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Auszug aus dem Urteil der ARK vom 11. Januar 1999 i.S. E.K., Äthiopien

[English Summary]

Art. 4 BV; Art. 22 KRK: Anwendung einer Praxisänderung auf hängige Verfahren; Heilung von Verfahrensmängeln.

Der Grundsatzentscheid (vgl. EMARK 1998 Nr. 13, S. 84 ff.), wonach unbegleitete Minderjährige vor der ersten Anhörung zu den Asylgründen einer Verbeiständung bedürfen, gilt für alle hängigen Verfahren; die Nichtbeachtung dieses Grundsatzes führt als Verletzung des rechtlichen Gehörs grundsätzlich zur Kassation des vorinstanzlichen Entscheides. Ist der Entscheid des BFF indessen vor Bekanntwerden dieser Praxisänderung ergangen (d.h. spätestens Ende Oktober 1998), kann der Verfahrensmangel ausnahmsweise geheilt werden, sofern dem Beschwerdeführer aus der fehlenden Verbeiständung kein Nachteil (mehr) entsteht.

Art. 4 Cst.; art. 22 Conv. droits enfant : application d'une modification de la pratique à une procédure pendante; guérison du vice de procédure.

La décision de principe (cf. JICRA 1998 no 13, p. 84 ss.) selon laquelle un mineur non accompagné doit être au bénéfice d'une mesure tutélaire avant la première audition sur les motifs d'asile s'applique à toutes les procédures pendantes. L'inobservation de ce principe conduit en règle générale à la cassation de la décision de première instance pour violation du droit d'être entendu. Lorsque la décision de l'ODR est intervenue avant que l'office ait eu connaissance de ce changement de pratique (c.-à-d. au plus tard à fin octobre 1998), le vice de procédure peut exceptionnellement être guéri pour autant que l'absence de mesure tutélaire n'entraîne aucun préjudice pour le recourant.


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Art. 4 Cost.; art. 22 Conv. diritti del fanciullo: applicazione di una modifica della prassi a una procedura pendente; sanatoria di un vizio di procedura.

La prassi (GICRA 1998 n. 13, pag. 84 e segg.) secondo la quale il minorenne non accompagnato va posto al beneficio d’una misura tutelare anteriormente alla prima audizione, si applica a tutte le procedure pendenti. L'inosservanza del principio implica di regola la cassazione della decisione dell'autorità di prima istanza per violazione del diritto d'essere sentito. Allorquando la decisione dell'UFR è stata resa prima che detto Ufficio sia stato informato dell'avvenuto cambiamento della prassi (ovvero al più tardi a fine ottobre 1998), il vizio di procedura può, eccezionalmente, essere sanato, purché non comporti pregiudizio alcuno per il ricorrente.

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Die Beschwerdeführerin reiste, von Italien her kommend, im Februar 1994 in die Schweiz, wo sie um Asyl ersuchte. Am 25. Februar 1994 fand in Genf die Empfangsstellenbefragung statt, und am 25. April 1994 erfolgte die Anhörung zu den Asylgründen durch die kantonale Fremdenpolizei. Im wesentlichen machte die Beschwerdeführerin geltend, sie habe bis zum Ausbruch der kriegerischen Auseinandersetzungen im November 1993 im Dorf gelebt, wo sie aufgewachsen und zur Schule gegangen sei. Im Dezember 1993 sei ihre Mutter auf dem Markt bei einem Gefecht zwischen Rebellen und Regierungstruppen ums Leben gekommen. Nachdem die Polizei nach ihrem Vater gefahndet habe und ihr mehrmals eine Verhaftung angedroht worden sei, sei sie dann gemeinsam mit ihrem Vater in den Sudan ausgereist. Dort habe sie ihren Vater aus den Augen verloren. Mit Ausnahme einer älteren Tante, deren genauer Aufenthaltsort in der Heimat ihr unbekannt sei, habe sie keine weiteren Familienangehörigen.

Am 6. Juli 1994 führte das BFF eine ergänzende Anhörung durch.

Das BFF lehnte mit Verfügung vom 15. Juli 1994 das Asylgesuch ab.

Mit Eingabe vom 14. September 1994 beantragte die Beschwerdeführerin durch ihren Rechtsvertreter, die vorinstanzliche Verfügung sei aufzuheben beziehungsweise nichtig zu erklären; ferner sei festzustellen, dass die Beschwerdeführerin nicht prozessfähig sei, und es sei eine erneute Befragung im Beisein


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eines zu bestellenden Amtsvormundes durchzuführen; der Beschwerdeführerin sei die unentgeltliche Prozessführung zu gewähren; eventualiter sei festzustellen, dass die Vorinstanz die Urteilsfähigkeit der Beschwerdeführerin nicht geprüft habe; es seien die Ziffern 4 und 5 des Dispositivs der angefochtenen Verfügung aufzuheben; sodann sei festzustellen, dass das BFF den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe; es sei die Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzuges festzustellen und eine vorläufige Aufnahme anzuordnen; subeventualiter sei festzustellen, dass die Vorinstanz bei der Prüfung der Anordnung des Wegweisungsvollzuges einerseits nicht berücksichtigt habe, dass es sich bei der Beschwerdeführerin um eine unbegleitete Minderjährige handle und dass anderseits nicht nach erziehungsberechtigten Personen im Heimatland geforscht worden sei; im übrigen sei das BFF anzuweisen, eine erwachsene Person zu benennen, welche die Minderjährige in ihr Heimatland zurückbegleite.

Die Vormundschaftsbehörde der Gemeinde K. ordnete am 19. Dezember 1994 eine Beistandschaft nach Art. 392 Ziff. 3 ZGB an.

Mit Urteil vom 11. März 1996 hat die ARK die Beschwerde vom 14. September 1994 vollumfänglich abgewiesen, soweit darauf eingetreten worden ist.

Am 12. Juni 1996 reichte die Beschwerdeführerin ein Revisionsgesuch gegen das vorerwähnte Urteil ein.

Mit Urteil vom 30. Dezember 1996 hat die ARK den Beschwerdeentscheid vom 11. März 1996 aufgehoben und das Beschwerdeverfahren wieder aufgenommen. Die Akten wurden der Vorinstanz zur Vernehmlassung überwiesen, und der Entscheid über das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wurde auf den Urteilszeitpunkt verlegt.

Mit Verfügung vom 11. Juli 1997 hob das BFF die Ziffern 4 und 5 der Verfügung vom 15. Juli 1994 auf und nahm die Beschwerdeführerin in der Schweiz wegen Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzuges vorläufig auf.

Mit ergänzender Beschwerdeeingabe vom 30. Juli 1997 teilte der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin mit, an der Beschwerde vom 14. September 1994 werde festgehalten, soweit diese nicht gegenstandslos geworden sei. Unter Bezugnahme auf die am 26. März 1997 in Kraft getretene UNO-Konvention über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (KRK) wurde bean-


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tragt, es sei festzustellen, dass das vorinstanzliche Verfahren gegen Art. 4 BV und Art. 12 und 29 ff. VwVG verstosse; die Vorinstanz sei anzuweisen, Abklärungen zur Verfolgungs- und Familiensituation der Beschwerdeführerin vorzunehmen; eventualiter sei festzustellen, dass die Beschwerdeführerin die Flüchtlingseigenschaft erfülle, und es sei ihr Asyl zu gewähren; subeventualiter seien die Unzulässigkeit des Wegweisungsvollzuges festzustellen und eine vorläufige Aufnahme anzuordnen; subsubeventualiter sei festzustellen, dass die vorinstanzliche Verfügung vom 11. Juli 1997 die Begründungspflicht verletze.

Mit Vernehmlassung vom 9. September 1997 beantragte die Vorinstanz die Abweisung der Beschwerde.

Die ARK weist die Beschwerde ab.

Aus den Erwägungen:

3. a) Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin rügte in seinen Eingaben, dass die angefochtene Verfügung der Vorinstanz die Minderjährigkeit der Beschwerdeführerin mit keinem Wort erwähne. Die Vorinstanz habe es auch unterlassen, die kantonale Vormundschaftsbehörde zu kontaktieren. Die Anhörungen der Beschwerdeführerin hätten nicht ohne Vormund oder Beistand durchgeführt werden dürfen. Das Verfahren leide deshalb an erheblichen Mängeln, welche insbesondere in der Verletzung von Art. 4 BV (rechtliches Gehör, Gleichbehandlung) bestünden. Die Verfügung sei deshalb aufzuheben beziehungsweise nichtig zu erklären, und es sei die Beschwerdeführerin in Anwesenheit ihres Vertreters erneut zu befragen; hernach sei über ihr Asylgesuch erneut zu befinden.

b) In der Tat ist der vorinstanzlichen Verfügung vom 15. Juli 1994 nichts zu entnehmen, was darauf hindeuten würde, dass die Minderjährigkeit der Beschwerdeführerin von der Vorinstanz bei der Entscheidfindung berücksichtigt worden wäre. Aufgrund der Aktenlage ist auch davon auszugehen, dass die Vorinstanz im Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verfügung im Sinne von Art. 368 Abs. 2 ZGB nicht tätig geworden ist. Dies ist insofern bemerkenswert, als gemäss dem damals gültigen Kreisschreiben des früheren DFW (heute: BFF) vom 30. Oktober 1989 über unbegleitete, minderjährige Asylbewerber das BFF "zusammen" mit der kantonalen Vormundschaftsbehörde hätte entscheiden sollen, ob die Beschwerdeführerin urteilsfähig ist und ob ein Asylverfahren oder eine sofortige Heimkehr für das Wohl des Kindes besser


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ist. Nun entfalten zwar Kreisschreiben grundsätzlich keine bindende Rechtskraft (vgl. BGE 119 Ib 41), aber die Frage der Prozessfähigkeit unbegleiteter, minderjähriger Asylbewerber war und ist nach dem Gesagten eine von Amtes wegen zu prüfende Sachurteilsvoraussetzung. Der Umstand, dass die Vorinstanz das Vorliegen der Urteilsfähigkeit der Beschwerdeführerin nicht geprüft hat, kommt demnach einer Verletzung der Untersuchungsmaxime und der Begründungspflicht gleich. Die Tatsache, dass die Prozessfähigkeit der Beschwerdeführerin nach dem Gesagten im Zeitpunkt der Asylgesuchseinreichung und der Befragungen vorhanden war, ist einzig für die Frage einer allfälligen Heilung der erwähnten Verfahrensfehler von Belang. Die Voraussetzungen einer Heilung dieser Verfahrensverletzungen sind insofern gegeben, als die fraglichen Mängel im Beschwerdeverfahren behoben worden sind und die Beschwerdeinstanz mit gleicher Kognition ausgestattet ist wie die Vorinstanz (vgl. BGE 110 Ia 82 ff.). [...] Aufgrund des Gesagten können die erwähnten formellen Mängel nicht als schwerwiegend im Sinne der ständigen Praxis der Asylrekurskommission bezeichnet werden (vgl. EMARK 1994 Nr. 1, S. 1 ff.); sie sind als geheilt zu betrachten.

c) Gemäss EMARK 1998 Nr. 13 ist dem urteilsfähigen, unbegleiteten und nicht vertretenen Minderjährigen vor der ersten Anhörung zu den Asylgründen eine rechtskundige Person zuzuordnen, sofern noch kein Vormund oder Beistand ernannt worden ist und entsprechende vormundschaftliche Massnahmen seitens der kantonalen Behörden auch nicht innert nützlicher Frist zu erwarten sind. Dieser Anspruch gründet im wesentlichen auf Art. 4 BV. Die Nichtbeachtung dieses Anspruchs stellt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar. Da sowohl das BFF (vgl. Kreisschreiben vom 15. Februar 1995, S. 3) als auch die ARK bis zu diesem Grundsatzurteil davon ausgegangen sind, dass die Behörden für die Durchführung des Asylverfahrens nicht gehalten sind, einen diesbezüglichen Entscheid der Vormundschaftsbehörde abzuwarten oder eine Rechtsverbeiständung anzuordnen, handelt es sich bei EMARK 1998 Nr. 13 um eine Praxisänderung. Gemäss herrschender Lehre und Rechtsprechung ist eine neue Praxis aus Gründen der Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung grundsätzlich sofort und in allen hängigen Verfahren, aber nicht rückwirkend anzuwenden (vgl. F. Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern 1983, S. 52 u. 115; Merkli / Aeschlimann / Herzog, Kommentar zum VRPG, Bern 1997, Art. 51 N 5, S. 357). Die ARK geht davon aus, dass Verfahrensmängel im vorerwähnten Sinne ausnahmsweise dann heilbar sind, wenn die Verfügung des BFF - wie vorliegend - vor Ende Oktober 1998 ergangen ist. In diesen Fällen soll dennoch eine Kassation erfolgen, wenn sich aus den Akten


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substantielle Hinweise dafür ergeben, dass der Beschwerdeführerin aus der fehlenden Verbeiständung ein Nachteil erwachsen ist.

d) Aus den Akten ergeben sich keine substantiellen Hinweise dafür, dass die Beschwerdeführerin Mühe gehabt hätte, ihre Asylgründe darzulegen. Die Rüge des Rechtsvertreters der Beschwerdeführerin, wonach die Vorinstanz die Untersuchungsmaxime verletzt habe, bezieht sich vornehmlich auf die im vorliegenden Verfahren infolge Gegenstandslosigkeit nicht mehr zu prüfende Frage der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs. Die im heutigen Entscheidzeitpunkt mündige Beschwerdeführerin erhielt im Verlauf des Beschwerdeverfahrens mehrmals Gelegenheit, sich zur Sache zu äussern. Sie ergänzte die von ihr anlässlich der Anhörungen geltend gemachten Fluchtgründe in keiner Weise; vielmehr erklärte sie in der Eingabe vom 30. Juli 1997 ausdrücklich, dass sich ihre Vorbringen auch bei einer erneuten Anhörung nur auf Erinnerungen aus dem Kindesalter stützen könnten, und dass diese demnach wohl kaum anders ausfallen würden. Die beantragte Durchführung einer Botschaftsabklärung drängt sich im vorliegenden Verfahren selbst bei angenommener Glaubhaftigkeit der Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht auf, da sich der Sachverhalt aufgrund der aktenkundigen Angaben als hinreichend abgeklärt erweist. Aufgrund all dieser Umstände ist es gerechtfertigt, den durch die fehlende Verbeiständung bei den Anhörungen entstandenen Verfahrensmangel als geheilt zu betrachten. Das Gleichbehandlungsgebot wird nicht verletzt, weil die erheblich andere Sachlage auch eine andere rechtliche Beurteilung rechtfertigt.

e) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Vorinstanz mit der Nichtberücksichtigung der Minderjährigkeit der Beschwerdeführerin in der angefochtenen Verfügung und mit der fehlenden Verbeiständung der Beschwerdeführerin anlässlich der Anhörungen das rechtliche Gehör und die Begründungspflicht verletzt hat. Diese Verfahrensverletzungen können indessen als geheilt betrachtet werden.

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