1996 / 1 - 10

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Betrachtungsweise gilt nicht nur hinsichtlich Eingriffen in Leib und Leben (Inhaftierung aus politischen Gründen, Folter, Todesstrafe, extralegale Hinrichtung, etc.), sondern auch bezüglich wirtschaftlicher und sozialer Faktoren. Beabsichtigen staatliche Aktionen zielgerichtet die wirtschaftliche Existenzvernichtung des Betroffenen - oder der gesamten politischen, religiösen oder ethnischen Gruppe, welcher er angehört -, um ihm ein Verbleiben am Zufluchtsort zu verunmöglichen und ihn an seinen Herkunftsort zurückzudrängen, so liegt ein erheblicher Nachteil gemäss Artikel 3 AsylG vor und es fehlt an einer innerstaatlichen Fluchtalternative (vgl. zur Asylrelevanz der Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz Kälin, a.a.O., S. 53 f.). Hingegen fehlt es nicht an staatlichem Schutzwillen, wenn der Betroffene am Zufluchtsort ungünstige Lebensbedingungen, wie beispielsweise einen angespannten Arbeitsmarkt oder kulturelle oder religiöse Integrationserschwernisse, vorfindet. Hier wird er in derselben Weise betroffen wie andere Personen in vergleichbaren Lebensverhältnissen, welche im Gegensatz zu ihm nicht in einem anderen Teil des Landes verfolgt worden sind. Unter diese Personengruppen mit vergleichbaren Lebensverhältnissen fallen einerseits seine Landsleute, die seit jeher am Zufluchtsort gelebt haben, andererseits aber auch Gewaltflüchtlinge, welche aufgrund eines Bürgerkrieges oder bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen dorthin gezogen sind. Aus Gründen der Systematik der Asylgesetzgebung - wonach allgemein ungünstige Lebensbedingungen flüchtlingsrechtlich irrelevant sind und lediglich unter dem Aspekt der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzuges zu berücksichtigen sind - und der Rechtsgleichheit verbietet sich daher eine ungleiche Behandlung dieser Personengruppen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass Teile der deutschen Asylrechtsliteratur und -praxis höhere Anforderungen an die Effizienz des am Zufluchtsort gewährten Schutzes stellen: Die dortige Diskussion gründet nämlich auf der Tatsache, dass die deutsche Asylgesetzgebung den Status der vorläufigen Aufnahme bei Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzuges nicht kennt und Deutschland deshalb veranlasst ist, bei unzumutbaren Lebensbedingungen am Zufluchtsort - die den Betroffenen vor die gewissermassen unmögliche Entscheidung stellen, seine Existenzvernichtung zu erleiden oder sich zurück an den Herkunftsort zu begeben und verfolgen zu lassen - die Flüchtlingseigenschaft anzuerkennen. Angesichts der schweizerischen Konzeption, welche neben der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft weitergehenden Schutz für andere konkrete Gefährdungen vorsieht (Art. 18 Abs. 1 AsylG i.V. mit Art. 14a Abs. 4 ANAG), können die deutschen Lösungsansätze daher nicht tel quel übernommen werden; soweit sich die schweizerische Asylrechtsliteratur in diesem Punkt an den deutschen Verhältnissen orientiert, ist ihr deshalb nicht zuzustimmen.