1997 / 6  - 43

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Richter in teilweise bloss wenige Minuten dauernden Schauprozessen nach den Regeln der Scharia drakonische Strafen (wie Todesurteile, Amputationen von Gliedern, Steinigungen, Auspeitschungen) ausfällen, welche meist unmittelbar nach dem unanfechtbaren Urteilsspruch öffentlich vollstreckt werden. Verschiedene Quellen berichten, dass die zuvor in weiten Landesteilen festzustellenden anarchistischen Zustände, insbesondere die regelmässig ungeahndet bleibende Terrorisierung der Zivilbevölkerung durch marodierende Mujahedin-Gruppen, durch die - im wörtlichen Sinne! - scharfe Gerichtsbarkeit der Taliban weitgehend zum Verschwinden gebracht worden sind. Die Taliban streben offenbar auch den (Wieder-) Aufbau der zivilen Verwaltung an, sehen sich dabei aber durch den offenkundigen Mangel an fachlich kompetenten und ausgebildeten Funktionären behindert.

Gemessen an den im erwähnten Grundsatzurteil festgelegten Kriterien für die Anerkennung quasi-staatlicher Herrschaft ergibt sich folgendes Gesamtbild: Die Taliban beherrschen die von ihnen eroberten umfangreichen Gebiete Afghanistans grösstenteils bereits deutlich länger als ein Jahr. Die von ihnen zuvor lange Zeit belagerte Landeshauptstadt Kabul ist zwar erst einige Monate unter ihrer Kontrolle; die Tatsache, dass die Taliban unmittelbar nach Eroberung der Stadt einen aus Mullahs bestehenden provisorischen (Regierungs-) Rat unter Mullah Omar einsetzten, bestätigte jedoch die von verschiedenen Beobachtern bereits zuvor geäusserte Vermutung einer geplanten Verlagerung des Verwaltungssitzes der Taliban aus dem im Südosten des Landes gelegenen Kandahar nach Kabul. Nach dem Einbruch des Winters ist bis zum nächsten Frühjahr zudem kaum mit einer massgebenden Verschiebung der Hauptfront nördlich von Kabul zu rechnen. Die militärische - beziehungsweise religionspolizeiliche - Überwachung der Einhaltung der äusserst rigiden Verhaltensgebote und -verbote durch die Bevölkerung funktioniert im Gegensatz zur Administration im engeren Sinne offenbar effizient; ein Indiz für den Grad der polizeilichen Kontrolle stellt beispielsweise der Umstand dar, dass die Taliban Visa für den Eintritt und das Verlassen der von ihnen eroberten Gebiete ausstellen und verlangen. Opposition zur Herrschaft der "Koranschüler" ist kaum feststellbar; allfällige entsprechende Gelüste werden zweifellos durch die mit der zynischen Gerichtsbarkeit der Taliban verbundenen Abschreckung gedämpft. Die erwähnten Verhaltensregeln für die Bevölkerung schliesslich lassen kaum einen Bereich des (privaten) Alltags unberührt und haben einschneidende Konsequenzen insbesondere auch für die Frauen in den von den Taliban beherrschten Landesteilen. Einem vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) errechneten "Index für menschliche Entwicklung" zufolge, lag Afghanistan bereits im Jahre 1995 unter den 174 untersuchten Staaten auf