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Auszug aus dem Urteil vom 14. Juni 2005 i.S. T.V., Russland

Art. 3 AsylG und Art. 44 Abs. 2 AsylG i.V.m. Art. 14a Abs. 4 ANAG: Analyse der Lage in Tschetschenien; Frage der Kollektivverfolgung tschetschenischer Asylsuchender auf dem gesamten Gebiet der Russischen Föderation; Zumutbarkeit des Vollzugs von Wegweisungen nach Tschetschenien; Kriterien der Anerkennung einer zumutbaren Aufenthaltsalternative innerhalb der Russischen Föderation.

1. Lage tschetschenischer Asylsuchender in Tschetschenien und in der Russischen Föderation (Erw. 5 und 6.2).

2. Tschetschenische Asylsuchende unterliegen auf dem Staatsgebiet der Russischen Föderation keiner Kollektivverfolgung (Erw. 6.2.).

3. Der Vollzug von Wegweisungen nach Tschetschenien ist nicht zumutbar (Erw. 8.3.1.).

4. Abgewiesenen tschetschenischen Asylsuchenden stehen innerhalb der Russischen Föderation unter bestimmten Voraussetzungen innerstaatliche Aufenthaltsalternativen zur Verfügung. Bei der Beurteilung der individuellen Zumutbarkeit solcher Alternativen sind indessen hohe Anforderungen zu beachten (Erw. 8.3.2. und 8.3.3.).

Art. 3 LAsi et art. 44 al. 2 LAsi en relation avec l’art. 14a al. 4 LSEE : analyse de la situation en Tchétchénie ; question de la persécution collective des Tchétchènes en Fédération de Russie ; exigibilité de l’exécution du renvoi en Tchétchénie ; conditions auxquelles il peut être exigé d’un Tchétchène qu’il aille s’établir en Fédération de Russie.

1. Situation des Tchétchènes en Tchétchénie et en Fédération de Russie (consid. 5 et 6.2.).

2. Il n’y a pas de persécution collective des Tchétchènes en Fédération de Russie (consid. 6.2.).

3. L’exécution des renvois en Tchétchénie n’est pas raisonnablement exigible (consid. 8.3.1.).


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4. Il existe pour les requérants d’asile tchétchènes déboutés une possibilité de s’installer en Fédération de Russie. Lors de l’examen de l’exigibilité de l’exécution du renvoi, au plan individuel, l’existence d’une telle possibilité ne peut toutefois être retenue que si elle répond à des conditions très strictes (consid. 8.3.2. et 8.3.3.).

Art. 3 LAsi e art. 44 cpv. 2 LAsi in relazione all’art. 14a cpv. 4 LDDS: analisi della situazione in Cecenia; questione dell’esistenza di una persecuzione collettiva dei ceceni sull’integralità del territorio della Federazione russa; esigibilità dell’esecuzione dell’allontanamento dei ceceni la cui domanda d’asilo è stata respinta; criteri per il riconoscimento di un’alternativa di soggiorno interna nella Federazione russa.

1. Situazione dei ceceni in Cecenia e nella Federazione russa (consid. 5 e 6.2).

2. Non v’è alcuna persecuzione collettiva nei confronti dei ceceni sul territorio della Federazione russa (consid. 6.2.).

3. L’esecuzione dell’allontanamento verso la Cecenia non è ragionevolmente esigibile (consid. 8.3.1.).

4. A determinate condizioni sussiste per i ceceni, la cui domanda d’asilo è stata respinta, un’alternativa di soggiorno nella Federazione russa. L’esistenza di una siffatta alternativa può essere ammessa solo a condizioni molto restrittive (consid. 8.3.2. e 8.3.3.).

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Die Beschwerdeführerin machte zur Begründung ihres am 19. August 2002 in der Schweiz gestellten Asylgesuchs im Wesentlichen geltend, sie sei ethnische Tschetschenin, lebe seit 30 Jahren in Shali (Tschetschenien) und habe ursprünglich eine Ausbildung als Apothekerin absolviert. Bei einem Überfall habe sie eine Schussverletzung am Bein erlitten. Wegen eines anderen Überfalls habe sie eine Tochter verloren. Ende 1995 sei sie während eines Monats für die Médecins sans Frontières (MSF) tätig gewesen; sie befürchte, deswegen durch kriminelle Gruppen behelligt zu werden. Politisch habe sie sich nicht betätigt. Sie sei auch nie fest- oder mitgenommen worden. Seit ungefähr acht Jahren sei sie aber wegen des Krieges unter starkem Druck gestanden, da sich in der Nähe ihres


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Hauses ein russischer Militärposten befinde; bei Auseinandersetzungen sei deshalb auch ihr Haus unter Beschuss geraten. Wegen der geschilderten Situation habe sie einen Nervenzusammenbruch erlitten und sei sie Mitte Juli 2002 zu ihrer Tochter nach Moskau gereist. Im Studentenheim ihrer Tochter sei aber kein Platz für sie gewesen. In Anbetracht dieser Umstände sei sie in die Schweiz weitergeflohen, wo sich ihr Sohn und ihre Tochter als Asylsuchende aufgehalten hätten. Ihr Ehemann sei in Shali zurückgeblieben und kümmere sich dort um das Haus.

Mit Schreiben vom 28. April 2004 forderte die Vorinstanz die Beschwerdeführerin unter anderem dazu auf, innert Frist Gründe zu nennen, weshalb sie nicht zu ihrer Tochter nach Moskau zurückkehren könne. In ihrem Antwortschreiben vom 10. Mai 2004 machte die Beschwerdeführerin fristgerecht unter anderem geltend, diese Tochter sei nur im Besitz einer vorläufigen Aufenthaltsbewilligung und müsse Moskau nach Abschluss des Studiums verlassen.

Das Bundesamt stellte mit Verfügung vom 25. Mai 2004 fest, die Beschwerdeführerin erfülle die Flüchtlingseigenschaft nicht, und lehnte das Asylgesuch ab. Gleichzeitig verfügte es die Wegweisung der Beschwerdeführerin aus der Schweiz und ordnete den Wegweisungsvollzug an.

Mit Beschwerde an die ARK vom 28. Juni 2004 beantragte die Beschwerdeführerin durch ihren Rechtsvertreter die Aufhebung der angefochtenen Verfügung, die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Asylgewährung. Eventuell sei auf den Wegweisungsvollzug zu verzichten und die vorläufige Aufnahme anzuordnen. Mit der Eingabe wurden unter anderem mehrere Berichte zur Situation der Tschetscheninnen und Tschetschenen in der Russischen Föderation zu den Akten gereicht.

Mit Vernehmlassung vom 2. August 2004 schloss die Vorinstanz auf Abweisung der Beschwerde. Mit Replik vom 18. August 2004 liess die Beschwerdeführerin an ihren bisherigen Vorbringen festhalten.

Die ARK weist die Beschwerde im Hauptpunkt ab; soweit den Vollzug der Wegweisung betreffend, wird das Rechtsmittel gutgeheissen.

Aus den Erwägungen:

3.

3.1. Die Vorinstanz begründet ihren ablehnenden Entscheid im Wesentlichen damit, dass persönliche Nachteile, welche sich aus Kriegsereignissen in einem


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Land ergäben, nicht als Verweigerung staatlichen Schutzes qualifiziert werden könnten, da der Staat in derartigen Situationen nicht schutzfähig sei und somit seine Schutzpflicht nicht ausüben könne. Aus dem zu beurteilenden Sachverhalt gingen keine Hinweise auf eine staatliche Verfolgung der Beschwerdeführerin hervor. Allein aufgrund ihrer Herkunft sei sie gemäss konstanter und gefestigter Praxis der schweizerischen Asylbehörden in der Russischen Föderation keiner asylrechtlich relevanten Verfolgung ausgesetzt. Bei den befürchteten Nachteilen seitens Krimineller wegen ihres Engagements für die MSF würde es sich um Akte privater Dritter handeln, gegen welche die staatlichen Behörden im Rahmen ihrer Möglichkeiten resolut vorgingen. Den Vollzug der Wegweisung in die Russische Föderation erachtete die Vorinstanz als zulässig, zumutbar und möglich. Die allgemeine Lage in Tschetschenien lasse zwar den Wegweisungsvollzug in diese Region als unzumutbar erscheinen. Gestützt auf die Niederlassungsfreiheit sei es der Beschwerdeführerin aber grundsätzlich möglich und zumutbar, sich in einem anderen Teil der Föderation niederzulassen. Ein Grossteil der tschetschenischen Bevölkerung Russlands lebe traditionellerweise ausserhalb der Republik Tschetschenien. Das frühere System einer bewilligten Niederlassung (Propiska) sei 1993 abgeschafft worden. Die russischen Behörden nähmen mit der Registrierung (Registracija) nur noch Kenntnis vom Entscheid eines Bürgers, sich in einem bestimmten Gebiet niederlassen zu wollen. Zwar versuchten einzelne Ballungsgebiete weiterhin, den unkontrollierten Zuzug der Bevölkerung durch administrative Massnahmen zu verhindern. Das russische Verfassungsgericht habe derartige Vorkehrungen indessen als verfassungswidrig aufgehoben. Aufgrund der Grösse der Russischen Föderation und des unterschiedlichen Charakters ihrer einzelnen Subjekte bestehe somit die Möglichkeit, ausserhalb Tschetscheniens zumindest temporär einen Aufenthalt zu finden, beispielsweise im Wolgagebiet oder in Dagestan. Im vorliegenden Fall habe es die Beschwerdeführerin unterlassen, ihren Inlandpass, welcher über ihre Identität, Aufenthaltsorte in Russland und die Ausstellung anderer Dokumente Auskunft gäbe, einzureichen. Eigenen Angaben zufolge sei sie vor der Flucht in die Schweiz nach Moskau umgezogen. Es sei ihr mithin möglich und zumutbar, zu ihren Angehörigen in die Föderation zurückzukehren und mit ihnen zusammen eine neue Existenz ausserhalb des von Kampfhandlungen erfassten Gebiets in Tschetschenien aufzubauen. Sie verfüge in der Russischen Föderation über ein dichtes Beziehungsnetz. Ihre in der Schweiz lebenden Kinder müssten das Land ebenfalls verlassen. Schliesslich könnten allfällige gesundheitliche Probleme der Beschwerdeführerin in der Föderation angemessen behandelt werden.

3.2. Die Beschwerdeführerin macht dagegen in ihrer Beschwerdeschrift geltend, dass sie wegen ihrer tschetschenischen Herkunft, ihrer Tätigkeit bei den MSF und des Umstandes, wonach ihre Wohnung in Tschetschenien unmittelbar neben einem russischen Militärposten liege, einer erhöhten Gefahr für Leib und Leben


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ausgesetzt sei. Das Nichteinreichen von Identitätsbelegen könne ihr aufgrund der konkreten Fallumstände nicht angelastet werden. Die in Moskau aufgegebene Postsendung sei in der Schweiz nicht angekommen. Im Weiteren müsse die Beschwerdeführerin wegen ihrer Tätigkeit für die MSF entgegen der Auffassung des Bundesamtes (auch) eine staatliche Verfolgung gewärtigen. Unhaltbar beziehungsweise nicht nachvollziehbar sei sodann die Argumentation der Vorinstanz, wonach die Beschwerdeführerin zusammen mit ihren in der Schweiz anwesenden Kindern zurückkehren könne und in der Föderation ein dichtes Beziehungsnetz bestehe, da die Asylgesuche der Kinder noch nicht rechtskräftig abgewiesen und aufgrund der Akten keine Anhaltspunkte für das angeblich dichte Beziehungsnetz ersichtlich seien. Bezüglich des Eventualantrags wurde ausgeführt, dass sich die politische Situation nach dem Tod des tschetschenischen Staatschefs Kadyrov und den Anschlägen in Moskau für die tschetschenische Minderheit in Russland drastisch verschärft habe. Die vom Bundesamt erwähnte innerstaatliche Flucht- respektive Aufenthaltsalternative für Tschetschenen und Tschetscheninnen sei demzufolge nicht realistisch. Von einer gleichberechtigten Niederlassungsfreiheit dieser Volksgruppe innerhalb der Föderation könne keine Rede sein. Die vom BFM zitierten Entscheide des russischen Verfassungsgerichtshofs würden nur auf dem Papier Wirkung entfalten. Hinzu komme, dass die in Russland lebende Tochter der Beschwerdeführerin in Moskau lediglich eine Ausbildung absolviere und dort nur vorübergehend in einer Einzimmerwohnung in einem Studentenheim leben könne.

3.3. Die Vorinstanz führt in ihrer Vernehmlassung bezüglich der Frage einer kollektiven Gefährdung aller Personen tschetschenischer Ethnie aus, die SFH-Analyse vom Mai 2004 müsse als Auftragsarbeit, welche anwaltschaftliche Interessen verfolge, bezeichnet werden. Bei der tschetschenischen Bevölkerung in Russland handle es sich um eine heterogene Personengruppe. Es bestehe traditionellerweise eine beachtliche tschetschenische Kolonie ausserhalb Tschetscheniens, welche bis heute ihren Geschäften nachgehe und teilweise auch in den Ballungszentren sehr erfolgreich sei. Andererseits ereigneten sich nach Anschlägen oftmals rigorose Personenkontrollen in tschetschenischen Kreisen. Bei diesen an sich legitimen Massnahmen könne es zu Gewaltanwendung kommen, wobei kaum je eine asylrelevante Intensität erreicht werde. Im Übrigen hätten mehrere Personen aus Tschetschenien die Schweiz freiwillig verlassen; die von unabhängiger Seite beobachtete Einreise am Flughafen in Moskau sei in der Folge problemlos verlaufen. Im Ergebnis sei mithin - in Übereinstimmung mit den Asylbehörden anderer europäischer Staaten - nicht von einer asylrelevanten Kollektivverfolgung von Tschetschenen in der Russischen Föderation auszugehen. Ein Vollzug der Wegweisung von Personen tschetschenischer Ethnie nach Tschetschenien oder in Flüchtlingslager nach Inguschetien müsse sodann aufgrund der dortigen Situation als unzumutbar bezeichnet werden. Die Frage, ob


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in anderen Gebieten der Russischen Föderation eine zumutbare Aufenthaltsalternative bestehe, sei einzelfallgerecht zu prüfen. Die meisten Tschetschenen würden die russische Staatsangehörigkeit besitzen und könnten sich grundsätzlich überall in der Föderation niederlassen. Gewisse damit verbundene Schwierigkeiten würden nicht nur diese Volksgruppe, sondern aufgrund der Strukturprobleme und Abwehrhaltungen die Mehrheit der dort lebenden Personen respektive Zuzüger betreffen. Es treffe indes zu, dass zahlreiche Arbeitgeber und vor allem Vermieter davor zurückschreckten, mit Personen tschetschenischer Ethnie zu verkehren. Die Menschenrechtskommission des russischen Präsidenten habe deshalb empfohlen, Verbesserungen in die Wege zu leiten. Aufgrund einer Prüfung der individuellen Situation würden sich sodann keine Hinweise auf eine Gefährdung der Beschwerdeführerin in der Russischen Föderation ergeben. Ihr Persönlichkeitsprofil sei für die Sicherheitsbehörden nicht interessant. In Moskau lebten eine Enkelin (recte: Tochter) und eine Schwester der Beschwerdeführerin. Diese und allenfalls weitere Landsleute könnten ihr bei der Suche nach einem Auskommen behilflich sein und die Reintegration in der Russischen Föderation erleichtern. In Anbetracht ihrer Ausbildung und ihrer Sprachkenntnisse habe sie gute Chancen, beispielsweise im Gesundheitswesen wieder ein Auskommen zu finden.

3.4. Die Beschwerdeführerin bezeichnet in ihrer Replik die vorinstanzliche Vernehmlassung als ungereimt, indem nun plötzlich eine Enkelin statt einer Tochter in Moskau erwähnt werde. Von der Existenz einer ebenfalls erwähnten Schwester in Moskau bestünden aufgrund der Akten keinerlei Informationen. In Anbetracht der Situation vor Ort sei es sodann illusorisch, der Beschwerdeführerin, welche letztmals vor zehn Jahren in ihrem Beruf gearbeitet habe und nebst Tschetschenisch lediglich Russisch spreche, aufgrund ihrer Ausbildung gute Chancen im Arbeitsmarkt zu attestieren. Die aus dem SFH-Bericht in der Beschwerdeeingabe zitierten Passagen seien im Übrigen durch Quellenangaben im besagten Bericht belegt. Die Vorinstanz habe es in der Vernehmlassung, welche zu teilweise anderen Ergebnissen komme, aber ihrerseits unterlassen, zumindest die der Öffentlichkeit zugänglichen Quellen anzugeben. Der Vorwurf, der SFH-Bericht sei als politische Publikation nicht neutral, verliere dadurch stark an Gewicht. In der Zwischenzeit habe der Rebellenführer Maschadow gemäss dem beigelegten NZZ-Artikel vom 3. August 2004 unter anderem damit gedroht, gegen die eigenen Leute, welche sich nicht mit den Rebellen identifizierten, vorzugehen. Die Gefährdung von Personen wie der Beschwerdeführerin werde dadurch jedenfalls nicht kleiner, da sie sich auch durch Angehörige der eigenen Volksgruppe bedroht sähen. Die weitere Feststellung der Vorinstanz, Personenkontrollen durch die russischen Sicherheitskräfte mit Gewaltanwendung seien von der Intensität her grundsätzlich nicht asylrelevant, werde in keiner Weise begründet. Diese Aussage stehe ausserdem in Widerspruch zum Umstand, dass


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die Vorinstanz offenbar gleichwohl eine individuelle Überprüfung der einzelnen Asylgesuche vornehme. Die angeblich erfolgte freiwillige und problemlose Rückkehr von Tschetschenen nach Moskau werde wiederum durch nichts belegt. Entgegen den Ausführungen des Bundesamtes sei ferner nicht ersichtlich, in welchen Fällen nicht schematisch auf eine vorhandene innerstaatliche Aufenthaltsalternative von Tschetschenen geschlossen werde. Nach dem Gesagten müsse insbesondere auch in Anbetracht der Drohungen Maschadows von einer akzentuierten Gefährdung der nicht rebellentreuen Tschetschenen in der Russischen Föderation ausgegangen werden. Das Gefahrenpotenzial für die Beschwerdeführerin habe sich dadurch erhöht.

4. […]

5. Zur allgemeinen Situation in der Heimat der Beschwerdeführerin ist folgendes festzuhalten: Seit dem Ende der Sowjetunion strebt Tschetschenien die Unabhängigkeit an. Der erste tschetschenische Krieg (1994 - 1996) wurde von der Bevölkerung als Kampf für die Unabhängigkeit empfunden. Die Zwischenkriegszeit unter Aslan Maschadow war geprägt von weiteren Auseinander-setzungen und einer Islamisierung der staatlichen Strukturen. Obwohl auch ehemalige Feldkommandeure wie etwa Shamil Bassajew zeitweise als Minister in der Regierung tätig waren, verfolgte im Ergebnis jede Gruppierung ihre eigenen Ziele, wobei hauptsächlich Clan-Interessen und nicht dasjenige des Staates im Vordergrund standen. Im Herbst 1999 kam es zum zweiten Tschetschenienkrieg. Das brutale Vorgehen der russischen Armee gegenüber der Zivilbevölkerung verhalf den Rebellen zu mehr Unterstützung, als sie ursprünglich erwarten konnten. Seit Frühling 2000 gilt der Krieg zwar offiziell als beendet; der Konflikt ist jedoch ungelöst, was die fast täglichen Opfer in Tschetschenien und Terroranschläge in Russland zeigen. Mit der Ermordung des tschetschenischen Präsidenten Achmad Kadyrow am 9. Mai 2004 erlebte Russland einen weiteren Rückschlag in seinem Versuch, das Land zu stabilisieren. Trotz der immer wieder propagierten Rückkehr zur "Normalität" sterben in Tschetschenien auch mehrere Jahre nach dem von russischer Seite deklarierten Kriegsende fast täglich russische Soldaten, tschetschenische Rebellen und Zivilisten. Die Zivilbevölkerung ist den gewalttätigen Übergriffen der Konfliktparteien nach wie vor schutzlos ausgesetzt. Als Folge des Krieges sind mehr als 300'000 Personen aus dem Kriegsgebiet geflüchtet. Die tschetschenischen Rebellen teilen sich in verschiedene Gruppierungen mit eigenen Feldkommandeuren auf. Dazu gehören respektive gehörten auch Aslan Maschadow und sein politischer Gegner Shamil Bassajew. Die Entwicklung der letzten Monate war geprägt von weiteren Gewaltakten. Am 8. März 2005 kam Maschadow unter nicht restlos geklärten Umständen respektive bei einem Angriff durch ein russisches Kommando ums Leben. Die Folgen seines Todes sind für die Krisenregion noch nicht genau abseh-


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bar. Die Sicherheitslage ist jedenfalls gemäss Auffassung unabhängiger Beobachter nach wie vor als prekär einzuschätzen, und die Situation bleibt für die Zivilbevölkerung äusserst problematisch (vgl. zur Lage in Tschetschenien u.a. Worse Than a War: "Disapperances" in Chechnya - a Crime Against Humanity: Human Rights Watch Briefing Paper vom März 2005; Human Rights Watch, Country Summary Russia/Chechnya vom Januar 2005; UNHCR-Stellungnahme zu Asylsuchenden und Flüchtlingen aus der Tschetschenischen Republik vom 22. Oktober 2004; UNHCR Paper on Asylum Seekers from the Russian Federation in the Context of the Situation in Chechenya vom Februar 2003; International Helsinki Federation for Human Rights, Report 2005/The Russian Federation; BBC News/Country profile: Russia vom 28. März 2005; amnesty international, Russian Federation: The Risk of Speaking Out vom 9. November 2004; amnesty international, Russian Federation: "Normalization" in whose eyes? vom 23. Juni 2004; K. Ammann, Tschetschenien und die tschetschenische Bevölkerung in der Russischen Föderation: SFH-Publikation vom 24. Mai 2004; J. Rau, Politik und Islam in Nordkaukasien. Skizzen über Tschetschenien, Dagestan und Adygea, Wien 2002).

6.

6.1. Die Vorinstanz hat im angefochtenen Entscheid die Vorbringen der Beschwerdeführerin als nicht asylrelevant bezeichnet und im Ergebnis (implizit) auch eine begründete Furcht vor asylrelevanten Nachteilen im Heimatland verneint. In diesem Zusammenhang hielt das Bundesamt fest, allein aufgrund ihrer Herkunft sei die Beschwerdeführerin in der Russischen Föderation keiner flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung ausgesetzt.

6.2. Soweit der Beschwerdeführerin damit eine innerstaatliche Fluchtalternative vorgehalten wurde, ist angesichts der Grösse der Russischen Föderation, der föderalistischen Zersplitterung mit unterschiedlichen Herrschaftsbereichen und der verfassungsmässig garantierten Niederlassungsfreiheit auch gemäss Erkennt-nissen der ARK grundsätzlich vom Vorhandensein einer solchen Alternative auszugehen. So wäre zur Bejahung der Frage, ob eine Kollektivverfolgung vorliege, erforderlich, dass jede Tschetschenin und jeder Tschetschene im Heimatland angesichts der gegen das Kollektiv gerichteten Repressionen genügend Anlass hätte, auch individuell eine Verfolgung befürchten zu müssen (vgl. EMARK 1996 Nr. 21). Eine solche Situation zielgerichteter asylrelevanter Verfolgung auf dem ganzen Gebiet der Russischen Föderation, wie sie auf Beschwerdeebene im Prinzip geltend gemacht wird, liegt in Würdigung der einschlägigen Quellen indes nicht vor (vgl. dazu insbesondere UNHCR Paper on Asylum Seekers from the Russian Federation in the Context of the Situation in Chechenya, a.a.O.; Norwegian Refugee Council/Global IDP Database, Profile of Internal Displacement: Russian Federation, 14. März 2005; Memorial, Bewohner Tschetsche-


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niens in der Russischen Föderation, Juni 2003 - Mai 2004). Die in den Quellen erwähnte allgemeine Diskriminierung ethnischer Minderheiten und insbesondere auch von Tschetschenen kann auch mangels der für die Asylgewährung erforderlichen Intensität nicht als asylrelevante (Kollektiv-) Verfolgung qualifiziert werden. Eine innerstaatliche Fluchtalternative kann der asylsuchenden Person jedoch nur entgegengehalten werden, wenn ein effektiver Schutz am alternativen Ort besteht, was insbesondere dann nicht gegeben scheint, wenn die Betroffene bereits in ihrer Heimatregion von Organen der Zentralgewalt - d.h. unmittelbar staatlich - verfolgt worden ist (vgl. EMARK 1996 Nr. 1).

6.3. Die Beschwerdeführerin wurde gemäss Aktenlage offenbar namentlich aufgrund der geografischen Situation ihres Hauses durch das Kriegsgeschehen konkret und persönlich behelligt. Unbesehen der Frage, ob beziehungsweise welche Gefährdung ferner ein Einsatz für die MSF mit sich bringen kann, liegt dieser Einsatz der Beschwerdeführerin mittlerweile mehr als neun Jahre zurück. Ihre subjektiven Ängste vor einer Rückkehr in die Heimat erscheinen vor dem Hintergrund der Geschehnisse in Tschetschenien und der für Angehörige ethnischer Minderheiten allgemein angespannten Lage in Teilen der Russischen Föderation mithin zwar als verständlich; sie können indessen nicht als objektiv begründete Furcht vor asylrechtlich relevanter Verfolgung anerkannt werden. Aufgrund des Persönlichkeitsprofils der Beschwerdeführerin respektive des Umstandes, dass sie gemäss Aktenlage im heutigen Zeitpunkt von den russischen Behörden offensichtlich nicht wegen Verdachts auf Kontakte zum tschetschenischen Widerstand gesucht wird, ging das Bundesamt mithin zu Recht davon aus, sie verfüge in der Russischen Föderation - beispielsweise in Moskau, wo ihre Tochter wohnt - grundsätzlich über eine innerstaatliche Fluchtalternative. Das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative führt jedoch praxisgemäss zur Nichtanerkennung der Flüchtlingseigenschaft und zur Verweigerung des Asyls; die Frage der Zumutbarkeit des Verbleibs am sicheren Zufluchtsort ist unter dem Aspekt der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs zu prüfen (vgl. EMARK 1996 Nr. 1).

6.4. Aufgrund des Gesagten kann davon abgesehen werden, auf die weiteren Vorbringen in der Beschwerde und die Beweismittel näher einzugehen, da sie in den erörterten Punkten zu keiner anderen Betrachtungsweise zu führen vermögen. Auch weitere Abklärungen erübrigen sich. In Würdigung der gesamten Umstände ist festzustellen, dass die Beschwerdeführerin einen asylrechtlich bedeutsamen Sachverhalt weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht hat. Mangels erfüllter Flüchtlingseigenschaft ist ihr das nachgesuchte Asyl zu Recht nicht gewährt worden. Die Abweisung ihres Asylgesuchs ist dementsprechend zu bestätigen.


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7. […]

8. […]

8.3. Aus humanitären Gründen, nicht in Erfüllung einer völkerrechtlichen Verpflichtung der Schweiz, wird auf den Vollzug der Wegweisung auch verzichtet, wenn die Rückkehr in den Heimatstaat für den Betroffenen eine konkrete Gefährdung darstellt. Eine solche kann angesichts der im Heimatland herrschenden allgemeinen politischen Lage, die sich durch Krieg, Bürgerkrieg oder durch eine Situation allgemeiner Gewalt kennzeichnet, oder aufgrund anderer Gefahrenmomente, wie beispielsweise beim Fehlen einer notwendigen medizinischen Behandlung, angenommen werden.

8.3.1. Aufgrund der in den Erwägungen 5 und 6 dargelegten Situation ist der Vollzug der Wegweisung abgewiesener Asylsuchender nach Tschetschenien mit der Vorinstanz als unzumutbar zu bezeichnen. Es stellt sich nach dem oben Gesagten mithin die Frage, ob der Beschwerdeführerin eine innerstaatliche Aufenthaltsalternative im Gebiet der Russischen Föderation zuzumuten ist.

8.3.2. Die Frage der Zumutbarkeit einer allfälligen innerstaatlichen Aufenthaltsalternative ist allein unter dem Aspekt der Wegweisungshindernisse gemäss Art. 14a Abs. 4 ANAG zu prüfen (vgl. dazu und zu den generellen Anforderungen an die Flucht- respektive Aufenthaltsalternative EMARK 1996 Nr. 1). Der betroffenen Person muss es demnach möglich sein, am Zufluchtsort eine menschenwürdige Existenz aufzubauen. Aufgrund der flächenmässigen Grösse der Russischen Föderation und der föderalen Struktur kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass intern Vertriebene unter bestimmten Umständen an geeigneten Orten die Möglichkeit haben, sich eine solche Existenz aufzubauen.

8.3.3. Die Ausführungen in der Beschwerde und in der Replik, wonach Menschen kaukasischer Abstammung in Teilen der Russischen Föderation mit Misstrauen und Ablehnung begegnet wird, sind durch die eingereichten Beweismittel belegt und werden weder vom BFM noch von der ARK in Abrede gestellt (vgl. dazu insbesondere auch Memorial, Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, a.a.O.). Es ist jedoch - auch nach dem tragischen Vorfall in Beslan - nicht davon auszugehen, dass Personen kaukasischer Abstammung allein aufgrund ihrer Herkunft einer konkreten Gefährdung ausgesetzt werden. Wohl besteht für die Angehörigen der tschetschenischen Ethnie die Gefahr, in erhöhtem Mass von Behördenstellen überprüft zu werden. Es ist auch davon auszugehen, dass Personen tschetschenischer Ethnie respektive kaukasischer Herkunft im Vergleich zu allfällig anderen intern Vertriebenen in der Russischen Föderation eher das Augenmerk der Behörden auf sich ziehen und ihnen


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deshalb mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit entsprechende Schwierigkeiten erwachsen können. Auch auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt werden Angehörige dieser Gruppe offenbar diskriminiert. Solche Personenkontrollen, Schikanen und Diskriminierungen, die zweifellos auch auf von tschetschenischen Gruppierungen durchgeführte Attentate zurückzuführen sind, mögen den davon Betroffenen als ernsthafte Benachteiligungen erscheinen, sind aber nicht als konkrete Gefährdung im Sinne der zu beachtenden Bestimmungen zu werten, nachdem sie in der Regel ein bestimmtes Mass nicht überschreiten. Gemäss den Erkenntnissen der ARK leben viele Kaukasier seit langer Zeit in Moskau und anderswo in der Russischen Föderation. Viele von ihnen haben zwar keinen geregelten Aufenthalt, gehen aber gleichwohl einer Erwerbstätigkeit nach und werden nicht in einem relevanten Ausmass behelligt.

Die ARK geht deshalb wie die Vorinstanz aufgrund der allgemeinen Lage in der Russischen Föderation davon aus, dass sich der Vollzug der Wegweisung abgewiesener tschetschenischer Asylsuchender an einen innerstaatlichen Zufluchtsort unter Umständen als zumutbar erweisen kann. Bei der sorgfältigen individuellen Beurteilung sind angesichts der geschilderten Schwierigkeiten, denen Angehörige der tschetschenischen Ethnie auch ausserhalb ihrer engeren Heimatregion begegnen, indessen hohe Anforderungen an den Nachweis der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Aufenthaltsalternative zu stellen. Zu prüfen ist mithin insbesondere, ob die betroffene Person über ein tragfähiges, insbesondere familiäres Beziehungsnetz - so auch im Hinblick auf eine zumutbare Unterkunft - am allfälligen Zufluchtsort verfügt. Auf ein Beziehungsnetz darf im Übrigen unter Umständen auch dann geschlossen werden, wenn sich ein Beschwerdeführer vor der Ausreise während langer Zeit an einem innerstaatlichen Zufluchtsort aufhielt und sich aus den Akten keine überzeugenden Argumente gegen eine Rückkehr dorthin ergeben. Im Weiteren vermögen hinreichende finanzielle Mittel die Eingliederung am Zufluchtsort zweifellos zu erleichtern. Zu berücksichtigen sind ferner praxisgemäss Alter, Gesundheit, Geschlecht, Ausbildung und die bisherigen beruflichen Erfahrungen der Person. Eine Situation, welche tschetschenische Asylsuchende a priori als Gewalt- oder De-facto-Flüchtlinge (im Sinne von Art. 14a Abs. 4 ANAG) im gesamten Gebiet der russischen Föderation qualifizieren würde, lässt sich demnach nicht generell bejahen.

8.3.4. Vorliegend hat sich die Beschwerdeführerin gemäss eigenen Angaben vor ihrer Ausreise während eines Monats bei ihrer Tochter in Moskau aufgehalten. Was den Aufenthalt weiterer Verwandter in der Russischen Föderation anbelangt, hat der Vertreter der Beschwerdeführerin, welcher auch deren Sohn im hängigen Beschwerdeverfahren vertritt, in seiner diesbezüglichen Beschwerde ausgeführt, die Tante seines Mandanten weile wegen ihres Sohnes in Moskau. Sein Einwand vom 18. August 2004 im Verfahren der Beschwerdeführerin, es


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bestünden aufgrund der Akten keine Anhaltspunkte für den - von seiner Mandantin nicht erwähnten - Aufenthalt einer ihrer Schwestern in Moskau, ist demzufolge nicht nachvollziehbar […]. Mit der vom Bundesamt ferner erwähnten "Enkelin" dürfte im Übrigen die jetzt nicht mehr aufgeführte Tochter der Beschwerdeführerin gemeint sein. Selbst wenn der Beschwerdeführerin durch die erwähnten Verwandten (und auch durch die theoretisch in Betracht kommende Hilfe durch ihren in Tschetschenien verbliebenen und ihr allenfalls nach Moskau nachreisenden Gatten) eine gewisse Unterstützung zukommen dürfte, kann nicht von einem dort funktionierenden tragfähigen sozialen Netz ausgegangen werden, zumal auch ihre in der Schweiz mit hängigem Asylgesuch weilenden Kinder mit Urteilen heutigen Datums vorläufig aufgenommen werden; aufgrund der Asylakten der Angehörigen ist im Übrigen davon auszugehen, dass es diesen nicht möglich wäre, ihre Mutter finanziell zu unterstützen. Die vorübergehend zu Studienzwecken in Moskau lebende Tochter wird kaum die Mittel und Räumlichkeiten haben, um ihre Mutter bei sich aufzunehmen. Hinsichtlich eines allfälligen Aufenthalts einer Schwester in Moskau ist festzustellen, dass dieser aufgrund der Asylakten des Sohnes offensichtlich lediglich vorübergehenden Charakter aufweist und keinesfalls als gesichert betrachtet werden kann. Andererseits ist im Sinne der Argumentation des BFM einzuräumen, dass die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer guten Ausbildung als Apothekerin auf dem Stellenmarkt möglicherweise nicht chancenlos wäre. Demgegenüber ist aber zu berücksichtigen, dass sie gemäss Aktenlage ihren Beruf seit zehn Jahren nicht mehr ausüben konnte und aufgrund ihres Alters ­ sie ist bereits 56 Jahre alt - eine Wiederaufnahme der diesbezüglichen Erwerbstätigkeit in einem für Tschetscheninnen nach dem Gesagten grundsätzlich ungünstigen Umfeld wohl kaum realistisch wäre. Damit sind die bezüglich der Russischen Föderation für ethnische Tschetscheninnen insgesamt hohen Anforderungen an den Nachweis einer inländischen Aufenthaltsalternative entgegen den Ausführungen des Bundesamtes im vorliegenden Einzelfall nicht erfüllt.

8.3.5. Zusammenfassend ergibt sich demnach, dass eine Rückkehr der Beschwerdeführerin nach Russland als unzumutbar zu qualifizieren ist.

 

 

 

 

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