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Auszug aus dem Urteil der ARK vom 27. April 1999 i.S. V.S., Türkei

[English Summary]

Art. 19 [neu: Art. 42] Abs. 2 Bst. c AsylG [1]: Vorsorgliche Wegweisung in einen Drittstaat wegen enger Beziehungen zu dort lebenden Personen.

  1. Auslegung der Bestimmung unter Vergleich mit den analogen Formulierungen in Art. 6 [neu: Art. 52] Abs. 1 Bst. b und Art. 13d Abs. 2 Bst. c [neu: Art. 23 Abs. 1 Bst. d] AsylG (Erw. 3).

  2. Die Wegweisung in einen Drittstaat nach dieser Bestimmung setzt voraus, dass die Angehörigen oder anderen Personen, zu welchen der Asylsuchende enge Beziehungen hat, in jenem Staat ein Bleiberecht besitzen, das nicht bloss vorübergehender Natur ist. Der Status als Asylbewerber reicht dazu nicht aus (Erw. 4).

Art. 19 [nouveau : art. 42] al. 2, let. c LAsi [2]: renvoi préventif dans un pays tiers en raison de relations étroites avec des personnes y vivant.

  1. Interprétation de cette norme au regard des formulations analogues figurant aux art. 6 [nouveau : art. 52] al. 1, let. b et art. 13d, al. 2, let. c [nouveau : art. 23, al. 1, let. d] LAsi (consid. 3).

  2. Le renvoi dans un pays tiers suppose, selon l’art. 19, al. 2 LAsi, que les parents ou les autres personnes avec qui le demandeur d’asile entretient des relations étroites jouissent dans ce pays d’un droit d’y demeurer au-delà d’un séjour passager ; dans ce sens, un simple statut de demandeur d’asile n’est pas suffisant (consid. 4).


[1]  Anm. der Red.: Bei vor dem 1. Oktober 1999 ergangenen Entscheiden werden die Gesetzesartikel des AsylG vom 5. Oktober 1979 zitiert. Zum Gesetzestext vgl. die Fussnote zu Art. 120 (Schlussbestimmungen) des AsylG vom 26. Juni 1998 (SR 142.31).

[2]  N.d.l.r. : s’agissant des décisions d’avant le 1er octobre 1999, ce sont les articles de la LAsi du 5 octobre 1979 qui sont cités. Pour le texte légal, on se référera à la note marginale de l'art. 120 (dispositions finales) LAsi du 26 juin 1998 (RS 142.31).


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Art. 19 [nuovo: art. 42] cpv. 2 lett. c LAsi [3]: rinvio preventivo in un Paese terzo in ragione degli stretti vincoli con persone ivi viventi.

  1. Interpretazione di questa norma comparata a quelle con formulazione analoga di cui all’art. 6 [nuovo: art. 52] cpv. 1 lett. b e art. 13d cpv. 2 lett. c [nuovo: art. 23 cpv. 1 lett. d] LAsi (consid. 3).

  2. Il rinvio in un Paese terzo presuppone, in virtù dell’art. 19 cpv. 2 LAsi, che i parenti, o le altre persone con le quali il richiedente l’asilo ha stretti vincoli, fruiscano in detto Paese di un diritto di risidenza che vada al di là di un soggiorno provvisorio; in questo senso, lo statuto di richiedente l’asilo non è sufficiente (consid. 4).

Zusammenfassung des Sachverhalts:

V.S., seine Ehefrau und ihre drei Kinder reisten am 1. Februar 1999 in die Schweiz ein, wo sie gleichentags an der Empfangsstelle Basel Asylgesuche stellten.

Anlässlich der Kurzbefragung in der Empfangsstelle Basel vom 10. Februar 1999 machte V. S. im Wesentlichen geltend, er sei alevitischer Kurde aus A. und habe als Sympathisant beziehungsweise Mitglied der HADEP Probleme mit den Behörden gehabt. Ein Schlepper habe ihn und seine Familie nach Deutschland gebracht, dort hätten sie sich einen Tag aufgehalten, Bekannte hätten ihnen geraten, in der Schweiz ein Asylgesuch zu stellen, da die Situation in Deutschland gegenwärtig schlecht sei (Rückschaffungen von Kurden in die Türkei). In Deutschland würden sich eine Schwester und zwei Brüder als Asylbewerber aufhalten. Er habe in Deutschland kein Asylgesuch gestellt.

Die Ehefrau hielt während der Kurzbefragung in der Empfangsstelle Basel vom 10. Februar 1999 fest, sie sei aufgrund der Probleme ihres Mannes ausgereist. Sie bestätigte dessen Angaben und erklärte, sie habe in der Schweiz eine Cousine mit C-Bewilligung.


[3]  Nota redazionale: per le sentenze rese prima del 1°ottobre 1999 sono citati gli articoli della LAsi del 5 ottobre 1979. Per il testo legale, va fatto riferimento alla nota marginale dell’art. 120 (disposizioni finali) LAsi del 26 giugno 1998 (RS 142.31).


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Die deutschen Behörden erklärten sich auf Anfrage des BFF vom 15. Februar 1999 sowie gestützt auf Art. 2 des Rückübernahmeabkommens zwischen Deutschland und der Schweiz gleichentags bereit, Familie S. wieder nach Deutschland einreisen zu lassen.

Am 18. Februar 1999 hörte das BFF die Eheleute S. im Rahmen der Gewährung des rechtlichen Gehörs im Hinblick auf eine vorsorgliche Wegweisung gemäss Art. 19 Abs. 2 AsylG ergänzend an. Dabei hielten diese fest, sie hätten aufgrund der Menschenrechte die Schweiz als Asylland gewählt. Hätten sie in Deutschland ein Asylgesuch stellen wollen, so hätten sie dies auch getan.

Mit Zwischenverfügung vom 18. Februar 1999 - welche gleichentags eröffnet wurde - ordnete das BFF die Wegweisung der Gesuchsteller nach Deutschland an, forderte diese auf, die Schweiz sofort zu verlassen, beauftragte den Kanton Basel-Stadt mit dem Vollzug der Wegweisung und entzog einer allfälligen Beschwerde gegen die Zwischenverfügung die aufschiebende Wirkung.

Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Weiterreise nach Deutschland sei möglich, zulässig und zumutbar, da dort nahe Angehörige (2 Brüder und 1 Schwester des Gesuchstellers, als Asylbewerber) lebten, zu denen die Gesuchsteller enge Beziehungen unterhalten würden. In der Schweiz hingegen hätten beide Gesuchsteller keine nahen Verwandten. Die Gesuchsteller erfüllten somit die gesetzlichen Voraussetzungen für ihre vorsorgliche Wegweisung nach Deutschland, wo sie nicht aus einem Grund nach Art. 3 Abs. 1 AsylG an Leib, Leben oder Freiheit gefährdet seien und auch keine Rückweisung in einen allfälligen Verfolgerstaat zu befürchten hätten.

Mit Eingabe vom 19. Februar 1999 beantragten die Beschwerdeführer bei der ARK sinngemäss die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde sowie die Aufhebung der angefochtenen Verfügung.

Zur Begründung wird festgehalten, Familie S. habe in Deutschland kein Asylgesuch gestellt und dort auch nie ein solches stellen wollen. Die Beschwerdeführer hätten kein Vertrauen in die deutsche Justiz, da ihnen Fälle bekannt seien, in welchen Kurden in die Türkei abgeschoben und dort umgebracht worden seien. Sie befürchteten, dass ihnen das selbe Schicksal widerfahren würde.

Mit Zwischenverfügung vom 24. Februar 1999 stellte der zuständige Instruktionsrichter die aufschiebende Wirkung der Beschwerde wieder her.


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Am 26. Februar 1999 wurden die Beschwerdeführer durch das BFF dem Kanton Basel-Stadt zugewiesen.

In ihrer Vernehmlassung vom 11. März 1999 hält die Vorinstanz an der angefochtenen Verfügung fest und beantragt die Abweisung der Beschwerde.

Die ARK heisst die Beschwerde gut, hebt die angefochtene Zwischenverfügung auf und weist das BFF an, das Verfahren in materieller Hinsicht weiterzuführen.

Aus den Erwägungen:

3. Die Vorinstanz bejaht die Durchführbarkeit des sofortigen Vollzugs nach Deutschland ausschliesslich gestützt auf Art. 19 Abs. 2 Bst. c AsylG, also aufgrund der Feststellung, in Deutschland würden nahe Verwandte leben, zu denen die Gesuchsteller enge Beziehungen unterhalten würden. Damit wird stillschweigend anerkannt, dass die (nicht abschliessend genannten) alternativ zu erfüllenden Voraussetzungen von Bst. a und b (staatsvertragliche Zuständigkeit zur Behandlung eines Asylgesuches, "einige Zeit" Aufenthalt im Drittstaat) nicht gegeben sind und im Rahmen des Beschwerdeverfahrens auch nicht weiter überprüft werden müssen. Ebensowenig besteht im vorliegenden Verfahren ein sonstiger (völkerrechtlicher oder landesrechtlicher) Anspruch auf Regelung des Aufenthaltes in einem Drittstaat (oder andere Gründe, welche eine Rückführung in den Drittstaat ermöglichen würden, vgl. dazu EMARK 1994 Nr. 12, S. 106 ff., Erw. 3c).

In der bisher publizierten Rechtsprechung der ARK finden sich zur Frage der vorsorglichen Wegweisung keine Urteile, die sich speziell auf die Frage des Art. 19 Abs. 2 Bst. c AsylG beziehen. Allerdings ist diese Bestimmung das verfahrensmässige Pendant zu Art. 6 AsylG (insbesondere Art. 6 Abs. 1 Bst. b, welcher dieselbe Formulierung verwendet). Dazu sind in EMARK 1996 Nr. 26 Ausführungen zu finden. In diesem Fall, in welchem ein bosnischer Muslime bereits vor Ausbruch des Bürgerkrieges in Bosnien-Herzegowina Wohnsitz in Kroatien genommen und mit einer kroatischen Staatsangehörigen eine Familie gegründet hatte, waren die Beziehungen zu Personen im Ausland, beziehungsweise deren Aufenthaltsstatus im Drittstaat von solcher Qualität, dass die Aufnahme im Drittstaat als sicher gelten konnte.


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Demgegenüber wurde in EMARK 1997 Nr. 16, welcher sich mit einer vorsorglichen Wegweisung gemäss Art. 13d Abs. 2 AsylG im Flughafenverfahren befasst und dessen Bst. c identisch formuliert ist wie Art. 19 Abs. 2 Bst. c AsylG, festgehalten: "Die Wegweisung in einen Drittstaat ist zumutbar, wenn der Betroffene zu diesem Staat eine nicht nur lose Verbindung aufweist, sondern eine solche von gewisser Qualität. Dabei obliegt den Behörden die Beweisführungs- und Beweislast" (Regest 2 mit weiteren Verweisen, u. A. auf EMARK 1994 Nr. 12). Zwar befasst sich dieser Entscheid mit dem Begriff "Aufenthalt im Drittstaat"/"einige Zeit", also mit Bst. b von Art. 19 Abs. 2 AsylG. Jedoch ist die Qualität der Verbindung zum Drittstaat angesprochen (beziehungsweise zu Personen, die in diesem Staat leben, also ein gesichertes Aufenthaltsrecht besitzen) und es wird die Beweislast geregelt. (...)

[Im konkreten Fall wurde eine unvollständige Sachverhaltsfeststellung bzw. Begründung konstatiert, wobei allerdings die Frage einer allfälligen Kassation offen blieb, da ohnehin eine Gutheissung in materieller Hinsicht erfolgt].

4. Prüfungsgegenstand bildet die Frage, ob die Vorinstanz zu Recht davon ausgegangen ist, die Beschwerdeführer hätten nahe Angehörige, die im Drittstaat leben und zu denen sie enge Beziehungen pflegten. Damit sind auch die Anforderungen abzuklären, welche an den Begriff "im Drittstaat leben" gestellt werden.

Bereits aus den gesetzlichen Formulierungen in Art. 19 Abs. 2 Bst. b und c AsylG wird deutlich, dass das Aufenthaltsrecht der Bezugspersonen in einem Drittstaat von bestimmter Intensität und Qualität sein muss. Ist in Bst. b lediglich von "sich aufgehalten" zu lesen, so verlangt Bst. c, dass die Bezugspersonen "im Drittstaat leben". Leben in diesem Sinne kann aber nur heissen, dass ein bestimmtes Bleiberecht oder ein Anspruch, sich in einem Staat nicht bloss vorübergehend aufhalten zu dürfen, besteht. Dies ergibt sich auch aus der Botschaft zum Asylgesetz (vgl. BBl 1977 III S. 119), wo als Beispiel DDR-Staatsangehörige mit Bezugspersonen (mit Bleiberecht) in Deutschland erwähnt werden. Dementsprechend wird auch in den Kommentaren zum Asylgesetz argumentiert. Kälin fordert bei der Prüfung der Verhältnisse zu den Bezugspersonen, dass diese "im Drittstaat gesicherten Aufenthalt haben" und sich dort nicht "bloss als Asylbewerber aufhalten" (W. Kälin, Grundriss des Asylverfahrens, Basel und Frankfurt am Main 1990, S. 170, insb. Fn. 88; vgl. auch A. Achermann/Ch. Hausammann, Handbuch des Asylrechts, 2. Aufl., Bern und Stuttgart 1991, S. 156 f., Ziff. 2.3). Bersier hält fest: "Il convient que ces proches soient établis de manière stable dans ce pays et non seulement comme des 


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voyageurs en transit, voire des requérants d'asile en attente d'une décision" (R. Bersier, Droit d'asile et statut de réfugié en Suisse, Lausanne 1991, S. 54, Rz. 124). Nach dem Gesagten hält die ARK dafür, dass unter den in Art. 19 Abs. 2 Bst. c AsylG genannten Personen jedenfalls nicht solche zu verstehen sind, welche lediglich den Status von Asylbewerbern innehaben. Gerade um solche Personen (Asylbewerber im Drittstaat) handelt es sich jedoch im vorliegenden Fall. Das Bleiberecht der sich in Deutschland aufhaltenden Geschwister des Beschwerdeführers hat offensichtlich nicht eine derartige Qualität, dass man auf die (im vorliegenden Fall ohnehin nicht belegten) engen Beziehungen zu ihnen abstellen könnte.

topprevious


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