1995 / 9 - 88

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Betroffener und indirekt die Allgemeinheit natürlich auch ein Interesse daran, dass ein Verwaltungsakt, der mit dem Gesetz nicht oder nicht mehr vereinbar ist, abänderbar ist. Das Bundesgericht hält zur Frage der Widerruflichkeit von Verfügungen (bei welcher es um eine dem vorliegenden Fall analoge Problematik geht) fest, dass "(...) aufgrund einer Interessenabwägung im Einzelfall zu entscheiden (ist), ob das Interesse an der Rechtssicherheit beziehungsweise am Bestand der Verfügung das Interesse an der richtigen Durchsetzung des objektiven Rechts überwiegt (...)" (BGE 106 Ib 255 f.); bei Vorliegen überwiegender - privater oder öffentlicher - Interessen muss somit das Interesse am Bestand einer einmal gefällten Entscheidung weichen. Daraus ergibt sich, dass Sinn und Zweck von Artikel 66 Absatz 3 VwVG nicht darin liegen können, verspätete Vorbringen in keinem Falle zu berücksichtigen; vielmehr muss auch er einer Auslegung zugänglich sein, welche es ermöglicht, die Rechtssicherheit überwiegende Interessen zu wahren.

Als zweites Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, dass Artikel 66 Absatz 3 VwVG als landesrechtliche Norm völkerrechtskonform auszulegen ist, das heisst so, dass er die Durchsetzung der staatsvertraglichen Garantien von Artikel 3 EMRK und Artikel 33 FK nicht vereitelt. Dies bedeutet indessen nichts anderes, als dass ein Entscheid trotz an sich verspäteter Geltendmachung der Vorbringen in Revision gezogen werden muss, wenn durch den Vollzug des ursprünglichen Entscheides das Gebot des Non-refoulement verletzt würde.

e) An diesem Ergebnis würde sich im weiteren auch dann nichts ändern, wenn man annähme, dass zwischen der landesrechtlichen Norm und dem Völkerrecht ein echter Konfliktfall bestehe, sie sich also tatsächlich gegenseitig ausschlössen: Es besteht nämlich in der Lehre einhellig - also auch auf Seiten der Kritiker eines absoluten Primats des Völkerrechts - die Auffassung, dass das völkerrechtliche ius cogens (das heisst jenes zwingende Völkerrecht, das grundlegende Normen enthält, mithin als eigentlicher Kerngehalt des Völkerrechts bezeichnet werden und nur durch Völkerrecht, dem derselbe Charakter zukommt, abgelöst werden kann) dem innerstaatlichen Recht in jedem Fall vorgeht (Epiney, a.a.O., S. 543; Grisel, a.a.O., S. 391; Häfliger, a.a.O., S. 480; Hangartner, AJP 1993, S. 197, Ziffer 10, und - mit Blick auf die EMRK - S. 198, Ziffer 13 in fine sowie AJP 1995, S. 132 und 142; Saladin, a.a.O., S. 84 f.; Wilhelm, a.a.O., S. 283; implizit wohl auch Seiler, a.a.O., S. 382). Das Bundesgericht hat den zwingenden Charakter des Rückschiebungsverbotes von Artikel 3 EMRK und die Geltung von Artikel 33 FK als Völkergewohnheitsrecht explizit anerkannt (BGE 109 Ib 72; 111 Ib 70). Die gleiche Ansicht hat auch der Bundesrat in seiner Botschaft betreffend die Initiative "Für eine