EMARK - JICRA - GICRA  2003 / 25


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Auszug aus dem Urteil der ARK vom 9. Juli 2003 i.S. A.S.-A., Somalia

Art. 5 Abs. 3 BV; Art. 2 ZGB; Art. 8 Abs. 3 AsylG; Wiederaufnahme eines abgeschriebenen Beschwerdeverfahrens; Treu und Glauben.

Ist ein Beschwerdeverfahren nach unbekanntem Aufenthalt des Beschwerdeführers wegen dahingefallenen Rechtsschutzinteresses als gegenstandslos abgeschrieben worden, kann der Beschwerdeführer - unabhängig davon, wann er vom Abschreibungsbeschluss Kenntnis erlangt hat - nach Treu und Glauben eine Wiederaufnahme nicht mehr verlangen, wenn er sich über längere Zeit am Verfahren desinteressiert gezeigt hat (Präzisierung der Praxis gemäss EMARK 2003 Nr. 6 i.V.m. 2000 Nr. 5).

Art. 5 al. 3 Cst. ; art. 2 CC ; art. 8 al. 3 LAsi ; demande de réouverture d'une procédure radiée ; principe de la bonne foi.

Si, après qu'il a été constaté que le domicile du recourant était inconnu, le recours de celui-ci a été déclaré sans objet faute d'intérêt digne de protection, le recourant ne peut pas, selon le principe de la bonne foi, exiger la réouverture de la procédure si son désintérêt pour elle s'est manifesté pendant un laps de temps particulièrement long. La date à laquelle le recourant a pris connaissance de la radiation du recours importe peu (précision de jurisprudence selon JICRA 2003 n° 6 en relation avec JICRA 2000 n° 5).

Art. 5 cpv. 3 Cost.; art. 2 CC; art. 8 cpv. 3 LAsi; riapertura di una procedura ricorsuale conclusasi con lo stralcio dai ruoli del gravame; principio della buona fede.

Quando una procedura ricorsuale è stralciata dai ruoli – per mancanza di un interesse degno di protezione poiché è sconosciuto il luogo di soggiorno del ricorrente – quest'ultimo non può, secondo il principio della buona fede, esigere la riapertura della procedura ricorsuale allorquando per lungo tempo si è disinteressato all'esito di detta procedura, e ciò a prescindere dalla data in cui ha preso conoscenza dello stralcio del ricorso (precisazione della giurisprudenza GICRA 2003 n. 6 in relazione a GICRA 2000 n. 5).


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Zusammenfassung des Sachverhalts:

Mit Verfügung vom 11. Januar 1995 wies das BFF das Asylgesuch des Gesuchstellers vom 16. November 1994 ab und ordnete dessen Wegweisung aus der Schweiz an. Den Vollzug der Wegweisung ersetzte es durch die Anordnung der vorläufigen Aufnahme. Diese Verfügung erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

Am 4. April 2001 hob das BFF die vorläufige Aufnahme des Gesuchstellers (und - mit Ausnahme einer volljährigen Tochter - diejenige der übrigen Familienmitglieder) gestützt auf Art. 14b Abs. 2 ANAG in Verbindung mit Art. 14a Abs. 6 ANAG auf und verfügte den Vollzug der Wegweisung. Gegen diese Verfügung erhoben der Gesuchsteller und die übrigen von diesem Entscheid betroffenen Familienmitglieder bei der ARK Beschwerde.

Das kantonale Ausländeramt teilte der ARK am 3. Oktober 2002 mit, der Gesuchsteller sei seit dem 24. September 2002 unbekannten Aufenthalts.

Am 16. Oktober 2002 wurde der damalige Rechtsvertreter des Gesuchstellers von der ARK aufgefordert, den Aufenthaltsort des Gesuchstellers und dessen genaue Adresse bekanntzugeben.

In seiner Eingabe vom 29. Oktober 2002 führte der Rechtsvertreter des Gesuchstellers unter anderem aus, der Kontakt zwischen ihm und seinem Mandanten sei vor mehr als einem Jahr abgebrochen. Er erachte deshalb sein Mandat als erloschen.

Mit Beschluss der ARK vom 6. November 2002 wurde die Beschwerde des Gesuchstellers mangels Rechtschutzinteresses als gegenstandslos geworden abgeschrieben. Gleichzeitig wurde festgehalten, dass das Beschwerdeverfahren hinsichtlich der übrigen Familienmitglieder fortgesetzt werde. Dieser Beschluss wurde dem damaligen Rechtsvertreter des Gesuchstellers am 11. November 2002 zugestellt.

Mit Eingabe vom 27. Mai 2003 ersuchte der Gesuchsteller um Wiederaufnahme des Beschwerdeverfahrens. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, der Abschreibungsbeschluss sei ihm nicht zugegangen. Die ihn (den Gesuchsteller) betreffende Post, welche die Rechtsvertretung an seine Ehefrau zugestellt habe, sei von seiner ihm nicht wohl gesinnten Ehefrau nicht an ihn weitergeleitet worden. Ferner könne er die Belastung eines rechtlich ungeregelten Aufenthalts in der Schweiz nicht mehr ertragen, da er nunmehr gesundheitlich geschwächt sei. Ausserdem melde er sich mit dieser Eingabe gleichzeitig wieder bei den kantonalen Behörden an, weshalb der Abschreibungsgrund entfalle.


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Aus den Erwägungen:

3. a) Unbestritten ist, dass der Gesuchsteller die aus Art. 8 Abs. 3 AsylG fliessende Mitwirkungspflicht der Meldung des Aufenthaltsortes missachtet hat, was mangels Rechtsschutzinteresses in der Folge denn auch zur Abschreibung des Beschwerdeverfahrens geführt hat (Beschluss der ARK vom 6. November 2002). So geht aus den Akten hervor, dass gemäss einer Meldung des Einwohneramts X. vom 27. September 2002 der Aufenthaltsort des Gesuchstellers "seit längerer Zeit" unbekannt war. Einem Erhebungsbericht der Kantonspolizei vom 24. September 2002 zufolge soll der Gesuchsteller "seit längerer Zeit" nicht mehr in F. gelebt haben, und gemäss Auskunft des zuständigen Sozialamts wurde ihm seit sechs Monaten - mithin seit März/April 2002 - kein Fürsorgegeld mehr ausbezahlt. Nicht zuletzt ist sodann auf das Schreiben des damaligen Rechtsvertreters des Gesuchstellers vom 29. Oktober 2002 hinzuweisen, in dem dieser ausführte, der Kontakt zum Gesuchsteller sei "vor mehr als einem Jahr" abgebrochen.

b) Was nun das Gesuch um Wiederaufnahme des Beschwerdeverfahrens anbelangt, so ist vorab festzuhalten, dass der Gesuchsteller darin keine entschuldbaren Gründe vorzubringen vermag, welche ihn daran gehindert hätten, den Abschreibungsbeschluss nicht schon früher - beispielsweise über seinen damaligen Rechtsvertreter - in Erfahrung zu bringen. Auch wenn dieser mit seinem Schreiben vom 29. Oktober 2002 kund getan hat, er erachte das Mandatsverhältnis als erloschen, muss dies als ein einseitiger Willensakt des damaligen Vertreters angesehen werden, von dem der Gesuchsteller infolge seines unbekannten Aufenthalts keine Kenntnis erlangt haben konnte beziehungsweise Kenntnis hatte. Daraus ist wiederum zu folgern, dass der Gesuchsteller, falls ihm etwas an seinem Beschwerdeverfahren gelegen hätte, sich - angesichts des offenbar zerrütteten Verhältnisses zu seiner Ehefrau - in erster Linie beim damaligen Rechtsvertreter über den Stand des Verfahrens erkundigt hätte, da er diesen nach wie vor als seinen in dieser Sache Bevollmächtigten betrachten musste.

c) Aufgrund einer Gesamtwürdigung erachtet die Kommission das oben skizzierte Verhalten - respektive das vom Gesuchsteller über einen längeren Zeitraum an den Tag gelegte Desinteresse am Ausgang des Beschwerdeverfahrens - als dem Grundsatz von Treu und Glauben zuwider laufend.

Der Grundsatz von Treu und Glauben - als allgemeiner Rechtsgrundsatz in Art. 5 Abs. 3 BV festgelegt - verbietet Behörden wie Privaten rechtsmissbräuchliches und widersprüchliches Verhalten (vgl. A. Kölz/I. Häner, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Aufl., Zürich 1998, Rz. 126; J. P. Müller, Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl., Bern 1999, S. 486). Das Ver­


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bot des widersprüchlichen Verhaltens im öffentlichen Recht ist gleich gelagert wie das in Art. 2 ZGB stipulierte Verbot des venire contra factum proprium (vgl. B. Weber-Dürler, Vertrauensschutz im öffentlichen Recht, Basel/Frankfurt a.M. 1983, S. 43).

Der Gesuchsteller begründet sein Gesuch zur Hauptsache damit, dass er zufolge seines geschwächten Gesundheitszustands den rechtlich ungeregelten Aufenthalt in der Schweiz nicht mehr ausgehalten habe. Daraus - und aus dem Umstand, dass der Gesuchsteller jeglichen Kontakt zu den schweizerischen Behörden abgebrochen hat - ist zu folgern, dass dem Gesuchsteller bereits längere Zeit, bevor der Abschreibungsbeschluss vom 6. November 2002 erfolgte, bewusst war respektive sein musste, sein Aufenthalt in der Schweiz könnte ungeregelt sein. Er hat diesen Rechtszustand mithin freiwillig und willentlich gewählt. Wenn er nun im Nachhinein - namentlich nachdem er offenbar gesundheitliche Probleme bekam - vorbringt, er möchte seinen Aufenthalt in der Schweiz jetzt wieder in Einklang mit den gesetzlichen Bestimmungen bringen, verhält er sich zumindest klar widersprüchlich, wenn nicht gar rechtsmissbräuchlich.

d) Obschon der Zeitpunkt der Kenntnisnahme des Abschreibungsbeschlusses der ARK vom 6. November 2002 durch den Gesuchsteller nicht exakt feststeht, spielt dies vorliegend keine Rolle. In der massgebenden Rechtsprechung der ARK ist zwar hinsichtlich der zeitlichen Beschränkung für das Stellen eines Gesuchs um Wiederaufnahme eines Beschwerdeverfahrens von einer Zeitspanne von elf Monaten die Rede (vgl. EMARK 2003 Nr. 6 mit Hinweis auf EMARK 2000 Nr. 5). Die insbesondere in EMARK 2000 Nr. 5 entwickelte, aus dem Grundsatz von Treu und Glauben fliessende Praxis ist jedoch nach dem Gesagten - ungeachtet einer genauen Bemessung der zeitlichen Dauer - analog auf das vorliegende Gesuch anzuwenden.

e) Aus den genannten Gründen rechtfertigt es sich daher nicht, das Beschwerdeverfahren wieder aufzunehmen. Das entsprechende Gesuch ist demnach abzuweisen.

 

 

 

 

 

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