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Flüchtling dort Gefahr läuft, der Folter ausgesetzt zu werden, (...). Die Auslieferung steht in solchen Fällen, (...), schlicht im Gegensatz zum Sinn und Zweck dieses Artikels (gemeint ist Art. 3 EMRK)" (Urteil vom 7. Juli 1989 - Nr. 1/1989/161/217 - Soering c. Vereinigtes Königreich, in deutscher Übersetzung publiziert in Europäische Grundrechte Zeitschrift [EUGRZ] 1989, S. 314 ff.). Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, dass aus völkerrechtlicher Sicht der Umstand, dass ein Weggewiesener seine Vorbringen, welche nach dem materiellen Völkerrecht erheblich sind, mit Blick auf das Landesrecht prozessual verspätet geltend gemacht hat, tatsächlich nicht von Bedeutung sein kann.

Damit ist indessen noch nicht gesagt, dass die völkerrechtliche Bestimmung dem Landesrecht ohne weiteres übergeordnet ist, mithin absoluten Vorrang gegenüber diesem geniesst; das Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht ist in der Schweiz nämlich bis heute Gegenstand dogmatischer Kontroversen (vgl. für das folgende A. Epiney, Das Primat des Völkerrechts als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips, in: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, Band 95 [1994] Nr. 12, S. 537 ff.; A. Grisel, A propos de la hiérarchie des normes juridiques, ZBl 88/1987, S. 377 ff.; A. Häfliger, Die Hierarchie von Verfassungsnormen und ihre Funktion beim Schutz der Menschenrechte, EuGRZ 1990, S. 474 ff.; Y. Hangartner, Bemerkungen zu BGE 117 Ib 367, in: Aktuelle Juristische Praxis [AJP] 1993, S. 195 ff.; derselbe, Die Bindung von Verwaltungs- und Justizbehörden an die EMRK, AJP 1995, S. 131 ff.; O. Jacot-Guillarmod, Fondements juridiques internationaux de la primauté du droit international dans l'ordre juridique suisse, ZBJV 1984, S. 227 ff.; derselbe, La primauté du droit international face à quelques principes directeurs de l'Etat fédéral suisse, ZSR 1985 I 383 ff.; derselbe, Le juge national face au droit européen, Basel und Frankfurt a.M. 1993; W. Kälin, Der Geltungsgrad des Grundsatzes 'Völkerrecht bricht Landesrecht', in: Die schweizerische Rechtsordnung in ihren internationalen Bezügen, Festgabe zum schweizerischen Juristentag 1988, Bern 1988, S. 45 ff.; derselbe, Kolumne: Schubert und der Rechtsstaat oder: Sind Bundesgesetze massgeblicher als Staatsverträge?, SJZ 1993, S. 73 ff.; H. Seiler, Das völkerrechtswidrige Bundesgesetz; Artikel 113 Absatz 3 BV im Verhältnis zu Völkerrecht, EG und EWR, SJZ 1992, S. 377 ff.; Gemeinsame Stellungnahme des Bundesamtes für Justiz und der Direktion für Völkerrecht vom 26. April 1989 [nachfolgend kurz Stellungnahme BJ/EDA-DV], publiziert als VPB 1989 Nr. 54, S. 393 ff.; Ch. Wilhelm, Introduction et force obligatoire des traités internationaux dans l'ordre juridique suisse, Zürich 1993). In der herrschenden Lehre wird allgemein davon ausgegangen, dass das Völkerrecht Vorrang vor