17. September 1998 zu einem Abkommen zwischen der KDP und der PUK (sog. Washingtoner Abkommen). Seither hat sich die Lage im Norden des Irak merklich beruhigt. In seiner heutigen Form bleibt der Zustand - faktische Autonomie - aufrechterhalten, weil er so am ehesten den verschiedenen - teils divergierenden, teils korrespondierenden - Interessen der verschiedenen "Mitspieler" entspricht. Im 


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Nordirak besteht ein sehr fragiles Gleichgewicht; dessen weitere Zukunft erscheint ungewiss.

Infolge der ungewissen politischen Lage sowie des untergründigen Machtkampfes zwischen PUK und KDP sind Personen, welche als Mitglieder oder aktive Sympathisanten der Führungspartei des jeweils anderen Gebietes bekannt geworden sind oder deren nahe Angehörige ein erhebliches Engagement für diese Partei an den Tag legen oder gelegt haben, insofern gefährdet, als die herrschende Führungspartei nicht gewillt ist, ihnen Schutz zu gewähren (vgl. dazu auch Grundsatzurteil vom 12. Juli 2000 i.S. M.O., EMARK 2000 Nr. 15, Erw. 9d und 11d). Eine allfällige Partizipation bei den Auseinandersetzungen im Jahre 1996 ist dabei als erhebliches, risikoerhöhendes Element einzustufen (vgl. dazu auch Deutsches Orient-Institut, Bericht vom 30. März 1999 an das VG Oldenburg). Während und nach diesem Konflikt zwischen der KDP und der PUK haben beide Seiten ernsthafte Menschenrechtsverletzungen begangen. Bis heute halten die PUK und die KDP Gefangene der Gegenseite. Das IKRK besucht regelmässig rund 500 Sicherheitshäftlinge (politische Gefangene) beider Seiten (UNHCR, Country Papers, "The Kurds - A Regional Issue: Update to April 1998"). Ebenso gefährdet sind Personen, welche sich von der im jeweiligen Gebiet herrschenden Partei loslösen wollen oder Mitglied einer anderen Partei sind. Die Loslösung von der Partei beziehungsweise die Verweigerung des Beitritts wird sowohl von der PUK als auch der KDP als Opposition angesehen. So wurden Mitglieder und Anhänger der IWCP (Irakische Kommunistische Arbeiterpartei) im KDP-Gebiet wiederholt verfolgt und festgenommen. Ebenso wurden Mitglieder der International Federation of Iranian Refugees (IFIR) in Erbil allein aufgrund ihrer politischen Tätigkeit verhaftet (vgl. SFH-Position, Lageanalyse - September 1998 bis Dezember 1999, S. 10). Zudem führt die Nichtzugehörigkeit zur gebietsbeherrschenden Partei regelmässig zum Ausschluss vom Zugang zu Universitäten, Schulen oder Verwaltung.

Neben Personen, welche sich für eine der beiden im Norden des Irak herrschenden Parteien engagiert haben, müssen indes auch weitere Personengruppen als eher gefährdet gelten. So müssen PKK-Sympathisanten und Personen, die verdächtigt werden, solche zu sein, im Gebiet der KDP als besonders exponiert gelten. Obwohl die PKK im Gebiet der PUK nicht aktiv ist, können sie dort nicht auf Schutz hoffen (vgl. dazu Grundsatzurteil vom 12. Juli 2000 i.S. M.O., EMARK 2000 Nr. 15). Sowohl im Gebiet der PUK als auch zunehmend im Gebiet der KDP etablieren sich verschiedene islamische Gruppierungen. Mit Verstärkung der radikal-islamistischen Gruppierungen muss auch mit 


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der weiterhin aktuellen Verfolgung sogenannter Ehrdelikte (wie beispielsweise Ehebruch) gerechnet werden (vgl. Independent Womens‘ Organisation Iraqi Kurdistan; SFH-Position, a.a.O., S. 11f.). Ferner müssen Personen, welche dem Islamic Movement of Iraqi Kurdistan (IMIK) oder anderen islamistischen Gruppierungen als Zielscheibe dienen (beispielsweise Personen, welche gegen Kleider- und andere religiöse Vorschriften verstossen), mit Übergriffen dieser Gruppierungen rechnen. Ferner ist insbesondere in ländlichen Gebieten entlang der Grenze zur Türkei und damit im faktischen Einflussbereich der PKK davon auszugehen, dass Personen, die sich erklärtermassen gegen diese stellen oder gestellt haben, einer Nachstellung durch die PKK ausgesetzt sind.

Die Situation der ethnischen Minderheiten stellt sich unterschiedlich dar. Währenddem die Turkmenen, welche wie die Kurden sunnitischen Glaubens sind, aufgrund der vorliegenden Informationen grundsätzlich keinen Diskriminierungen oder Benachteiligungen gegenüber den Kurden ausgesetzt sind, gilt dies nicht unbedingt für die Assyrer (vgl. SFH/OSAR, Lageanalyse Nordirak, Januar 2000, S. 12 ff.). Zwar kann nicht von systematischer Verfolgung der Christen ausgegangen werden; die kurdischen Parteien nehmen eine tolerante Haltung ein. Hingegen kommt es auf lokaler Ebene immer wieder zu Spannungen und Zwischenfällen, oft im Zusammenhang mit Landstreitigkeiten. Eine Bedrohung geht insbesondere auch von den islamistischen Gruppen aus. Das Siedlungsgebiet der Assyrer befindet sich im Wesentlichen im Grenzbereich zwischen KDP und PUK. Angehörige der assyrischen Glaubensgemeinschaft sind deshalb auf beiden Gebieten Gefährdungen ausgesetzt und können bei Auseinandersetzungen leicht zwischen die Fronten geraten. Insbesondere auf dem Gebiet der KDP werden assyrische Dörfer zeitweise durch die KDP blockiert und von der Umwelt abgeschnitten. (Auch das BFF scheint offenbar davon auszugehen, dass der Wegweisungsvollzug bei Assyrern nicht zumutbar ist; vgl. N 336 920).

Gemäss UNHCR-Bericht bestehen zwischen dem Zentralstaat und den kurdischen Organisationen - insbesondere der KDP, vermutlich auch der PUK - seit dem Frühjahr 1997 zunehmend (engere) Verbindungen (vgl. UNHCR, Country Papers, a.a.O, S. 6; Pro Asyl / Asylmagazin, Irak – Republik des Schreckens, Ziff. 4.2). Infolgedessen steht Personen aus Zentralirak mit politischem Hintergrund, exponierten arabischen Oppositionellen sowie abgesprungenen höheren Militär- oder Geheimdienstangehörigen - zumal solchen Personen in der Regel die Flüchtlingseigenschaft zukommen dürfte - keine Ausweichmöglichkeit im Nordirak offen. Weder die PUK noch die KDP sind in der Lage, diese Gruppe gegen Anschläge durch den zentralirakischen Geheimdienst zu 


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schützen; vielmehr soll es schon zu Auslieferungen an Bagdad gekommen sein (vgl. Grundsatzurteil vom 12. Juli 2000 i.S. M.O., EMARK 2000 Nr. 15, Erw. 9e).

Die oben skizzierte allgemein instabile, politische Lage wirkt sich direkt auf die wirtschaftlichen Investitionen und damit auf die ökonomische Entwicklung sowie die Beschäftigungsmöglichkeiten aus. Aufgrund der immer noch hohen Arbeitslosigkeit (70-80%) findet die Bevölkerung, soweit sie nicht gänzlich von der humanitären Hilfsleistungen abhängt, ihr Auskommen in der lokalen Landwirtschaft. In Folge des "Oil for food"-Programms kam es trotz des nunmehr seit zehn Jahren bestehenden Embargos nicht zu einer Hungersnot. Auch die medizinische Grundversorgung ist - wenn auch auf einem tiefen Niveau - im Wesentlichen gewährleistet. Die intern Vertriebenen aus dem zentralstaatlich kontrollierten Teil, welche aufgrund der bestehenden tribalen Gesellschaftsstruktur kaum vom wirtschaftlichen System aufgenommen werden beziehungsweise sich nur schwer eingliedern können, stellen eine erhebliche soziale Belastung dar. Das Jahr 1999 war das trockenste Jahr im Irak seit 1932. Bis im Dezember 1999 gab es lediglich 50 mm Niederschlag. Der Saddam-Stausee in Mosul war im Dezember 1999 lediglich noch zu 9% gefüllt, also praktisch leer (vgl. IKRK, "Iraq: A decade of sanctions", ICRC activities on behalf of Iraqi civilians, 1999 - 2000, vom 14. Dezember 1999, S. 8; SFH-Position, a.a.O., S. 18). Es ist deshalb, wenn nicht bereits jetzt, so zumindest in naher Zukunft mit massiven Ernteausfällen und deshalb mit Engpässen bei der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln zu rechnen. Inwieweit das Welternährungsprogramm der UNO in dieser Situation eine hinreichende Versorgung ohne direkte Einflussnahme der politischen Kräfte hinsichtlich der Empfänger sicherzustellen vermag, wird sich erst weisen. Für alleinstehende Frauen sowie Familien mit Kindern erweisen sich die schwierigen sozio-ökonomischen Bedingungen wie Arbeitslosigkeit, mangelnde medizinische Versorgung, soweit sie über den Grundbedarf hinausgeht, als folgenschwer, sofern sie nicht über ein tragfähiges Beziehungsnetz im Nordirak verfügen. Eine medizinische Behandlung, welche über die allgemeine Grundversorgung hinausgeht, erweist sich trotz internationaler Hilfslieferungen als kaum erhältlich.

Insgesamt ist festzustellen, dass die Lage im Nordirak zwar von grosser Ungewissheit über künftige Entwicklungen geprägt ist, jedoch gegenwärtig trotz der untergründig angespannten Situation nicht von Krieg, Bürgerkrieg oder einer Situation allgemeiner Gewalt gesprochen werden kann. Die sozio-ökonomische Lage im kurdisch kontrollierten Gebiet des Irak ist trotz der genannten Schwierigkeiten infolge der vorhandenen Subsistenzwirtschaft und dem Handel mit 


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den Nachbarländern (bzw. organisierter Schmuggel) jedenfalls weit weniger prekär als im zentralstaatlich kontrollierten Teil.

Die vorhandenen Informationen führen zum Schluss, dass ohne Vorhandensein besonderer Unzumutbarkeitsindizien allein wegen der allgemeinen Lage im kurdisch kontrollierten Teil des Nordirak nicht von einer generell existenzbedrohenden Situation gesprochen werden kann. Eine solche Position wird denn auch von keiner der verschiedenen Personen und Organisationen vertreten, welche sich in den der Kommission vorliegenden Unterlagen zur Lage geäussert haben (s. insb. UNHCR, Notes on Iraqi Asylum-seekers regarding the Applicability of Internal Relocation Alternative and the Question of Return of Rejected Cases, Juni 1999, Ziff. 17; vgl. auch Position der SFH/OSAR vom Januar 2000, welche in ihrer "Juristischen Analyse", Ziff. 2.1. festhält, dass "nicht von einer generellen Unzumutbarkeit ausgegangen werden kann").

Aufgrund dieser Umstände kann die bisherige Annahme nicht mehr aufrechterhalten werden, eine Rückkehr in den Nordirak sei generell unzumutbar. Soweit es diesen Ansatz betrifft, kann die Praxisänderung des BFF bestätigt werden. Dies lässt indessen keineswegs den Umkehrschluss zu, eine Rückkehr in den Irak sei generell zumutbar. Vielmehr gebieten die im Nordirak herrschenden Zustände, die jeweilige Fallsituation einer differenzierten Prüfung nach den nachfolgenden Leitlinien zu unterziehen.

c) Bei der Prüfung der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs ist zunächst grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Personen, welche aus dem faktisch autonomen Gebiet stammen oder dort während längerer Zeit ansässig waren, und Personen, welche aus dem zentralstaatlich kontrollierten Teil des Iraks stammen.

aa) Für Personen, welche ursprünglich aus dem zentralstaatlich kontrollierten Teil des Irak stammen, ist eine Rückkehr in das autonome kurdische Gebiet nur ausnahmsweise - bei Vorhandensein besonderer Beziehungen zum autonomen kurdischen Gebiet oder anderer günstiger Faktoren - als zumutbar zu erachten. Soweit es sich nicht um Kurden oder allenfalls Turkmenen handelt, dürfte dies im Allgemeinen nicht zutreffen. Soweit es sich um Personen kurdischer oder turkmenischer Ethnie handelt, welche aus dem zentralstaatlich kontrollierten Teil Kurdistans (Gebiet um Kirkuk und Mosul) stammen und von der dort durch das zentralstaatliche Regime betriebenen Arabisierungs- und Vertreibungspolitik betroffen sind (vgl. dazu im Einzelnen das urteil vom 21. August 2000 i.S. U.M., EMARK 2000 Nr. 17) ist zwar grundsätzlich davon 


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auszugehen, dass diese wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit prinzipiell Aufnahme finden und nicht gefährdet sind. Allerdings ist besonders zu berücksichtigen, dass eine Integration dieser "intern Vertriebenen" im autonomen Gebiet nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist; die Rückkehr in das autonome Gebiet ist ihnen daher in der Regel nur dann zuzumuten, wenn sie über besondere Anknüpfungspunkte zum Norden wie insbesondere ein tragfähiges Beziehungsnetz zu dort ansässigen Personen verfügen oder allenfalls andere besonders günstige Faktoren (wie beispielsweise eine gute Ausbildung) bestehen und auch keine zusätzlichen Unzumutbarkeitsindizien (nachfolgend bb) bestehen. Andernfalls ist der Vollzug der Wegweisung in der Regel als unzumutbar zu erachten.

bb) Bei Personen, welche aus dem Norden des Irak stammen oder dort während längerer Zeit ansässig waren, ist hingegen - unbesehen der Frage eines Beziehungsnetzes - nach den nachfolgenden Kriterien in differenzierter Weise einzelfallweise zu prüfen, ob besondere Unzumutbarkeitsindizien oder andere Wegweisungshindernisse vorhanden sind, welche gegen die Zumutbarkeit des Vollzugs sprechen. Solche Gründe sind insbesondere (d.h. in nicht abschliessender Weise) nach folgenden Kriterien festzustellen:

- familiäre Situation, insbesondere bei Familien mit Kindern;

- ethnische bzw. religiöse Zugehörigkeit (kann vor allem bei Assyrern und Jeziden oder anderen religiösen Minderheiten eine Rolle spielen);

- Alter und Gesundheit;

- sonstige Unzumutbarkeitsindizien: darunter fallen spezifische Gefährdungen - soweit nicht bereits unter dem Titel der Flüchtlingseigenschaft oder der Zulässigkeit des Wegweisungsvollzugs von Bedeutung - insbesondere im Zusammenhang mit politischer Tätigkeit, Zugehörigkeit zu besonders "exponierten" Familien, sog. Ehrdelikte etc.

Nur wenn Unzumutbarkeitsindizien aufgrund der genannten Kriterien mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden können, ist der Wegweisungsvollzug in Abweichung von der früheren Praxis des BFF als zumutbar zu erachten. Gibt es dagegen Hinweise auf solche Unzumutbarkeitsindizien oder andere Gründe, welche gegen die Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzuges sprechen können, so bestehen keine genügenden Gründe, von der bisherigen Praxis abzurücken, weshalb in diesen Fällen weiterhin eine vorläufige Aufnahme anzuordnen ist.


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9. Im vorliegenden Fall ist eine Rückkehr des Beschwerdeführers in den Nordirak nicht als zumutbar zu erachten.

a) Der Beschwerdeführer stammt aus Dohuk, welches im Herrschaftsbereich der KDP liegt. Wie oben dargelegt (vgl. Erw. 6), ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in seiner Heimatregion einer Drittverfolgung ausgesetzt ist. Damit liegt in casu zumindest bezüglich des Wegweisungsvollzugs in das von der KDP kontrollierte Gebiet ein "anderes Wegweisungshindernis" vor (vgl. Erw. 8c.bb). Zu prüfen ist im folgenden die Frage, ob es dem Beschwerdeführer offen steht, sich der angedrohten Blutrache durch Wohnsitznahme in einem anderen Teil des Nordirak - beispielsweise im Gebiet der PUK - zu entziehen.

b) Es ist somit das Vorhandensein einer valablen innerstaatlichen Ausweichmöglichkeit im von der PUK kontrollierten Gebiet zu prüfen. Der Beschwerdeführer gehört zwar in Bezug auf das PUK-Gebiet nicht einer der oben angeführten Risikogruppen an. Indes verfügt er im Gebiet der PUK über kein Beziehungsnetz. Den Akten ist vielmehr zu entnehmen, dass sich seine Familienangehörigen weiterhin in seinem Heimatdorf in der Region Dohuk aufhalten. Auch ergeben sich keinerlei Hinweise darauf, dass er bereits früher im PUK-Gebiet gelebt hätte. Der Beschwerdeführer verfügt weder über eine gute Schulausbildung noch über einen erlernten Beruf. Vielmehr arbeitete er im Wesentlichen in der elterlichen Landwirtschaft in seinem Heimatdorf. Aufgrund der vorhandenen Clanstrukturen, welche das gesellschaftliche Leben und den Zugang zu den Ressourcen bestimmen, ist davon auszugehen, dass es dem Beschwerdeführer nicht möglich wäre, sich im PUK-Gebiet eine neue Existenz aufzubauen, zumal er dort vor der angedrohten Blutrache keinen effektiven Schutz erwarten könnte (vgl. vorstehende Erw. 7c) und daher auch in diesem Teil des Nordirak gezwungen wäre, sich bedeckt zu halten, um die Häscher nicht auf seine Spur zu führen. Es muss folglich davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer sich der ihm im KDP-Gebiet drohenden Blutrache nur dann durch Wohnsitznahme im PUK-Gebiet entziehen könnte, wenn er sich dort ständig versteckt aufhalten würde. Da der Beschwerdeführer im PUK-Gebiet kein Beziehungsnetz hat, wäre ihm nach Auffassung der Kommission eine solche Lebensführung mittel- respektive längerfristig nicht zuzumuten.

Der Vollzug der Wegweisung des Beschwerdeführers in den Nordirak erscheint deshalb als unzumutbar.

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© 27.06.02