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Auszug aus dem Urteil vom 18. Mai 2005 i.S. A.Y. und R.A., Eritrea und Äthiopien

Art. 3 AsylG, Art. 14a Abs. 4 ANAG; flüchtlingsrechtliche Relevanz von Deportationen, unerträglicher psychischer Druck, Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs, existenzbedrohende Situation.

1. Staatsangehörigkeit von Eritreern und Äthiopiern (Erw. 5.1. - 5.2.).

2. Die Deportationen von Eritreern aus Äthiopien zwischen 1998 und 2002 sind grundsätzlich geeignet, einen unerträglichen psychischen Druck im Sinne von Art. 3 AsylG zu erzeugen. Die Flüchtlingseigenschaft wird vorliegend angesichts der doppelten Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführer verneint (Erw. 7).

3. Für die Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs nach Eritrea ist vorauszusetzen, dass begünstigende individuelle Umstände (namentlich ein wirtschaftlich tragfähiges soziales oder familiäres Netz oder andere die wirtschaftliche Integration ermöglichende Faktoren) vorliegen, aufgrund derer gewährleistet ist, dass die betroffene Person nach ihrer Rückkehr nicht zur mittellosen Stadt- oder Landbevölkerung gehört und sich daher in einer existenzbedrohenden Situation befinden werde (Erw. 10.5. - 10.8.).

Art. 3 LAsi, art. 14a al. 4 LSEE ; déportation en tant que persécution déterminante pour la qualité de réfugié ; pression psychique insupportable ; exigibilité de l’exécution du renvoi ; mise en danger concrète.

1. Détermination de la nationalité des Erythréens et des Ethiopiens (consid. 5.1. - 5.2.).

2. Les déportations des ressortissants érythréens depuis l’Ethiopie entre 1998 et 2002 étaient en soi propres à engendrer une pression psychique insupportable au sens de l’art. 3 LAsi. La qualité de réfugié n’a toutefois pas été reconnue en l’espèce, compte tenu de la double nationalité des recourants (consid. 7).

3. L’exigibilité de l’exécution du renvoi en Erythrée est conditionnée par l’existence de circonstances personnelles favorables (telle la présence


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sur place d’un solide réseau social ou familial ou d’autres facteurs favorisant la réintégration économique de l’intéressé), permettant de garantir qu’à son retour, la personne concernée, qu’elle soit d’origine citadine ou rurale, ne se retrouvera pas sans ressources, au point de voir sa vie en danger (consid. 10.5. - 10.8.).

Art. 3 LAsi, art. 14a cpv. 4 LDDS; rilevanza per la qualità di rifugiato di una deportazione; pressione psichica insopportabile; esigibilità dell’esecuzione dell’allontanamento; esposizione a pericolo concreto.

1. Cittadinanza dell’Eritrea e dell’Etiopia (consid. 5.1. - 5.2.).

2. Le deportazioni d’eritrei dall’Etiopia tra il 1998 ed il 2002 erano di principio atte a causare una pressione psichica insopportabile ai sensi dell’art. 3 LAsi. La qualità di rifugiato è stata in casu negata in ragione della doppia cittadinanza dei ricorrenti (consid. 7).

3. L’esigibilità dell’esecuzione dell’allontanamento verso l’Eritrea presuppone l’esistenza di circostanze personali favorevoli (segnatamente la presenza di una solida rete sociale o familiare o d’altri fattori che consentano la reintegrazione economica). Va escluso che al suo rientro la persona in questione, sia essa proveniente da zona urbana o rurale, si trovi confrontata ad una condizione d’indigenza tale da esporla a un pericolo concreto (consid. 10.5. - 10.8.).

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Die Beschwerdeführer lebten, bevor sie am 17. August 2003 in die Schweiz gelangten, im Sudan.

Die Beschwerdeführerin machte folgende Angaben zu ihrer Person und zu ihren Fluchtgründen: Sie wisse nicht, in welchem Jahr sie geboren sei, weshalb es ihr schwer falle, Ereignisse zeitlich einzuordnen. Sie sei als orthodoxe Tigrinerin in Eritrea, das zu jener Zeit noch zu Äthiopien gehört habe, geboren. Als sie ungefähr acht Jahre alt gewesen sei, sei ihr Vater, der für die ELF gekämpft habe, verschwunden und ihr Bruder von der EPLF verschleppt worden. Sie habe beide seither nicht mehr gesehen. Die Beschwerdeführerin habe darauf mit ihrer Mutter ihren Geburtsort verlassen, um sich an einem anderen Ort niederzulassen.


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Die Mutter sei indessen kurz darauf verstorben und die Beschwerdeführerin sei von der äthiopischen Armee, die zu jener Zeit im Unabhängigkeitskrieg Eritreas engagiert war, aufgenommen worden. Sie habe während ungefähr vier Jahren mit den äthiopischen Soldaten gelebt, bis einer unter ihnen sie geheiratet habe. Mit diesem ersten Ehemann sei sie nach Asmara gezogen, wo sie ungefähr fünf Jahre gelebt und zwei Kinder geboren habe. Nach der Unabhängigkeit Eritreas sei ihr damaliger Ehemann verhaftet worden und verschwunden. Sie selbst sei als Mutter äthiopischer Kinder vom eritreischen Staat nach Äthiopien deportiert worden, wo sie mehrere Jahre lang bei einer Verwandten ihres ersten Ehemannes gelebt habe, bis sie von den äthiopischen Behörden als Eritreerin ausgewiesen worden sei. Ihre Kinder seien als Äthiopier bei der Verwandten ihres ersten Ehemannes geblieben. Von Addis Abeba sei sie ohne Verzug nach Khartum im Sudan gereist. Dort habe sie ungefähr im Jahr 2000 den Beschwerdeführer geheiratet. Ausser den Kindern aus erster Ehe, die sie in Addis Abeba vermute, habe die Beschwerdeführerin keine Verwandten mehr. In der Schweiz erwarte sie ein Leben in Frieden.

Der Beschwerdeführer machte folgende Angaben zu seiner Person und zu seinen Fluchtgründen: Er sei als orthodoxer Tigriner in Addis Abeba, Äthiopien, geboren worden, wo er während zwölf Jahren die Schulen besucht habe. Im Jahr 1987 habe er Äthiopien mit seinem Bruder verlassen und sich für sieben Jahre in Khartum, Sudan, niedergelassen, wo er als Fotograf und Friseur gearbeitet habe. Im Jahr 1995 seien er und sein Bruder auf Anraten der Familie nach Eritrea gereist, um sich dort niederzulassen. Kurz nach ihrer Einreise sei sein Bruder unter dem Verdacht, ein ELF-Anhänger zu sein, verhaftet worden. Als er sich nach dessen Verbleib erkundigt habe, sei auch der Beschwerdeführer verhaftet und einen Monat festgehalten worden. Nach seiner Freilassung sei er nach Addis Abeba weitergereist, wo er einen eigenen Friseursalon eröffnet habe. Im Jahr 1999 sei er gemeinsam mit seinem Vater aus Äthiopien deportiert worden, weil seine Grosseltern Eritreer seien. Der Vater sei den Strapazen der Reise erlegen. Der Beschwerdeführer sei erneut in den Sudan gereist und habe zunächst in Kassala, später in Khartum gelebt. Dort habe er die Beschwerdeführerin geheiratet. Im Sudan sei er anlässlich einer Hausdurchsuchung von der sudanesischen Polizei verhaftet und während fünfzehn Tagen festgehalten worden. Die Polizisten hätten vorgegeben, illegalen Alkohol zu suchen, hätten es aber einzig auf Geld abgesehen gehabt. Die eritreische Bevölkerung im Sudan sei solchen Übergriffen oft ausgesetzt. Der Beschwerdeführer habe höchstens zwei Monate in Eritrea gelebt. Er glaube, seine Grosseltern wohnten dort, sofern sie überhaupt noch lebten. Seine Mutter, seine Geschwister und seine Kinder aus erster Ehe wohnten in Addis Abeba.


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Mit Verfügung vom 7. Juli 2004 stellte das BFF fest, die Vorbringen der Beschwerdeführer genügten den Anforderungen an den Flüchtlingsbegriff nicht, lehnte die Asylgesuche ab und ordnete die Wegweisung und deren Vollzug an. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Beschwerdeführer seien eritreische Staatsbürger und könnten sich auf den Schutz ihres Heimatstaates verlassen. Dieser habe sie nicht verfolgt. Die allgemeine Menschenrechtslage vermöge ebenso wenig die Flüchtlingseigenschaft zu begründen, wie der Wunsch nach einem Leben in Frieden. Im Übrigen befinde sich Eritrea in einer Stabilisierungsphase und es könne von einer Situation der allgemeinen Gewalt insbesondere in der Hauptstadt Asmara nicht die Rede sein.

Mit Beschwerde vom 7. August 2004 wandten sich die Beschwerdeführer an die ARK. Sie beantragten die Aufhebung der Verfügung vom 7. Juli 2004, die Anerkennung als Flüchtlinge und die Gewährung von Asyl. Eventuell sei festzustellen, der Vollzug der Wegweisung sei undurchführbar, und die vorläufige Aufnahme anzuordnen. Zur Begründung wiesen sie erneut auf die Verhaftung des Beschwerdeführers in Eritrea hin. Im Übrigen seien er und die Beschwerdeführerin im Sudan der in Opposition zur eritreischen Regierung stehenden Gruppierung SAGEM beigetreten. Auch wenn es sich hierbei in erster Linie um eine Schutzmassnahme gegenüber den sudanesischen Behörden und weniger um ein politisches Bekenntnis gehandelt habe, müssten sie damit rechnen, im Fall einer Rückkehr nach Eritrea als Oppositionelle verfolgt zu werden. Zur Untermauerung dieses Vorbringens reichten die Beschwerdeführer Mitgliederausweise der SAGEM zu den Akten.

Die ARK heisst die Beschwerde teilweise gut.

Aus den Erwägungen:

4. Im Folgenden gilt es, die flüchtlingsrechtliche Relevanz der Vorbringen der Beschwerdeführer zu prüfen. Zu diesem Zweck wird zunächst erörtert, welche Staatsangehörigkeit oder unter Umständen welche Staatsangehörigkeiten die Beschwerdeführer besitzen, sowie ob und aufgrund welcher Umstände sich ihr Status in dieser Hinsicht verändert hat (Erw. 5). Sodann wird untersucht, wie die Deportation der Beschwerdeführerin aus Eritrea flüchtlingsrechtlich zu würdigen ist (Erw. 6). In der Folge werden die Vorbringen bezüglich der Deportation beziehungsweise der Ausweisung aus Äthiopien auf ihre Relevanz geprüft (Erw. 7). Anschliessend folgen Erwägungen zur Verhaftung des Beschwerdeführers sowie der Zugehörigkeit der Beschwerdeführer zur politischen Opposition in Eritrea (Erw. 8).


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Einleitend kann festgestellt werden, dass die Vorinstanz ihren negativen Entscheid nicht auf eine allfällig fehlende Glaubhaftigkeit der Vorbringen der Beschwerdeführer abgestützt, sondern festgestellt hat, diese Vorbringen genügten den Anforderungen an die Flüchtlingseigenschaft nicht. Da sie ihre Erwägungen in der angefochtenen Verfügung gleichwohl unter dem Vorbehalt der Glaubhaftigkeit verstanden haben wollte und da insbesondere die Aussagen der Beschwerdeführerin streckenweise vage und widersprüchlich sind, ist es angezeigt, festzuhalten, dass die ARK davon ausgeht, dass die Vorbringen der Beschwerdeführer im Wesentlichen glaubhaft sind. Sie stützt sich hierbei auf folgende Überlegungen:

Die relevanten Vorbringen der Beschwerdeführer stimmen mit den der ARK vorliegenden Lagebeurteilungen überein; ihre Schilderungen im Zusammenhang mit den Deportationen decken sich mit Bezug auf Zeitpunkt, Ablauf und Auswirkungen mit den von unabhängigen Beobachtern festgestellten Mustern. Diese Übereinstimmung mit den historischen Tatsachen ist angesichts der Umstände des vorliegenden Einzelfalls als Hinweis für die Glaubhaftigkeit zu werten, da aufgrund charakteristischer Details davon ausgegangen werden kann, dass die Beschwerdeführer das Vorgebrachte effektiv erlebt und nicht aus zweiter Hand erfahren und auswendig gelernt haben. Die ausführliche Schilderung der Verhaftung des Beschwerdeführers, anlässlich derer er sich geweigert habe, auf Verlangen der Polizisten Papiere zu unterschreiben, da er nicht der Familienälteste sei, oder die anschauliche Darstellung der Bedingungen der Busreise (vgl. Erw. 7.2.) wäre in den Aussagen nicht zu erwarten, wenn die Beschwerdeführer nicht über selbst Erlebtes berichten würden.

Die ARK wird in dieser Auffassung durch den Umstand bestärkt, dass die Beschwerdeführer nicht auf der flüchtlingsrechtlichen Relevanz einer ausgefeilten Geschichte insistierten. Explizit zu ihren Fluchtgründen befragt, verwiesen sie zunächst in allgemeiner Weise auf die politische Lage in Eritrea und auf ihre Zugehörigkeit zur Exilopposition, also gerade auf Vorbringen, die nicht als relevant angesehen werden können (vgl. Erw. 8). Die Ausführungen zu jenen Lebensumständen dagegen, die im vorliegenden Fall ausschlaggebend sein werden, machten die Beschwerdeführer aus Anlass von allgemeinen Fragen zu ihren Lebensläufen und familiären Verhältnissen. Die ARK erkennt in dieser den Interessen der Beschwerdeführer im Asylverfahren zuwiderlaufenden Gewichtung der Vorbringen im vorliegenden Fall einen starken Hinweis auf die Glaubhaftigkeit.

Aus den Schilderungen der Beschwerdeführerin geht sodann glaubhaft hervor, dass sie im Kindesalter Waise wurde und sich einer äthiopischen Kampftruppe anschloss. Es muss davon ausgegangen werden, dass sie in diesem Rahmen seit


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dem Alter von ungefähr zehn bis zwölf Jahren regelmässig sexuelle Handlungen erleben musste. Nach ihrer eigenen Darstellung wurde sie mit einem der Soldaten verheiratet, mit dem sie zwei Kinder hatte. Die Erkenntnisse über die psychischen Auswirkungen der Eindrücke von Kindersoldaten im Allgemeinen und deren sexuellen Ausbeutung im Speziellen sind spärlich. Es unterliegt indessen für die ARK keinem Zweifel, dass an die Kohärenz und die Substantiierung der Vorbringen einschlägig vorbelasteter Personen reduzierte Anforderungen zu stellen sind (vgl. Coalition to Stop the Use of Child Soldiers, Child Soldiers Global Report, Mai 2001, S. 5 f.; G. Machel, Promotion and Protection of the Rights of Children, Impact of Armed Conflict on Children, Note by the Secretary-General of the United Nations, 26. August 1996, Rz. 45 ff., G. Machel, The Impact of War on Children, London 2001, S. 13; vgl. auch EMARK 2003 Nr. 17, Erw. 4.b, S. 106).

5. Die Beschwerdeführer gaben sich der Vorinstanz gegenüber als eritreische Staatsbürger zu erkennen. Es steht indessen fest, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Geburt äthiopische Staatsbürger waren, da das Territorium des heutigen Staates Eritrea damals Teil Äthiopiens war. Im Folgenden gilt es zu untersuchen, ob und gegebenenfalls wann sich der Status der Beschwerdeführer mit Bezug auf ihre Staatsangehörigkeit geändert hat.

5.1. Eritrea erlangte seine Unabhängigkeit im Jahr 1993 am Ende eines jahrzehntelangen äthiopischen Bürgerkrieges, aus dem die Eritrean Peoples Liberation Front (EPLF) sowie die Tigrean Peoples Liberation Front (TPLF) als siegreiche Parteien hervor gingen. Beide Gruppierungen rekrutierten ihre Mitglieder aus der tigrinischen Bevölkerung im heutigen Eritrea (EPLF) bzw. im Norden des heutigen Äthiopien (TPLF). Bereits vor Ende des Bürgerkriegs hatten sich die EPLF und die TPLF über ein Referendum zur Unabhängigkeit Eritreas verständigt, das im Falle eines Sieges abgehalten werden sollte. Das Referendum wurde im Jahr 1993 mit Unterstützung der neuen tigrinischen Eliten sowohl Äthiopiens als auch Eritreas durchgeführt und führte mit einer Zustimmung von 99,8% zur Unabhängigkeit Eritreas (vgl. UNHCR, Guidelines Relating to the Eligibility of Asylum Seekers from Eritrea, October 2002; Home Office, United Kingdom, Eritrea Report, April 2004, Ziff. 4.4. ff.).

Stimmberechtigt waren die Bürger des zu gründenden Staates Eritrea. Die Staatsbürgerschaft wurde vor dem Referendum in der Nationality Proclamation (law no. 21 of 1992) geregelt (vgl. UK Home Office, a.a.O., Ziff. 5.2. ff). Danach waren zunächst Personen, die 1933 (erste Volkszählung durch die italienische Kolonialverwaltung) in Eritrea wohnten, eritreische Staatsbürger. Als „naturalisierte“ Eritreer wurden sodann Personen angesehen, die sich zwischen 1934 und 1952 in Eritrea niedergelassen hatten. Personen, die sich später in Erit-


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rea niedergelassen hatten, wurden als Staatsbürger anerkannt, wenn sie eine in Eritrea gebräuchliche Sprache beherrschten, im Jahr 1974 (Machtübernahme durch Mengistu) bereits zehn Jahre in Eritrea gelebt hatten und die Absicht hatten, sich dauernd dort aufzuhalten. Die auf diese Weise definierten Eritreer konnten ihre Staatsbürgerschaft an ihre Nachkommen weitergeben (vgl. UNHCR, Oktober 2002, a.a.O., S. 13; UK Home Office, a.a.O., Ziff. 5.2. ff.).

Der Anspruch, Eritreer zu sein oder von einem Eritreer abzustammen, konnte durch Dokumente oder durch Eid von drei Zeugen mit eritreischer Staatsbürgerschaft belegt werden (vgl. UK Home Office, a.a.O., Ziff. 5.2. ff.).

Die Nationality Proclamation (law no. 21 of 1992) wurde nach durchgeführtem Referendum ins Recht des neuen Staates Eritrea übergeführt und regelt heute die Anerkennung und den Erwerb von dessen Staatsbürgerschaft (vgl. UNHCR, Oktober 2002, a.a.O., S. 13).

Zahlreiche Aspekte der bilateralen Beziehungen der beiden Länder wurden angesichts des anfänglich freundschaftlichen Verhältnisses der neuen Eliten informell geregelt. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass weder die Auswirkungen einer Beteiligung am Referendum auf die äthiopische Staatsbürgerschaft geregelt noch die Möglichkeit einer eritreisch-äthiopischen Doppelbürgerschaft vorgesehen wurde (vgl. ICG, Ethiopia and Eritrea: War or Peace?, ICG Africa Report No. 68, 24. September 2003, S. 2 f.; Human Rights Watch, the Horn of Africa War; Mass Expulsions and the Nationality Issue, Vol. 15, Nr. 3 (A), Januar 2003, S. 7 f.). Erst mit der Verschlechterung der bilateralen Beziehungen begann sich in Äthiopien die Auffassung durchzusetzen, Eritreer, die sich am Referendum beteiligt hätten, hätten mit diesem Akt eine Entfremdung von Äthiopien demonstriert, die mit der Staatsbürgerschaft nicht vereinbar sei.

5.2. Die Beschwerdeführerin führte aus, sie sei Ende der siebziger oder Anfang der achtziger Jahre auf dem Territorium des heutigen Eritrea geboren worden. Auch wenn sie hierzu keine Angaben macht, kann davon ausgegangen werden, dass ihre Eltern Eritreer im Sinne der oben ausgeführten Regelung waren. Aus den Akten ist nicht ersichtlich, ob sie sich am Referendum beteiligt hat. Nach der Unabhängigkeit Eritreas sei sie nach Äthiopien deportiert worden (vgl. Erw. 6), wo sie mit einer äthiopischen Identitätskarte gelebt habe, die ihr als Frau eines äthiopischen Soldaten ausgestellt worden sei.

Der Beschwerdeführer gab an, in Addis Abeba geboren zu sein und dort seine gesamte Jugend verbracht zu haben. Zwischen 1987 und 1995 habe er zunächst im Sudan und dann während weniger Monate in Eritrea gelebt, worauf er nach Addis Abeba zurückgekehrt sei. Im Jahr 1993 habe er sich im Sudan eine eritrei-


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sche Identitätskarte ausstellen lassen, um sich am Referendum zu beteiligen. Er habe Anspruch auf eine solche gehabt, weil seine Grosseltern aus Eritrea stammten und, wenn sie noch am Leben seien, weiterhin dort wohnten.

Bis zu ihrer jeweiligen Deportation bzw. Ausweisung lebten beide Beschwerdeführer mit äthiopischen Papieren in Äthiopien. Es kann davon ausgegangen werden, dass sie sich ebenso sehr als Äthiopier verstanden haben wie als Eritreer und in diesem Verständnis von den äthiopischen Behörden durch Duldung ihrer Anwesenheit bestärkt worden sind.

Nach der Deportation hätten sich beide nicht in Eritrea niedergelassen, sondern seien in den Sudan gezogen, um dort zu leben. Die Beschwerdeführerin habe sich in einem örtlichen Büro der EPLF (richtig PFDJ) eine eritreische Identitätskarte ausstellen lassen. Ehemalige Einwohner ihres Herkunftsdorfes hätten bezeugt, dass sie Eritreerin sei.

Aufgrund dieser Aussagen kann festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer als Äthiopier geboren wurden und bis zu ihrer Deportation bzw. Ausweisung als solche in Äthiopien gelebt hatten. Seit der Unabhängigkeit Eritreas besass der Beschwerdeführer die dortige Staatsbürgerschaft und die Beschwerdeführerin einen Anspruch auf Anerkennung derselben. Angesichts dieser Umstände wird für das vorliegende Verfahren davon ausgegangen, dass sie in der interessierenden Periode eritreisch-äthiopische Doppelbürger waren. Handlungen, Duldungen und Unterlassungen beider Staaten gegenüber den Beschwerdeführern kann grundsätzlich flüchtlingsrechtliche Relevanz zukommen.

5.3. Die Beschwerdeführer waren nach ihrer Deportation aus Äthiopien nicht staatenlos. Der Beschwerdeführer war zu diesem Zeitpunkt bereits im Besitze eritreischer Papiere, während es der Beschwerdeführerin dem Anschein nach ohne weitere Umstände gelang, ihren Anspruch auf die Anerkennung der eritreischen Staatsbürgerschaft im Sudan durchzusetzen. Der Sudan ist somit nicht das „Land, in dem sie zuletzt wohnten“ im Sinne von Art. 3 AsylG, da dieser Teil der Bestimmung ausschliesslich auf Staatenlose anwendbar ist. Der Sudan kommt als Verfolgerstaat nicht in Betracht (vgl. W. Kälin, Grundriss des Asylverfahrens, Basel und Frankfurt am Main 1990, S. 34 f.; EMARK 2004 Nr. 18, Erw. 7 und 8, S. 116 f.).

6. Im Folgenden gilt es zu untersuchen, ob die Deportation der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder Anfang oder Mitte der neunziger Jahre aus Eritrea flüchtlingsrechtlich relevant ist (vgl. zu den materiellen Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft EMARK 1995 Nr. 2, Erw. 3.a, S. 16 f., m.w.H.).


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6.1. In diesem Zusammenhang ist zunächst auf die von der Beschwerdeführerin während der kriegerischen Auseinandersetzungen gemachten Erfahrungen einzugehen. Ihr Vater, ein ELF-Kämpfer, sei verschollen, als sie noch ein Kind (ungefähr zwischen acht und zehn Jahre alt) gewesen sei. Darauf hätten sie und ihre Mutter das Dorf, in dem sie aufgewachsen war, verlassen und seien von Dorf zu Dorf gereist. Nach wenigen Monaten sei die Mutter gestorben und sie sei auf sich selbst gestellt gewesen. In dieser Situation habe sie sich einer Einheit äthiopischer Soldaten angeschlossen. Für diese habe sie gekocht, Wasser geholt und ähnliche Tätigkeiten verrichtet. Nachdem sie einige Jahre auf diese Weise mit den Soldaten gelebt habe, habe sie begonnen, eine sexuelle Beziehung mit einem von ihnen zu unterhalten. Sie habe mit diesem Soldaten zwei Kinder gehabt und bis zu dessen Verschwinden in Asmara gelebt.

Diese Vorbringen entsprechen einem bekannten Muster von Rekrutierung und Einsatz von weiblichen Kindersoldaten in afrikanischen Konflikten. Die Mädchen, oft wie die Beschwerdeführerin konfliktbedingt Waisen, schliessen sich aus Not den Truppen an. Sie werden oftmals nicht zum Dienst an der Waffe herangezogen, sondern übernehmen Aufgaben im Lager und in der Versorgung der Soldaten. Da sie auf diese Weise die kämpfenden Teile einer Einheit entlasten, sind sie in einer ökonomischen Betrachtungsweise auch als Soldaten zu verstehen. Zudem werden weibliche Kindersoldaten regelmässig sexuell ausgebeutet (vgl. zum Ganzen Machel, 1996, a.a.O., Rz. 45; Machel, 2001, a.a.O., S. 13; Coalition to Stop the Use of Child Soldiers, a.a.O., S. 4).

6.2. Am Ende des Bürgerkriegs und nach der Niederlage der äthiopischen Truppen, auf deren Seite die Beschwerdeführerin den Krieg miterlebte, habe sie sich mit ihren zwei Kindern in Asmara, der Hauptstadt des neu entstandenen Staates Eritrea, aufgehalten. Der Vater der Kinder sei verschwunden gewesen. Die Beschwerdeführerin sei, wie alle Frauen, die mit Äthiopiern verheiratet gewesen seien, registriert und nach Äthiopien abgeschoben worden.

Dieses Vorbringen stimmt mit den dokumentierten Verhältnissen nach Ende des Bürgerkrieges überein. Nach der Machtübernahme wandelte sich die Bürgerkriegspartei EPLF zur politischen Einheitspartei PFDJ (Peoples Front of Democracy and Justice). Die neuen Herrscher in Asmara verfolgten nach der Unabhängigkeit eine Politik, die sämtliche Eritreer einbeziehen sollte. Ausdrücklich ausgenommen waren einzig Personen, die mit dem gestürzten Regime kollaboriert hatten (vgl. UNHCR, Position on Return of Rejected Asylum Seekers to Eritrea, Januar 2004, S. 1 ff.; UNHCR, Oktober 2002, a.a.O., S. 3; UK Home Office, a.a.O., Ziff. 4.7.). Es ist daher davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin nicht wegen ihrer Eigenschaft als Frau und Mutter äthiopischer Staatsbürger deportiert wurde, sondern weil sie auf der Verliererseite am Krieg mit-


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gewirkt hatte und deshalb als Anhängerin des gestürzten äthiopischen Regimes wahrgenommen wurde.

Es ist in diesem Zusammenhang unerheblich, ob die Beschwerdeführerin aus eigener politischer Überzeugung oder aufgrund von Entwicklungen, die sie nicht beeinflussen konnte, auf der Seite der äthiopischen Regierung in den Bürgerkrieg einbezogen worden war. Entscheidend ist lediglich, dass ihr die eritreischen Behörden ihr Engagement auf Seiten der unterlegenen Regierung vorhielten und sinngemäss unterstellten, sie hänge dieser immer noch an. Die Abschiebung erfolgte wegen der – unterstellten – politischen Anschauungen der Beschwerdeführerin, mithin aus einer nach Art. 3 AsylG relevanten Motivation (vgl. M. Gattiker, Das Asyl- und Wegweisungsverfahren, Bern 1999, S. 73; Kälin, a.a.O., S. 98).

6.3. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass der eritreische Staat Vorkehrungen getroffen hatte, um Leib und Leben der von ihm deportierten eigenen Bürger zu schonen oder deren Zukunft in Äthiopien abzusichern. Die Beschwerdeführerin wurde alleine mit zwei Kleinkindern mittels Massentransport in ein kriegsversehrtes Land geschickt, dessen Nahrungsmittelsituation auch in guten Zeiten prekär ist. Sie hatte zu Äthiopien keine Beziehung, ausser dass der Vater ihrer Kinder von dort stammte und dass sie aus diesem Grund über eine äthiopische Identitätskarte verfügte. Es ist in diesem Rahmen eher als glückliche Fügung denn als Resultat einer strukturierten Politik des Heimatstaates zu verstehen, dass sie auf äthiopischer Seite Aufnahme in einem Lager fand und nach kurzer Zeit von der Schwester des Vaters ihrer Kinder aufgenommen wurde. Eritrea hatte die Beschwerdeführerin und insbesondere deren Kinder einer akuten Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt. Die Deportation ist ein ernsthafter Nachteil im Sinne von Art. 3 AsylG.

Die Deportation richtete sich gezielt gegen die Beschwerdeführerin, welche zuvor als Mitglied einer gegnerischen Militäreinheit identifiziert und registriert worden war.

6.4. Die Deportation der Beschwerdeführerin genügte nach dem Gesagten grundsätzlich den Anforderungen an eine Vorverfolgung im Sinne von Art. 3 AsylG. Seitdem die Beschwerdeführerin Eritrea vor fast zehn Jahren verlassen hat, haben sich die dortigen Verhältnisse indessen massgeblich geändert. Die PFDJ regiert zwar nach wie vor als Einheitspartei und verfolgt jegliche oppositionellen Regungen unerbittlich. Elf Jahre nach der Unabhängigkeit geniesst das Mengistu-Regime in Eritrea indessen keine Unterstützung mehr und wird von den dortigen Behörden nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen (vgl. UNHCR Oktober 2002, a.a.O., S. 2 ff. und 8; UK Home Office, a.a.O., Ziff. 6.29 ff.;


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US Departement of State, Eritrea, Country Reports on Human Rights Practices, 2003, Section 3). Die Beschwerdeführerin muss nicht befürchten, im Falle einer Rückkehr nach Eritrea wegen Ereignissen und Gegebenheiten aus der Zeit vor 1993 als Oppositionelle wahrgenommen und verfolgt zu werden.

Die Vorbringen der Beschwerdeführerin bezüglich ihrer Deportation aus Eritrea Mitte der neunziger Jahre genügen den Anforderungen an den Flüchtlingsbegriff nicht, da angesichts der veränderten Verhältnisse die Furcht vor aktueller Verfolgung nicht mehr begründet werden kann.

7. Im Folgenden gilt es zu untersuchen, ob die Deportation bzw. Ausweisung der Beschwerdeführer aus Äthiopien als Verfolgung im Sinne von Art. 3 AsylG zu verstehen ist (die nachfolgende Darstellung der Ereignisse basiert im Wesentlichen auf den folgenden Quellen: Human Rights Watch, a.a.O., S. 18 ff.; UNHCR, Oktober 2002, a.a.O., S. 13 ff.; ICG, a.a.O., S. 5 ff.; United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs [OCHA], August 2002, S. 11 ff., zitiert aus Global IDP Database, Profile of Internal Displacement: Eritrea, 6. August 2004, S. 38).

7.1. Im Juni 1998 begann Äthiopien in einer breit angelegten Kampagne Personen eritreischer Abstammung zu deportieren. Zur Begründung führten die Behörden an, die zu Deportierenden stellten ein Sicherheitsrisiko dar. Nachdem von einer ersten Welle von Deportationen Personen betroffen waren, die in Äthiopien wichtige Positionen in Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft innehatten, richtete sich die Kampagne nach kurzer Zeit gegen Eritreer aus allen Bevölkerungsschichten. Die Selektion der zu deportierenden Personen erfolgte willkürlich. Oft lag der Verhaftung eine Denunziation zugrunde. Der Entscheid, ob eine Person die eritreische Staatsbürgerschaft besass und deshalb ein Sicherheitsrisiko darstellte, oblag allein den vollziehenden Polizeibehörden. Die Betroffenen konnten sich in keinem Stadium des Verfahrens äussern oder eine Überprüfung der behördlichen Massnahmen durch eine gerichtliche oder andere übergeordnete Instanz verlangen.

Vor der Deportation wurden die Betroffenen in der Regel während mehrerer Tage oder Wochen unter miserablen Bedingungen interniert. Nach einer ersten Internierung auf den lokalen Polizeiposten wurden sie in grösseren Lagern konzentriert. Sowohl auf den Posten als auch in den Lagern gewährleisteten die Behörden keine funktionierende Wasser- und Nahrungsmittelversorgung, so dass die Internierten auf Unterstützung durch Verwandte oder Bekannte angewiesen waren. Die Lager waren in der Regel nicht mit sanitären Installationen ausgerüstet. In der ersten Phase der Kampagne waren die Internierten gezwungen, die Unterkünfte in den Lagern, die meist nur aus mit Blech verkleideten Hallen be-


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standen, vom Unrat, der sich dort gesammelt hatte, zu säubern, bevor sie überhaupt genutzt werden konnten. Neben den Krankheiten, die unter diesen Bedingungen grassierten, litten die Internierten unter gewalttätigen Übergriffen der Wächter.

In den Lagern mussten die Betroffenen die Deportation abwarten und wurden befragt. Die zuständigen Polizisten waren hierbei ebenso an einer Bestätigung des Verdachtes einer Gefährdung der Sicherheit wie an der Offenlegung von Eigentums- und Besitzverhältnissen der Betroffenen interessiert. Nach Abschluss dieser ersten Phase wurde ihnen nicht nur das Aufenthaltsrecht in Äthiopien entzogen, sondern sie wurden auch gezwungen, ihr Eigentum und ihre Untenehmen meist mit Verlust zu veräussern, und es wurden ihre Guthaben eingefroren.

Die eigentlichen Deportationen wurden in Buskonvois vollzogen, in denen die Deportierten in mehrtägigen Reisen an die Grenze gefahren und von dort in der Regel zu Fuss nach Eritrea geschickt wurden. Die Busse waren überfüllt, die Verpflegung und die Versorgung mit Wasser waren, wenn überhaupt vorgesehen, prekär. Die Konvois mussten wiederholt auf offener Strecke warten, um die Zusammenführung von Bussen aus allen Regionen Äthiopiens zu gewährleisten. Bei diesen Gelegenheiten war es den Deportierten jeweils nicht erlaubt, die Busse zu verlassen, so dass sie oft während Stunden in sengender Hitze und eng zusammengepfercht die Weiterfahrt erwarten mussten.

Eritrea anerkannte jene Deportierten als Staatsbürger, denen es gelang, mittels Eidhelfern darzutun, dass sie die entsprechenden Bedingungen erfüllten (vgl. Erw. 5.1.), und stellte ihnen Identitätskarten aus (so genannte „blue card“). Die Minderheit der Deportierten, welche diesen Beweis nicht erbringen konnte, erhielt einen speziellen, eigens eingeführten Aufenthaltsstatus („yellow card“). Überdies rief Eritrea eine Kommission ins Leben, die sich der Deportierten annehmen sollte. Diese schaffte in der ersten Phase Unterkunfts- und Verdienstmöglichkeiten für Neuankömmlinge. Je länger die äthiopische Kampagne indessen andauerte und je mehr Eritreer aus Äthiopien deportiert wurden, desto schwieriger wurde es, diese in die wegen Krieg und Dürre ohnehin fragilen wirtschaftlichen und sozialen Strukturen Eritreas zu integrieren. Das Programm stiess rasch an seine Grenzen.

Im Jahr 2002 lebten noch 14'000 aus Äthiopien deportierte Eritreer in Lagern für intern Vertriebene und hofften auf die Zuteilung eines Stücks Land, um in der eritreischen Subsistenzwirtschaft ein Auskommen zu finden.


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Als weitere Reaktion initiierte Eritrea sein eigenes Deportationsprogramm und begann, äthiopische Staatsbürger mit vergleichbaren Methoden von seinem Territorium zu entfernen.

Als die beiden Kampagnen im Jahr 2002 zu einem Ende kamen, waren in den beiden Ländern ungefähr 150'000 Menschen gegen ihren Willen aus ihren angestammten Strukturen entfernt und ohne wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Rückhalt einer unsicheren Zukunft in einer fremden Umgebung überlassen worden. Eine unbekannte aber beträchtliche Anzahl von Äthiopiern und Eritreern war den Bedingungen der Deportationen nicht gewachsen und überlebte sie nicht.

7.2. Die Beschwerdeführer wurden im Rahmen des beschriebenen Programms deportiert. Es gilt zunächst zu prüfen, ob die Deportationen die erforderliche Intensität aufweisen, um im Anwendungsbereich von Art. 3 AsylG relevant zu sein (vgl. EMARK 2000 Nr. 17, Erw. 11.b, S. 158 ff.).

Die Beschwerdeführerin reiste unter dem Eindruck der Ausweisung und der drohenden Deportation individuell aus. Der Beschwerdeführer wurde vor der Deportation nach eigenen Aussagen drei Tage lang auf einem Polizeiposten interniert. Es kann somit festgehalten werden, dass beide Beschwerdeführer weder die oben beschriebenen elenden Bedingungen in den Lagern noch Übergriffe in ihre körperliche Integrität erleben mussten. Die erlittenen Übergriffe sind für sich allein zu wenig intensiv, um als ernsthafte Nachteile im Sinne einer Gefährdung des Leibes oder der Freiheit nach Art. 3 Abs. 2 AsylG gelten zu können.

Es bleibt somit zu prüfen, ob die Deportationen Massnahmen waren, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirkten. Solche Massnahmen sind anzunehmen, wenn sie den Betroffenen ein Verbleiben im Heimatstaat unter menschenwürdigen Bedingungen objektiv verunmöglichen (vgl. Gattiker, a.a.O., S. 65 f.; EMARK 2000 Nr. 17, Erw. 11.b, S. 158 f.; 1996 Nr. 28, Erw. 3.c.dd, S. 272 f.; 1996 Nr. 29, Erw. 2.h, S. 282 f.). Es handelt sich nicht um minder intensive Beeinträchtigungen der in Art. 3 Abs. 2 AsylG ausdrücklich genannten Rechtsgüter, sondern um Nachteile, die sich durch eine unterschiedliche Qualität auszeichnen, indem sie beispielsweise andere Rechtsgüter oder die genannten Rechtsgüter Dritter betreffen.

Die Vorbringen des Beschwerdeführers genügen diesen Anforderungen. Er beschreibt, wie er eines Abends unvermittelt und ohne Vorwarnung zu Hause verhaftet worden sei. Die Polizisten hätten aus ihm nicht verständlichen Gründen nur ihn und seinen Vater mitgenommen und die anderen Familienmitglieder in


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Ruhe gelassen. Nach der Verhaftung sei er drei Tage lang auf einem Polizeiposten eingesperrt und befragt worden. Bereits am vierten Tag habe er sich in einem Bus auf dem Weg nach Eritrea befunden. Der Beschwerdeführer schildert die erbärmlichen Reisebedingungen in Enge, Hitze und Mangel an Wasser und Nahrungsmitteln, denen sein Vater nicht gewachsen gewesen sei; dieser sei auf der Reise gestorben.

Angesichts der Brutalität und der Rücksichtslosigkeit, mit der der Beschwerdeführer unvermittelt aus seiner heimatlichen Umgebung herausgerissen wurde, um innert nur vier Tagen in ein fremdes Land verbracht zu werden, ohne die Gelegenheit zu erhalten, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen oder auch nur, sich von seiner Familie und seinen Freunden zu verabschieden, angesichts der Unabwendbarkeit der Deportation, gegen die sich der Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt wehren konnte, und angesichts des Umstandes, dass die äthiopischen Behörden den Tod des Vaters des Beschwerdeführers in Kauf nahmen und diesen Zeuge davon werden liessen, kann es keinem Zweifel unterliegen, dass die Deportation ein massiver Eingriff in die Würde des Beschwerdeführers und weitere schützenswerte Rechtsgüter (sein Familien- und Privatleben, sein Eigentum, seine persönliche Freiheit) sowie das Leben seines Vaters war, gegen den er sich weder im Rahmen eines angemessenen Verfahrens noch anderweitig wehren konnte. Der Beschwerdeführer war durch die Deportation einem unerträglichen psychischen Druck im Sinne der genannten Definition ausgesetzt.

Die Beschwerdeführerin gab an, sie sei von den äthiopischen Behörden angewiesen worden, das Land zu verlassen und ihre Kinder zurückzulassen. Unter dem Eindruck der drohenden Deportation sei sie individuell geflohen. Die äthiopischen Behörden haben beim Vollzug der Deportation die Trennung von Familien bewusst in Kauf genommen haben, wenn, wie vorliegend, nur gewisse Mitglieder als Eritreer wahrgenommen wurden. Indessen wäre die Möglichkeit, die Kinder entgegen den Anweisungen der Behörden mitzunehmen, ein gewichtiger Vorteil der individuellen Ausreise gegenüber der staatlich organisierten Deportation gewesen. Die Beschwerdeführerin hat diesen Vorteil nicht genutzt, sondern sich an die Anweisungen gehalten. Ob ausser dem Respekt vor den Anordnungen der Behörden weitere Umstände ihre Entscheidung beeinflusst haben, ist den Akten nicht zu entnehmen.

Es kann indessen davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführerin – einmal als Eritreerin identifiziert und ausgewiesen – keine Möglichkeit hatte, unter menschenwürdigen Bedingungen in Äthiopien zu verbleiben. Sie hätte bei den Verwandten ihrer Kinder die Deportation erwarten oder versuchen können, als allein stehende Frau unterzutauchen. Weitere Alternativen standen ihr nicht


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offen. Bei der Beurteilung des psychischen Druckes, der auf der Beschwerdeführerin lastete, muss schliesslich in Betracht gezogen werden, dass sie bereits eine Deportation erlebt hatte. Unter diesen Voraussetzungen ist ihr Verhalten durchaus nachvollziehbar.

Es ist schliesslich nicht bekannt, wie der äthiopische Staat deportierte Eritreer im Fall einer Rückkehr behandelt, weil keine solchen Rückkehren dokumentiert sind. Bekannt ist dagegen, dass Äthiopien bis heute den Deportierten die Rückkehr ausdrücklich verweigert. Angesichts der Brutalität und Rücksichtslosigkeit des Vollzugs der Deportationen muss befürchtet werden, dass die äthiopischen Behörden mit den zur Verfügung stehenden Mitteln gegen Rückkehrer vorgehen würden. Die Furcht, dass die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien ernsthaften Nachteilen im Sinne von Art. 3 AsylG ausgesetzt würden, ist aufgrund der konkreten Umstände objektiv nachvollziehbar und daher begründet (vgl. EMARK 2000 Nr. 9, Erw. 5.a, S. 78; 1997 Nr. 10, Erw. 6, S. 73 f.).

7.3. Bezüglich der Motivation hinter den Deportationen machten die äthiopischen Behörden zunächst Sicherheitsinteressen im Krieg geltend. Angesichts der Tatsache, dass die Risiken, die die einzelnen zu Deportierenden hätten darstellen können, im Rahmen des Deportationsverfahrens gar nicht geprüft wurden, muss diese Argumentation als vorgeschoben erkannt werden. Sie wurde denn auch im Verlauf des Programms dahingehend modifiziert, dass sich die betroffenen Personen illegal in Äthiopien aufhielten und deshalb ausgeschafft würden. Betroffen seien ausschliesslich eritreische Staatsbürger, die durch ihre Teilnahme am Referendum oder auf andere Weise manifestiert hätten, dass sie sich nicht mehr Äthiopien zugehörig fühlten. Da diese Menschen über keine Aufenthaltsbewilligungen verfügten, sei Äthiopien berechtigt, sie auszuschaffen (vgl. Human Rights Watch, a.a.O., S. 20).

Diese Interpretation der Auswirkungen einer Beteiligung am Referendum war neu. Wie oben dargelegt (Erw. 5.), wurde nach der Unabhängigkeit Eritreas technischen Problemen wie der doppelten Staatsbürgerschaft und dem Erwerb oder Verlust der einen oder anderen Staatsbürgerschaft keine praktische Bedeutung beigemessen, da die neuen Nachbarn grossen Wert auf intensiven gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Austausch legten. Personen, die sich am Referendum beteiligt hatten, andere Personen eritreischer Abstammung und anerkannte eritreische Bürger waren in Äthiopien geduldet, integriert und hatten wie die Beschwerdeführer äthiopische Identitätspapiere. Die ausländerrechtlichen Bestimmungen fanden auf sie keine Anwendung (vgl. Human Rights Watch, a.a.O., S. 21).


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Die Stichhaltigkeit der von der äthiopischen Regierung als Begründung für die Deportation vorgebrachten Rechtsauffassung – wonach die Beschwerdeführer die äthiopische Staatsbürgerschaft verloren hätten – kann vorliegend im Rahmen der Prüfung der Verfolgungsmotivation offen bleiben. Zum Zeitpunkt der Deportation waren sie äthiopische Staatsbürger (vgl. Erw. 5). Sie wurden indessen als Eritreer wahrgenommen und aus diesem Grund deportiert, wobei diese Wahrnehmung nicht auf ethnischen Differenzen gründete. Die Beschwerdeführer gehören der Ethnie der Tigriner an. Diese stellen nicht nur die Mehrheit der Bevölkerung Eritreas, sondern auch die herrschende Elite Äthiopiens, welche die Deportationen angeordnet hatte. Die Beschwerdeführer wurden einzig wegen ihrer eritreischen Nationalität deportiert. Die Nationalität ist eine nach Art. 3 AsylG relevante Verfolgungsmotivation.

7.4. Die Beschwerdeführerin gab an, als Eritreerin registriert gewesen zu sein. Der Beschwerdeführer könne sich nicht erklären, weshalb er deportiert worden sei, was angesichts der vorherrschenden Willkür durchaus realistisch ist. Aus ihren Schilderungen geht indessen hervor, dass die Beschwerdeführer den Polizisten namentlich bekannt und persönlich zur Deportation selektioniert worden waren. Die Verfolgung war gezielt.

7.5. Wenn festgestellt ist, dass die Beschwerdeführer begründete Furcht haben müssen, im Fall einer Rückkehr nach Äthiopien flüchtlingsrechtlich relevanter Verfolgung ausgesetzt zu sein, bedeutet dies noch nicht, dass die Beschwerdeführer als Flüchtlinge anzuerkennen sind. Nach Art. 1A Ziff. 2 FK gilt eine Person, die die Staatsangehörigkeit mehrerer Staaten besitzt, nur dann als Flüchtling, wenn sie in keinem ihrer Heimatstaaten Schutz vor relevanter Verfolgung beanspruchen kann (vgl. Kälin, a.a.O., S. 34 f.; G.S. Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, 2. Aufl., Oxford 1998, S. 41 f.; vgl. auch EMARK 2000 Nr. 15, Erw. 12.a, S. 127 f.). Die Beschwerdeführer können daher nur als Flüchtlinge anerkannt werden, wenn sie auch im Fall einer Rückkehr nach Eritrea begründete Furcht vor flüchtlingsrechtlicher Verfolgung haben müssten, was es im Folgenden zu untersuchen gilt.

8.

8.1. Die Beschwerdeführerin machte ausser der oben gewürdigten Deportation keine Verfolgung durch den Staat Eritrea geltend. Sie wurde kurz nach der Staatsgründung deportiert und hielt sich in der Folge mit Ausnahme der Durchreise auf dem Weg von Äthiopien in den Sudan nie mehr auf eritreischem Territorium auf.

8.2. Der Beschwerdeführer machte geltend, er sei verhaftet, geschlagen und einen Monat lang in einem Gefängnis festgehalten worden, als er sich 1995 mit


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seinem Bruder zusammen in Eritrea habe niederlassen wollen. Der Bruder sei unmittelbar nach der Ankunft in Asmara unter dem Verdacht der Unterstützung einer oppositionellen Gruppierung, der ELF, verhaftet worden. Als sich der Beschwerdeführer einige Tage später nach dem Verbleib seines Bruders erkundigt habe, seien die Polizisten wütend geworden und hätten ihn stark geschlagen. Während des folgenden Monats sei er in einem Raum mit ungefähr siebzehn anderen Häftlingen festgehalten worden. Aufgrund einer Knieverletzung, die ihm die Polizisten beigebracht hätten, sei er freigelassen worden.

Der Beschwerdeführer erklärt sich seine Festnahme und Inhaftierung als Einschüchterungsversuch seitens der eritreischen Behörden, die nicht wollten, dass er Fragen nach seinem Bruder stelle. Er selbst habe sich zu jener Zeit nicht politisch engagiert und es sei ihm von den Behörden auch kein solches Engagement unterstellt worden.

Angesichts des Umstandes, dass die eritreischen Behörden offensichtlich kein besonderes Interesse an einer Verfolgung des Beschwerdeführers hatten und dass seit den geschilderten Ereignissen fast zehn Jahre vergangen sind, ist nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr mit Nachteilen wegen des politischen Engagements seines Bruders zu rechnen hat. Eine Furcht vor flüchtlingsrechtlich relevanter Verfolgung in diesem Zusammenhang ist nicht begründet.

8.3. Auf Beschwerdeebene reichten die Beschwerdeführer Ausweise zu den Akten, die sie als Mitglieder der SAGEM zu erkennen geben. Die SAGEM oder ELF-CL (Eritrean Liberation Front – Central Leadership) ist eine Fraktion der ELF (Eritrean Liberation Front), der ersten eritreischen Unabhängigkeitsbewegung, die sich zu Beginn der sechziger Jahre formiert hatte. Gegen Ende der siebziger Jahre kam es zur Spaltung der ELF von der EPLF, die bis heute anhält. Die unter einander zerstrittenen und von verschiedenen Nachbarstaaten Eritreas geförderten Fraktionen der ELF gehören heute zu den bedeutendsten Oppositionsbewegungen dieses Landes. Sie werden von der regierenden Einheitspartei mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft und sind in erster Linie vom Ausland aus tätig (vgl. P. Hunziker, Lagebericht Eritrea vom August 2001, publiziert von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH, S. 13).

Die Beschwerdeführer führten aus, sie hätten sich der SAGEM nicht aus politischer Überzeugung angeschlossen, sondern weil dies ihre Situation im Umgang mit den sudanesischen Behörden erleichtert habe. Gleichwohl müssten sie wegen ihrer Zugehörigkeit zur politischen Opposition in Eritrea Verfolgung befürchten. Diese Furcht erscheint vorliegend nicht begründet.


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Die ARK hatte vor allem im Zusammenhang mit subjektiven Nachfluchtgründen von Asylsuchenden, die sich in der Schweiz aufhielten, Gelegenheit, sich mit der flüchtlingsrechtlichen Relevanz von exilpolitischen Aktivitäten auseinanderzusetzen. Solche Aktivitäten müssen insbesondere die Aufmerksamkeit der heimischen Behörden geweckt haben oder zumindest von diesen zur Kenntnis genommen worden sein, um eine relevante Furcht zu begründen (vgl. EMARK 1995 Nr. 9, Erw. 8, S. 90 ff.; Gattiker, a.a.O., S. 86). Es ist kein Grund ersichtlich, dieses Kriterium ausschliesslich auf Aktivitäten in der Schweiz anzuwenden und im vorliegenden Fall, in dem sich die Beschwerdeführer im Sudan einer Oppositionspartei angeschlossen haben, nicht zur Anwendung kommen zu lassen.

Die Beschwerdeführer räumten ein, dass sie sich nicht für Politik interessiert hätten und in keiner Weise aktiv für die eritreische Opposition eingetreten seien. Unter diesen Umständen muss nicht angenommen werden, dass sie die Aufmerksamkeit der eritreischen Behörden auf sich gezogen haben. Die Beschwerdeführer müssen nicht begründet fürchten, bei ihrer Rückkehr als unliebsame Oppositionelle wahrgenommen und verfolgt zu werden.

8.4. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer mit Bezug auf ihren Heimatstaat Eritrea keine nach Art. 3 AsylG relevanten Umstände glaubhaft machen konnten. Die Vorinstanz hat ihre Asylgesuche zu Recht abgelehnt, obwohl sie in ihrem anderen Heimatstaat Äthiopien flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung erlebt hatten und auch in Zukunft mit einer solchen Verfolgung zu rechnen hätten.

[…]

10.

10.1. Die Beschwerdeführer verfügen über keine fremdenpolizeiliche Aufenthaltsbewilligung. Die Wegweisung wurde demnach zu Recht angeordnet (Art. 44 Abs. 1 AsylG).

10.2. Wie oben dargelegt (Erw. 7), droht den Beschwerdeführern in Äthiopien Verfolgung im Sinne von Art. 3 AsylG. Der Vollzug der Wegweisung in dieses Land ist nach Art. 5 Abs. 1 AsylG nicht zulässig.

Vorliegend ist somit einzig zu prüfen, ob der Wegweisungsvollzug nach Eritrea, den anderen Heimatstaat der Beschwerdeführer, durchführbar ist. Aus den oben stehenden Erwägungen ergibt sich, dass sie in Eritrea nicht in flüchtlingsrechtlich relevanter Weise verfolgt werden. Da überdies keine Anhaltspunkte für eine


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nach Art. 3 EMRK verbotene Behandlung oder Strafe erkennbar sind, wäre der Vollzug der Wegweisung nach Eritrea zulässig.

Es gilt daher im Folgenden die Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs zu prüfen.

10.3. Nach Art. 14a Abs. 4 ANAG ist der Vollzug der Wegweisung nicht zumutbar, wenn er für die von ihm betroffenen Personen eine konkrete Gefährdung darstellt. Diese Bestimmung bezieht sich in erster Linie auf so genannte Gewaltflüchtlinge, das heisst auf Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft nicht zukommt, weil sie nicht persönlich verfolgt werden, die aber vor Krieg, Bürgerkrieg oder einer Situation der allgemeinen Gewalt in ihrem Herkunftsstaat fliehen. Daneben ist der Vollzug nicht zumutbar für Personen, die sich bei ihrer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat aus anderen Gründen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt sähen. Nach der konstanten Rechtsprechung der ARK vermögen wirtschaftliche Schwierigkeiten, von welchen die ansässige Bevölkerung regelmässig betroffen ist, wie beispielsweise Wohnungsnot oder ein schwieriger Arbeitsmarkt keine konkrete Gefährdung im Sinne von Art. 14a Abs. 4 ANAG zu begründen. Dagegen ist der Vollzug der Wegweisung nicht zumutbar, wenn sich die betroffene Person im Falle einer zwangsweisen Rückkehr in ihren Heimatstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer existenzgefährdenden Situation ausgesetzt sähe (vgl. EMARK 1994 Nr. 19, Erw. 6.b, S. 149; 1998 Nr. 11, Erw. 7.a, S. 69; 2003 Nr. 10, Erw. 9.b.cc, S. 68; 2003 Nr. 30, Erw. 5, S. 191 f.) Insgesamt gilt es die humanitären Aspekte im Zusammenhang mit der Situation, in der sich die betroffene Person bei einer Rückkehr ins Heimatland befinden würde, gegen das öffentliche Interesse an ihrer Wegweisung abzuwägen.

Die nachfolgende Lagebeurteilung stützt sich im Wesentlichen auf die folgenden Quellen: Global IDP Database, a.a.O.; UNHCR, Januar 2004, a.a.O., S. 5 ff.; UNHCR, Oktober 2002, a.a.O.; United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA), Consolidated Appeals Process (CAP), November 2003; Human Rights Watch, a.a.O.; Hunziker, a.a.O., S. 29 ff.; Amnesty International, Eritrea, “You have no right to ask”, Mai 2004, AI Index: AFR 64/003/2004, S. 31 ff. Im Übrigen wird auf EMARK 2004 Nr. 26 und die dort zitierten Quellen verwiesen.

10.4. Im zitierten EMARK 2004 Nr. 26 hatte die ARK Gelegenheit, sich mit der Sicherheitslage in Eritrea auseinanderzusetzen, und hat festgestellt, dass dort derzeit kein Zustand des Krieges oder der allgemeinen Gewalt herrscht. Diese Rechtsprechung kann nach wie vor Gültigkeit beanspruchen, so dass ohne Einschränkungen auf die entsprechenden Erwägungen verwiesen werden kann.


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10.5. Die humanitäre Situation in Eritrea ist dagegen desolat. Als Folge der jahrzehntelangen kriegerischen Auseinandersetzungen und der damit verbundenen Rekrutierung eines beträchtlichen Teils der arbeitsfähigen Bevölkerung sowie einer langjährigen Dürre ist Eritrea nicht in der Lage, seine Bevölkerung mit den eigenen Mitteln zu ernähren. Ende des Jahres 2003 waren von den ungefähr 3,4 Millionen Einwohnern schätzungsweise 1,7 Millionen von humanitärer Hilfe abhängig.

Das Koordinationsbüro für humanitäre Angelegenheiten der Vereinten Nationen (vgl. OCHA, Consolidated Appeals Process [CAP], November 2003, S. 3) identifizierte als besonders gefährdet Hirten mit weniger als fünf Tieren und keinen anderen Einkommensquellen, Bauern ohne Land oder anderen Möglichkeiten zu landwirtschaftlicher Produktion, randständige Familien in urbanen Regionen ohne Einkommen, intern Vertriebene und Deportierte in und ausserhalb von Lagern, zurückgekehrte Flüchtlinge und zurückgekehrte intern Vertriebene ohne Einkommen. Angehörige dieser Gruppen sind für ihr Überleben vollständig auf humanitäre Hilfe angewiesen, wobei die Kategorien nicht scharf gegen einander abgegrenzt sind, so dass eine Person ohne weiteres in mehrere Kategorien fallen kann. Während in den ersten drei Kategorien jene Mittellosen zusammengefasst sind, die regelmässig die Folgen von Dürre und Nahrungsmittelknappheit am intensivsten spüren, beziehen sich die letzten drei Kategorien spezifischer auf den eritreischen Migrationskontext.

10.6. Die kriegerischen Ereignisse sowie die Dürre der letzten Jahre haben in den Ländern am Horn von Afrika Migrationsbewegungen ausgelöst, die Bevölkerungsstruktur, Wirtschaft und Gesellschaft der Region in massgeblicher Weise beeinflussen. Im Jahr 2000 auf der Höhe des Grenzkrieges zwischen Eritrea und Äthiopien verliessen gegen eine Million Eritreer ihre angestammten Dörfer und suchten als intern Vertriebene in Lagern oder in weniger exponierten Regionen des Landes Schutz. Ein grosser Teil dieser Menschen hat in der Zwischenzeit die Rückkehr angetreten oder sich am Zufluchtsort permanent niedergelassen und gilt deshalb nicht mehr als intern vertrieben. Nach wie vor bestehen indessen Lager mit einer Population von gegen 60'000 intern Vertriebenen. Diese teilen sich die Lager mit jenen ungefähr 14'000 aus Äthiopien Deportierten, die sich noch nicht permanent niederlassen konnten (vgl. Erw. 7.1.). Die Programme zur Erleichterung der Rückkehr bzw. Ansiedelung dieser Menschen sind immer noch im Gange, gestalten sich aber wegen der prekären Versorgungslage und, insbesondere im Süden des Landes, von wo die meisten intern Vertriebenen stammen, wegen der ausgedehnten Minenfelder zunehmend schwieriger.


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Neben jenen, die innerhalb des Territoriums ihres Heimatstaates migrierten, hat eine beträchtliche Zahl von Eritreern die Grenze überschritten und im Sudan Schutz gesucht. Dort lebten nach Schätzungen des UNHCR bis im Jahr 2000 ungefähr 450'000 Personen eritreischer Abstammung, Herkunft oder Staatsangehörigkeit. Ende 2002 waren es noch 300'000. Diese Menschen hielten sich entweder in vom UNHCR unterhaltenen Flüchtlingslagern oder – von den sudanesischen Behörden mehr oder minder geduldet – illegal in den grossen Städten des Ostens dieses Landes, insbesondere in Kassala und Khartum, auf. Ein beträchtlicher Teil unter ihnen lebt in der zweiten oder dritten Generation im Sudan.

Nach dem Sturz des Mengistu-Regimes in Äthiopien und der Unabhängigkeit Eritreas beschloss das UNHCR, die Eritreer, welche Verfolgung durch dieses Regime geltend gemacht hätten, seien nicht mehr auf den Schutz des Sudans angewiesen. In Zusammenarbeit mit den betroffenen Staaten begann das UNHCR Rückkehrprogramme umzusetzen, in deren Rahmen bis Mitte 2004 ungefähr 120’000 Menschen aus dem Sudan nach Eritrea zurückgeführt worden sind. Bis Ende 2004 sollen die Programme mit der Rückkehr weiterer 35'000 Eritreer abgeschlossen werden.

Nicht alle Eritreer nahmen die Rückkehrprogramme des UNHCR in Anspruch. Nach dessen statistischen Angaben hat sich die Zahl der eritreischen Bevölkerung im Sudan allein im Jahr 2003 um fast 200'000 Person reduziert, wobei das UNHCR über ungefähr 45'000 von ihnen Rechenschaft ablegen kann. Dass in der Statistik Ende 2003 weitere ungefähr 150'000 Menschen (knapp die Hälfte der Anfangspopulation) fehlen, schreibt das UNHCR administrativen Korrekturen, aus der Registrierung resultierenden Anpassungen, neuen Schätzungen sowie Geburten und Todesfällen zu (vgl. UNHCR, 2003 Global Refugee Trends, Overview of Refugee Populations, New Arrivals, Durable Solutions, Asylum-Seekers and other Persons of Concern to UNHCR, 15 Juni 2004, Table 4 Refugee Population and Changes by Major Origin and Country of Asylum). Diese Erklärung ist offensichtlich unbrauchbar. Sie legt – zumal auch anderen Quellen kaum verlässliche Zahlen zu entnehmen sind – einzig den Schluss nahe, dass eine unbestimmte, aber beträchtliche Anzahl Eritreer die Rückkehr in eigener Verantwortung unternommen hat. Diese Bewegungen quantitativ einzuschätzen, ist ausserordentlich schwierig, da sie gänzlich unkontrolliert vor sich gehen. Es ist indessen davon auszugehen, dass sie die Grössenordnung der Rückkehrprogramme erreichen.

Die möglichen Motivationen hinter der Entscheidung zur unkontrollierten Rückkehr sind unterschiedlich und vielfältig. Zu erwähnen ist einerseits der Druck, den die sudanesischen Behörden auf Eritreer ausübten und der Eritrea im


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Jahr 2002 veranlasste, den Sudan der zwangsweisen Ausschaffung zu bezichtigen. Andererseits sind Fälle dokumentiert, in denen das UNHCR Lager geschlossen bzw. die Wasser- und Nahrungsmittelversorgung in Lagern eingestellt hatte, in denen sich noch mehrere tausend Menschen aufhielten (vgl. Monde Diplomatique, „Camps de la soif au Soudan“, Mai 2003, S. 26).

In Westeuropa und Nordamerika suchen derzeit ungefähr achttausend Eritreer Schutz. Das UNHCR unterstützt deren Rückkehr, soweit sie auf freiwilliger Basis erfolgt.

10.7. Die Rückkehrprogramme für intern Vertriebene und für Flüchtlinge aus dem Sudan sehen eine Starthilfe in Form der Zuweisung von Land sowie der Zuteilung von Saatgut und Lebensmittelrationen vor, die das Überleben der Rückkehrer bis zur ersten Ernte sichern soll. Die umsetzenden Organisationen stellen fest, dass unter diesen Bedingungen zahlreiche Eritreer bereit waren, sich in ihrem Heimatstaat neu ansiedeln zu lassen.

Gleichzeitig musste indessen festgestellt werden, dass es den Rückkehrern in der überwältigenden Mehrheit nicht gelang, auf der Grundlage der Starthilfe ein selbständiges Auskommen in der Subsistenzwirtschaft zu finden. Als Gründe hierfür wurden einerseits die allgemein prekären Bedingungen für die Landwirtschaft erkannt, die es auch der ansässigen Bevölkerung kaum erlaubt, von ihren Erträgen zu leben. Andererseits musste erkannt werden, dass die ohnehin schon strapazierten Krisenbewältigungs- und Absorptionsmechanismen an ihre Grenzen gestossen waren. Innerhalb der vergangenen vier bis sechs Jahre wurde ein Drittel der eritreischen Bevölkerung entwurzelt und anschliessend neu angesiedelt. Durch die mehr oder weniger kontrollierte Immigration aus dem Sudan und aus Äthiopien erhöhte sich die Bevölkerungszahl in derselben Zeitspanne um weitere rund zehn Prozent. Dieser Dynamik waren die traditionellen Strukturen nicht gewachsen und sie kollabierten oder drohen zu kollabieren.

Derzeit ist kein Nachlassen der sozialen und wirtschaftlichen Überbeanspruchung Eritreas zu erwarten. Selbst wenn das Programm der Vereinten Nationen und der eritreischen Regierung, in den nächsten Jahren 200'000 Soldaten zu demobilisieren, noch nicht über das Stadium einer Absichtserklärung hinausgekommen ist und Eritrea nach wie vor aktiv Soldaten rekrutiert, ist die nächste bedeutende Welle von zu integrierenden Personen bereits erkennbar, bevor die Rückkehrprogramme abgeschlossen und deren Auswirkungen evaluiert werden konnten.

Unter diesen Bedingungen ist ungefähr die Hälfte der eritreischen Bevölkerung nicht in der Lage, ihr Überleben aus eigener Kraft zu sichern, sondern auf gross-


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zügige internationale Unterstützung angewiesen, um nicht Hunger und bitterster Armut ausgesetzt zu sein.

Die Lebensbedingungen der Landbevölkerung, soweit sie nicht von den oben dargelegten Migrationsbewegungen erfasst wurde, und jene der etablierten Stadtbevölkerung sind indessen auf meist tiefem Niveau stabil und erlauben ein einigermassen gesichertes, wenn auch in vielen Fällen karges Auskommen. Zu dieser Bevölkerungsschicht sind aufgrund ihrer nicht selten überlegenen Ausbildung auch viele jener Eritreer zu zählen, die mit der ersten Deportationswelle aus Äthiopien kamen und von den Integrationsprogrammen der eritreischen Regierung profitieren konnten (vgl. Erw. 7.1.).

10.8. Angesichts der beschriebenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten Eritreas bedarf es begünstigender, individueller Umstände, damit zurückkehrende Asylsuchende nicht einer existenzbedrohenden Situation im Sinne der Rechtsprechung der ARK zu Art. 14a Abs. 4 ANAG (vgl. vorne Erw. 10.3) ausgesetzt sind. Ist unter Berücksichtigung der oben dargelegten Bedingungen zu erwarten, dass die Rückkehrer aller Wahrscheinlichkeit nach dauerhaft in kompletter Armut zu leben hätten und Hunger oder gar dem Hungertod ausgesetzt wären, kann der Wegweisungsvollzug nicht als zumutbar erachtet werden. Es muss demnach gewährleistet sein, dass zurückkehrende abgewiesene Asylsuchende in Eritrea über ein soziales oder familiäres Netz verfügen, das ihnen bei der wirtschaftlichen Reintegration behilflich sein kann, oder aus anderen Gründen davon ausgegangen werden können, sie könnten sich innert nützlicher Frist eine ausreichende Erwerbstätigkeit beschaffen beziehungsweise in den Genuss einer zumutbaren staatlichen oder privaten Versorgung kommen.

11.

11.1. Weder der Beschwerdeführer noch die Beschwerdeführerin haben in den vergangenen elf Jahren mehr als einige Monate in Eritrea verbracht.

Der Beschwerdeführer sei in Äthiopien geboren und habe dort den grössten Teil seines Lebens verbracht. Zwischen 1987 und 1995 sowie zwischen 1999 und Ende 2002 habe er im Sudan gelebt. Sein einziger Aufenthalt in Eritrea dauerte im Jahr 1995 ungefähr zwei Monate, von denen er ungefähr einen in Haft verbrachte. Seine gesamte Familie wohne in Äthiopien, ausser einem Bruder, von dem er nicht wisse, ob er sich immer noch in Haft befinde, und den Grosseltern, von denen er nicht wisse, ob und gegebenenfalls wo sie lebten.

Die Beschwerdeführerin habe ihr Heimatdorf im Alter von ungefähr acht bis zehn Jahren verlassen und sich als Kindersoldatin einer Truppe äthiopischer Soldaten angeschlossen. Seit sie im Jahr 1993 von Eritrea nach Äthiopien de-


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portiert worden sei, habe sie Eritrea nur noch einmal betreten, als sie von Äthiopien in den Sudan gereist sei. Sie habe ausser ihren Kindern in Äthiopien keine lebenden Verwandten mehr.

Somit steht fest, dass die Beschwerdeführer nie bzw. seit ihrer Kindheit nicht mehr unter einigermassen geregelten Bedingungen in Eritrea gelebt haben. Sie haben in diesem für sie fremden Land weder Familie noch Land noch irgendwie geartete andere soziale oder wirtschaftliche Strukturen, auf die sie sich im Falle einer Rückkehr abzustützen vermöchten. Die berufliche Erfahrung des Beschwerdeführers als Friseur und Fotograf würde sich bei einer Eingliederung in die eritreische Wirtschaft kaum als nützlich erweisen.

Unter diesen Voraussetzungen wäre mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass die Beschwerdeführer im Falle einer zwangsweisen Rückkehr nach Eritrea in einem Elendsviertel von Asmara oder als Teil der mittelosen Landbevölkerung zu leben hätten. Sie wären denselben Gefährdungen wie intern Vertriebene ausgesetzt, ohne die Aussicht auf eine Rückkehr und aller Wahrscheinlichkeit nach ohne Anspruch auf Aufnahme in ein Lager zu haben. Hierfür wäre grundsätzlich erforderlich, dass sie aus einer Region fliehen mussten, in der sie gefährdet waren.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführer im Fall einer zwangsweisen Rückkehr nach Eritrea zur von der humanitären Situation am härtesten betroffenen Bevölkerungsschicht gehören würden. Da keine begünstigenden individuellen Umstände im Sinne der oben stehenden Erwägungen erkennbar sind, muss davon ausgegangen werden, dass sie sich, sollte die Wegweisung vollzogen werden, einer existenzbedrohenden Situation im Sinne der oben stehenden Erwägungen ausgesetzt sähen. Der Vollzug der Wegweisung ist unter diesen Umständen nicht zumutbar. Die Beschwerdeführer sind, da keine Ausschlussgründe im Sinne von Art. 14a Abs. 6 ANAG ersichtlich sind, vorläufig aufzunehmen.

11.2. Angesichts des Gesagten erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Vollzug der Wegweisung zulässig und möglich ist bzw. ob die Voraussetzungen zur Prüfung einer schwerwiegenden persönlichen Notlage gegeben sind. Am Resultat – der vorläufigen Aufnahme der Beschwerdeführer – könnten diese Überlegungen nichts ändern.

 

 

 

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