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Auszug aus dem Urteil der ARK vom 10. August 2005 i.S. M.Q., angeblich Irak

Art. 32 Abs. 2 Bst. a und Art. 41 AsylG; Nichteintretensentscheid nach Durchführung einer ergänzenden Anhörung.

1. Hat das Bundesamt weitere Abklärungen im Sinne von Art. 41 AsylG ­ na-mentlich eine ergänzende Anhörung - durchgeführt, ist es nicht mehr berech-tigt, einen Nichteintretensentscheid unter Verneinung von Hinweisen auf Ver-folgung zu fällen, sondern hat das Asylgesuch materiell zu entscheiden
(Erw. 5.2.2.).

2. Dieser Grundsatz gilt ausnahmslos, wenn die weiteren Abklärungen dem pri-mären Zweck dienen, die Frage nach der offensichtlichen Haltlosigkeit der Ver-folgungshinweise zu klären (Erw. 5.2.3.).

Art. 32 al. 2 let. a et art. 41 LAsi : non-entrée en matière sur une demande d’asile après une audition complémentaire.

1. Si l’ODM a engagé d’autres mesures d’instruction conformément à l’art. 41 LAsi notamment sous forme d’une audition complémentaire, il n’est plus auto-risé à prendre une décision de non-entrée en matière pour absence manifeste d’indices de persécution ; il doit rendre une décision matérielle (consid. 5.2.2.).

2. Cette règle ne souffre d’aucune exception si les mesures d’instruction ont pour premier but d’éclaircir le cas sous l’angle de l’absence manifeste d’indices de persécution (consid. 5.2.3.).

Art. 32 cpv. 2 lett. a nonché art. 41 LAsi; non entrata nel merito di una domanda d’asilo dopo l’effettuazione di un’audizione complementare.

1. Allorquando l’UFM ha esperito degl’ulteriori chiarimenti ai sensi dell’art. 41 LAsi, segnatamente un’audizione complementare sui motivi d’asilo, non è più giustificata la pronuncia di una decisione di non entrata nel merito per assenza manifesta d’indizi di persecuzione. Per contro, va resa una decisione di merito (consid. 5.2.2.).


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2. Questo principio non ammette eccezioni allorquando le misure d’istruzione complementare hanno lo scopo primario d’acclarare la manifesta inconsistenza degli evocati indizi di persecuzione (consid. 5.2.3.).

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Der Beschwerdeführer stellte am 19. Februar 2004 in der Schweiz ein Asylgesuch und wurde am
1. März 2004 im Empfangszentrum Chiasso summarisch befragt. Am 29. März 2004 hörte die zu-ständige kantonale Behörde den Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Asylgründen an.

Anlässlich der Befragungen machte der Beschwerdeführer im Wesentlichen geltend, er sei irakischer Staatsangehöriger und habe bis im Jahr 1983 im Irak gelebt. Anschliessend sei er nach Algerien um-gezogen, wo er mit einer Aufenthaltsbewilligung gelebt habe. Seine Eltern seien von unbekannten Personen mehrmals mündlich aufgefordert worden, Algerien zu verlassen. Im Jahr 2000 hätten sie überdies einen Brief diesen Inhalts erhalten, welchen sie der Polizei gezeigt hätten. Diese habe jedoch nichts unternommen.

Am 18. Februar 2005 führte das BFM mit dem Beschwerdeführer eine ergänzende Anhörung durch.

Das BFM trat gestützt auf Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG mit Verfügung vom 23. Mai 2005 auf das Asyl-gesuch des Beschwerdeführers nicht ein und ordnete dessen Wegweisung aus der Schweiz sowie den Vollzug an.

Mit Beschwerde vom 25. Mai 2005 beantragte der Beschwerdeführer, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und zur materiellen Prüfung an die Vorinstanz zurückzuweisen, eventuell sei die vorläufige Aufnahme anzuordnen.

Die Vorinstanz schloss in ihrer Vernehmlassung vom 3. Juni 2005 auf Abweisung der Beschwerde. Sie hielt dabei fest, nach der Befragung im Empfangszentrum und der kantonalen Anhörung hätten sich Hinweise auf einen Sachverhalt gemäss Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG ergeben. Zudem habe der Verdacht bestanden, dass der Beschwerdeführer eine falsche Staatsangehörigkeit angegeben habe. Der Untersuchungsgrundsatz verpflichte die Behörden, den rechtserheblichen Sachverhalt abzuklären. Deshalb sei eine ergänzende Anhörung erfolgt. Wenn ein Sachverhalt gemäss Art. 32 bis 35 AsylG vorliege, seien die Behörden verpflichtet, einen Nichteintretensentscheid zu fällen. Ob der Tatbestand erfüllt sei, hänge vom Ergebnis des Beweisverfahrens und nicht vom betriebenen Ab-


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klärungsaufwand ab. Wenn das Ergebnis eindeutig sei, müsse ein Nichteintretensentscheid gefällt werden. Deshalb sei auf ein Asylgesuch auch dann nicht einzutreten, wenn die Erfüllung der Tat-bestandsvoraussetzungen erst auf Grund einer weiteren Bundesanhörung feststehe.

Die ARK heisst die Beschwerde gut, hebt die angefochtene Verfügung auf und weist die Sache zur Weiterführung des Asylverfahrens an das BFM zurück.

Aus den Erwägungen:

5.

5.1. Der Beschwerdeführer hat bis zum Urteilszeitpunkt keine Identitätspapiere eingereicht. Dies wird von ihm auch nicht bestritten. Die Frage, ob er dazu aus entschuldbaren Gründen nicht in der Lage war, kann indes aufgrund der nachfolgenden Erwägungen offen bleiben.

5.2. Im vorliegenden Fall stellt sich nämlich vorab die grundsätzliche Frage, ob die Vorinstanz zu Recht einen Nichteintretensentscheid gefällt hat oder ob sie das Asylgesuch materiell hätte behan-deln müssen.

5.2.1. Aus Art. 36 AsylG ergibt sich, dass eine Anhörung nach den Artikeln 29 und 30 AsylG statt-finden muss, wenn das BFM in Betracht zieht, einen Nichteintretensentscheid im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG zu fällen. Die Anhörung zu den Asylgründen erfolgt in der Regel durch die zu-ständige kantonale Behörde, kann aber auch direkt durch das Bundesamt durchgeführt werden, wenn dies zu einer erheblichen Beschleunigung des Verfahrens führt (vgl. Art. 29 Abs. 4 AsylG). Im vorlie-genden Fall wurde der Beschwerdeführer zunächst im Sinne von Art. 29 Abs. 1 AsylG durch das Amt für Migration des Kantons X. angehört. Fast ein Jahr später führte das BFM gestützt auf Art. 41 AsylG eine ergänzende Anhörung mit dem Beschwerdeführer durch und fällte anschliessend einen Nichtein-tretensentscheid.

5.2.2. Die in Art. 41 AsylG vorgesehenen weiteren Abklärungsmassnahmen, namentlich die ergän-zende Anhörung, sind nun aber gemäss dem klaren Wortlaut des Gesetzes und der systematischen Einordnung dieses Artikels lediglich für diejenigen Fälle vorgesehen, in denen ein materieller Ent-scheid nach den Artikeln 38 bis 40 AsylG nicht ohne die Vornahme von weiteren Abklärungen gefällt werden kann. Hingegen sind weitere Abklärungen nach Art. 41 AsylG grundsätzlich nicht vorgesehen für Fälle, in denen voraussichtlich ein Nichteintretensentscheid nach den Art. 32 bis 35 AsylG erge-hen soll, zumal dies dem vom Gesetzgeber angestrebten Beschleunigungseffekt, welcher durch die im


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Anschluss an die förmliche Befragung des Asylgesuchstellers zu erfolgende Triage (Nichteintre-tensentscheid nach den Art. 32 bis 35 AsylG, Gewährung von Asyl beziehungsweise vorübergehenden Schutzes ohne weitere Abklärungen [Art. 38 und 39 AsylG], Ablehnung des Gesuchs ohne weitere Abklärungen [Art. 40 AsylG] oder eben Vornahme weiterer Abklärungen gemäss Art. 41 AsylG) erreicht werden soll, zuwiderlaufen würde (vgl. dazu W. Kälin/W. Stöckli, Das neue Asylverfahren, in ASYL 1990/3, S. 4; A. Achermann/Ch. Hausammann, Handbuch des Asylrechts, Bern 1991, S. 299). Dazu kommt, dass die in Art. 41 AsylG genannten weiteren Abklärungsmassnahmen gemäss ihrer gesetzessystematischen Einordnung offensichtlich der Klärung der Frage dienen sollen, ob die Flüchtlingseigenschaft des Asylgesuchstellers als glaubhaft erachtet werden muss oder nicht. Bei dem hier interessierenden Tatbestand von Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG gilt dagegen der weite Verfolgungsbegriff und ein tiefer Beweismassstab. Es erscheint daher auch aus diesem Grund nicht sachgerecht, wenn die Vorinstanz erst durch weitere Abklärungen gemäss Art. 41 AsylG zur Erkenntnis gelangt, dass die Vorbringen des Asylgesuchstellers offensichtlich haltlos im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG sind. Folglich ist das Bundesamt nach erfolgten weiteren Abklärungen, namentlich der Durchführung einer ergänzenden Anhörung, grundsätzlich nicht mehr berechtigt, einen Nichteintretensentscheid zu fällen, sondern hat das Gesuch materiell zu entscheiden. In der Lehre wird überdies die Auffassung vertreten, dass die erstinstanzliche Asylbehörde den Grundsatz von Treu und Glauben verletzt, wenn sie nach durchgeführter Anhörung zu den Asylgründen nicht direkt einen Nichteintretensentscheid fällt, sondern zunächst weitere prozessuale Handlungen, beispielsweise Abklärungen nach Art. 41 AsylG, vornimmt (vgl. W. Stöckli, Nichteintretensfälle – Entzug und Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung von Beschwerden – Ausreisefristen, in ASYL 1991/2, S. 11).

5.2.3. Das BFM wendet in seiner Vernehmlassung vom 3. Juni 2005 ein, es müsse unter gewissen Umständen doch auch möglich sein, erst nach der Durchführung von weiteren Abklärungen einen Nichteintretensentscheid zu fällen. Dies trifft zu, allerdings widerspricht ein solches Vorgehen – wie oben erwähnt – der Konzeption des Gesetzgebers und ist daher – in Bezug auf den hier interessieren-den Tatbestand von Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG – nur in jenen Fällen denkbar, in denen die weiteren Abklärungen nicht dem primären Zweck dienen, die Frage der offensichtlichen Haltlosigkeit der Verfol-gungshinweise zu klären. Aufgrund der Aktenlage ist indes davon auszugehen, dass genau dies das Ziel der vorgenommenen weiteren Abklärungen war. Die Durchführung der ergänzenden Anhörung im vorliegenden Fall impliziert nämlich, dass das BFM zu dem Zeitpunkt, in dem die vom Gesetz vorge-sehene Triage stattfinden sollte (im vorliegenden Fall nach Abschluss der kantonalen Anhörung), den Tatbestand von Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG nicht als erfüllt erachtete. Bezeichnenderweise


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steht denn auch in der Vorladung vom 1. Februar 2005, die vorhandenen Unterlagen erlaubten „noch keinen eindeutigen Schluss“. Es ist daher davon auszugehen, dass die vom Beschwerdeführer vor-gebrachten Hinweise auf Verfolgung vom BFM zu diesem Zeitpunkt nicht auf den ersten Blick als unglaubhaft erkannt beziehungsweise nicht als offensichtlich haltlos qualifiziert worden sind. Dieser Eindruck wird dadurch bestätigt, dass sich die ergänzende Anhörung nicht auf Fragen zur Herkunft des Beschwerdeführers (im Sinne eines Ersatzes für die offenbar nicht zustande gekommene LINGUA-Analyse) beschränkte, sondern dass der Beschwerdeführer dabei überdies erneut zu seinen Identitätspapieren, seinem Aufenthaltsstatus in Algerien sowie – ganz zum Schluss – spezifisch zu seiner Verfolgung befragt wurde.

5.2.4. Da die Vorinstanz im vorliegenden Fall eine ergänzende Anhörung gemäss Art. 41 AsylG vor-genommen hat, welche dem Zweck diente, die Frage der offensichtlichen Haltlosigkeit der Verfol-gungshinweise zu klären, hätte sie aufgrund der vorstehenden Erwägungen auf das Asylgesuch des Beschwerdeführers eintreten und es in materieller Hinsicht prüfen müssen.

 

 

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