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Auszug aus dem Urteil der ARK vom 19. Oktober 2004 i.S. B.J., Sierra Leone

Art. 32 Abs. 2 Bst. b AsylG; Art. 49 BZP i.V.m. Art. 19 VwVG: Formelle Anforderungen an schriftliche Auskünfte betreffend so genannte Knochenaltersbestimmungen, rechtliches Gehör.

1. Radiologische Knochenaltersbestimmungen, gestützt auf welche das BFF wegen Täuschung über die Identität (das Alter) nicht auf ein Asylgesuch eintritt, stellen schriftliche Auskünfte im Sinne von Art. 49 BZP dar, welche inhaltlich gewissen Minimalanforderungen zu genügen haben (Erw. 5 und 6).

2. Die Bekanntgabe des Resultats einer Knochenaltersbestimmung hat namentlich Angaben betreffend die fachliche Qualifikation der Ärztin oder des Arztes, die Identität des Exploranden, von diesem allfällig geltend gemachte Krankheiten oder besondere Lebensumstände, die angewandte Analysemethode, die Umschreibung des festgestellten Befunds und die daraus abgeleitete Schlussfolgerung zu enthalten. In dieser Form ist der Bericht der asylsuchenden Person im Rahmen der Gewährung des rechtlichen Gehörs offen zu legen (Erw. 7.3.).

Art. 32 al. 2 let. b LAsi ; Art. 49 PCF en relation avec l’art. 19 PA : exigences quant à la présentation des renseignements écrits lors d’analyses servant à déterminer l’âge osseux ; droit d’être entendu.

1. Les analyses radiologiques des os, sur lesquelles s’appuie l’ODR pour rendre ses décisions de non-entrée en matière, motif pris d’une dissimulation d’identité portant sur l’âge d’un requérant, constituent des renseignements écrits au sens de l’art. 49 PCF, dont le contenu doit satisfaire à certaines exigences minimales (consid. 5 et 6).

2. La communication des résultats d’un examen radiologique doit notamment mentionner les qualifications du médecin examinateur, l’identité du patient, les éventuelles maladies et circonstances de vie particulières que celui-ci lui aura signalées, la méthode appliquée, la description des faits constatés et les conclusions qu’en a tirées l’examinateur. C’est sous cette présentation que le rapport doit être communiqué au demandeur d’asile pour que soit garanti son droit d’être entendu (consid. 7.3.).


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Art. 32 cpv. 2 lett. b LAsi; art. 49 PC per rimando dell’art. 19 PA: presupposti formali delle informazioni scritte concernenti i referti radiologici delle ossa; diritto d’essere sentito.

1. I referti radiologici delle ossa, in virtù dei quali l’UFR pronuncia una decisione di non entrata nel merito della domanda d’asilo, costituiscono delle informazioni scritte, ai sensi dell’art. 49 PC, il cui contenuto deve soddisfare determinate esigenze minimali (consid. 5 e 6).

2. La comunicazione dei risultati di un referto radiologico deve indicare, segnatamente, la qualifica del medico esaminatore, l’identità dell’esaminando e le segnalate malattie e particolari condizioni di vita, il metodo dell’analisi adottato, la descrizione degli accertamenti effettuati e delle conclusioni tratte dall’esaminatore. In tale forma, la comunicazione va sottoposta alla parte affinché possa esprimersi in merito (consid. 7.3.).

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Der Beschwerdeführer verliess den Heimatstaat nach eigenen Angaben Anfang Februar 2004 und gelangte am 23. Februar 2004 in die Schweiz, wo er gleichentags in der Empfangsstelle X. um Asyl nachsuchte. Dabei gab er unter anderem an, am 5. November 1988 geboren zu sein, ohne indes Identitätspapiere abzugeben. Am 24. Februar 2004 wurde beim Beschwerdeführer zur Überprüfung seines Alters eine Handknochenanalyse durchgeführt, welche ein Knochenalter von 19 Jahren ergab.

Am 2. März 2004 wurde dem Beschwerdeführer zum Ergebnis dieser Analyse das rechtliche Gehör gewährt. Dabei beharrte er im Wesentlichen auf seinen bisher gemachten Angaben und stellte die Richtigkeit der Röntgenanalyse in Frage. Auf sein äusseres Erscheinungsbild und Aussehen - welches auf ein Alter von über 18 Jahren hindeute - angesprochen, führte der Beschwerdeführer aus, er sehe wohl älter aus, weil er sich intensiv sportlich betätige.

Am 9. März 2004 wurde dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör im Hinblick auf einen Entscheid nach Art. 32 Abs. 2 lit. b AsylG (Verheimlichung der Identität) gewährt. Der Beschwerdeführer führte dabei im Wesentlichen aus, er habe wahrheitsgetreu zu Protokoll gegeben, was ihm sein Vater hinsichtlich seines Alters gesagt habe.


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Das BFF trat mit Verfügung vom 9. März 2004 in Anwendung von Art. 32 Abs. 2 Bst. b AsylG auf das Asylgesuch des Beschwerdeführers nicht ein, ordnete dessen sofortige Wegweisung aus der Schweiz an und entzog einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung. Zur Begründung führte die Vorinstanz im Wesentlichen an, aufgrund der Abweichung zwischen dem selber angegebenen und dem vom Experten festgestellten Alter stehe fest, dass der Beschwerdeführer über seine Identität getäuscht habe.

Am 11. März 2004 wurden dem Beschwerdeführer die entscheidwesentlichen Akten in der Empfangsstelle persönlich ausgehändigt, wozu auch das Ergebnis der Knochenaltersbestimmung in anonymisierter Form gehörte.

Mit Beschwerde an die ARK vom 25. März 2004 beantragte der Beschwerdeführer die Aufhebung der angefochtenen Verfügung und das Eintreten auf sein Asylgesuch. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ersuchte er um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung und Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Der Beschwerdeführer zeigte sich in seiner Begründung im Wesentlichen erstaunt darüber, dass mittels Handknochenanalyse sein Alter so genau bestimmt werden könne.

Mit Zwischenverfügung vom 22. April 2004 hiess der Instruktionsrichter der ARK die Gesuche um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung und Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege gut.

Das BFF hielt in seiner Vernehmlassung vom 19. Mai 2004 an seiner Verfügung fest und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

Die ARK heisst die Beschwerde gut, hebt die angefochtene Nichteintretensverfügung auf und weist die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück.

Aus den Erwägungen:

3.

3.1. Auf ein Asylgesuch wird nicht eingetreten, wenn der Asylsuchende die Behörden über seine Identität täuscht und diese Täuschung aufgrund der Ergebnisse einer erkennungsdienstlichen Behandlung oder anderer Beweismittel feststeht (Art. 32 Abs. 2 Bst. b AsylG). Als Identität im Sinne des Gesetzes gelten Namen, Vornamen, Staatsangehörigkeit, Ethnie, Geburtsdatum, Geburtsort und Geschlecht (Art. 1 Bst. a AsylV 1). Im Rahmen der Feststellung des Sachverhaltes kann mit Unterstützung wissenschaftlicher Methoden abgeklärt werden,


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ob die Altersangabe der asylsuchenden Person dem tatsächlichen Alter entspricht (Art. 7 Abs. 1 AsylV 1).

3.2. Gemäss der allgemeinen, auch im Verwaltungsverfahren gültigen Beweisregel von Art. 8 ZGB hat derjenige das Vorhandensein einer behaupteten Tatsache zu beweisen, der aus ihr Rechte ableitet. Entsprechend hat die Behörde den Nachweis zu erbringen, dass ein Asylsuchender im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. b AsylG über seine Identität - hier: sein Alter - getäuscht hat (vgl. EMARK 2000 Nr. 19, Erw. 8b, S. 188; EMARK 2003 Nr. 27, Erw. 4a, S. 177, mit weiteren Hinweisen).

4.

4.1. Die Vorinstanz stützt sich zur Begründung ihres Nichteintretensentscheides auf das Resultat der Handknochenanalyse vom 24. Februar 2004, welche beim Beschwerdeführer ein Knochenalter von neunzehn Jahren ergeben hat (vgl. Art. 7 Abs. 1 AsylV 1). Da der Beschwerdeführer selber angab, am 5. November 1988 geboren zu sein, ergibt dies zum radiologisch festgestellten Knochenalter eine Abweichung von rund vier Jahren, was an sich gemäss gefestigter Praxis der Kommission in tatbeständlicher Hinsicht eine genügende Grundlage für einen Nichteintretensentscheid im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. b AsylG darstellen, mithin den Anforderungen an den Nachweis der Identitätstäuschung genügen würde (vgl. EMARK 2000 Nr. 19, Erw. 7c, S. 186 f., und Erw. 8, S. 187 f.).

4.2. Im Sinne einer Vorbemerkung ist zunächst festzuhalten, dass die Kommission ihr bis anhin vom BFF vorgelegte Berichte über Knochenaltersbestimmungen, welche teilweise einen knappen und kurzen Umfang aufwiesen, als Beweismittel im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. b AsylG anerkannte. Die vorliegende an die Empfangsstelle X adressierte, per Telefax übermittelte Mitteilung von PD Dr. med. X.Y. vom 25. Februar 2004 enthält nun indes einzig eine Auflistung von neun verschiedenen Personen, welche in vier Spalten unterteilt ist (Name; Vorname; Geburtsdatum; Knochenalter [Jahre]). Diese nicht nur im vorliegenden Fall gewählte Form der Bekanntgabe des Analyseergebnisses wirft grundsätzliche Fragen hinsichtlich des Beweiswerts solcher Mitteilungen sowie der an sie zu stellenden Anforderungen auf (vgl. EMARK 2002 Nrn. 13 und 18 betreffend Arztberichte sowie EMARK 1998 Nr. 34 betreffend "Lingua-Gutachten").

4.3. Gemäss Art. 12 VwVG stellt die Behörde den Sachverhalt von Amtes wegen fest und bedient sich nötigenfalls namentlich folgender Beweismittel: Gutachten von Sachverständigen (Bst. e respektive Art. 57 ff. BZP i.V.m. Art. 19 VwVG), Auskünfte oder Zeugnis von Drittpersonen (Bst. c respektive Art. 49 BZP i.V.m. Art. 19 VwVG) oder Parteiauskünfte (Bst. b; vgl. EMARK 1998 Nr.


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34, Erw. 6b, S. 285). Ob die in Art. 32 Abs. 2 Bst. b AsylG genannten "anderen Beweismittel" alle in Art. 12 VwVG aufgezählten Beweismittel umfassen oder ob die Bestimmung weiterhin (vgl. Art. 16 Abs. 1 Bst. a aAsylG, wo zwingend das Ergebnis einer erkennungsdienstlichen Behandlung vorausgesetzt wurde) eine Einschränkung auf eine bestimmte Art von Beweisen enthält, kann an dieser Stelle offen bleiben. Jedenfalls hat die ARK in ständiger Rechtsprechung sogenannte Knochenaltersbestimmungen zur Ermittlung des massgeblichen Sachverhalts im Zusammenhang mit Nichteintretensentscheiden gemäss Art. 32 Abs. 2 Bst. b AsylG - wie bereits erwähnt - anerkannt (vgl. EMARK 2000 Nr. 19; 2001 Nr. 23).

In ihrem Urteil vom 20. August 2002 i.S. W.F., Tunesien (publiziert in EMARK 2002 Nr. 18), hielt die ARK fest, gemäss ihrer bisherigen Rechtsprechung sei Auskünften oder Zeugnissen von Drittpersonen grundsätzlich ein minderer Beweiswert als Gutachten von Sachverständigen zugekommen. Der Grundsatz, gemäss welchem der Richter nicht ohne "zwingende Gründe" von der Einschätzung eines Experten abweiche, habe zudem bislang einzig in Bezug auf Gutachten von Sachverständigen ("expertises judiciaires"), nicht aber hinsichtlich Auskünften und Zeugnissen von Drittpersonen ("expertises privées") gegolten. In Anlehnung an die damals aktuelle Praxis des Bundesgerichts (vgl. BGE 125 V 352) kam die Kommission sodann zum Schluss, wenn Art. 40 BZP den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung in Bezug auf - mithin alle - Beweismittel statuiere, sei zur Beurteilung des Beweiswerts eines Dokuments weder dessen Herkunft noch dessen Bezeichnung als Bericht oder Expertise massgeblich. Der Beweiswert eines Berichts (in casu: eines ärztlichen Berichts) könne daher nur verneint werden, wenn der Richter über konkrete Indizien verfüge, welche geeignet sind, die Zuverlässigkeit dieses Berichts in Zweifel zu ziehen (vgl. EMARK 2002 Nr. 18, Erw. 4a/aa, S. 145 f.; in Bezug auf die Frage der Zuverlässigkeit eines Beweismittels vgl. auch EMARK 2002 Nr. 13, Erw. 6c, S. 115 f., sowie BGE 123 V 331, Erw. 1c, S. 334).

5.

5.1. Ein Gutachten im Sinne von Art. 12 Bst. e VwVG hat besonderen formellen Anforderungen zu genügen, welche sich für das Verwaltungs- und Verwaltungsbeschwerdeverfahren nach den Bestimmungen des Bundesgesetzes über den Bundeszivilprozess richten (Art. 57 - 61 BZP i.V.m. Art. 19 VwVG). So sind bei der Einholung solcher Gutachten durch eine Verwaltungsbehörde (amtliches Gutachten) beziehungsweise ein Gericht (gerichtliches Gutachten) insbesondere die in Art. 57 ff. BZP statuierten Mitwirkungsrechte der Betroffenen durch die Verwaltung beziehungsweise durch die Beschwerdeinstanz zu beachten. Den Parteien ist Gelegenheit zu geben, sich vorgängig zu den Fragen an den Gutachter zu äussern und Abänderungs- und Ergänzungsanträge zu stellen (vgl.


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Art. 57 Abs. 2 BZP); des weiteren ist ihnen Gelegenheit zu geben, vor der Ernennung des Gutachters Einwendungen gegen dessen Person anzubringen (vgl. Art. 58 Abs. 2 BZP; Ausstandsgründe); sodann ist ihnen das Recht zu gewähren, nachträglich zum Gutachten Stellung zu nehmen sowie dessen Erläuterung oder Ergänzung oder aber eine neue Begutachtung zu beantragen (Art. 60 Abs. 1 BZP; zum Ganzen vgl. auch EMARK 1998 Nr. 34, Erw. 6, S. 285 f.).

5.2. Die vorliegende Mitteilung betreffend Knochenaltersbestimmung genügt den Anforderungen des Bundeszivilprozessrechts an Gutachten mithin nur schon deshalb nicht, weil dem Beschwerdeführer vorgängig weder Gelegenheit geboten wurde, Abänderungs- oder Ergänzungsanträge zu stellen (vgl. diesbezüglich auch Art. 11 AsylG), noch allfällige Ausstandsgründe hinsichtlich der Ernennung des Experten geltend zu machen. Ihm wurde am 2. März 2004 einzig (nachträglich) das rechtliche Gehör zum Ergebnis der Knochenaltersbestimmung gewährt.

6.

6.1. Als verfügende und damit in erster Instanz rechtsanwendende Behörde ist das BFF ein zur Objektivität verpflichtetes Organ. Daraus kann gefolgert werden, dass die von ihm erstellten Berichte und bestellten Analysen oder Arztberichte grundsätzlich fachlich zuverlässig, objektiv und unparteiisch sein müssen. Ferner müssen sie auch schlüssig, in sich widerspruchsfrei sein und nachvollziehbar begründet werden (vgl. EMARK 1998 Nr. 34, Erw. 8a, S. 288).

6.2. Die vom BFF in Auftrag gegebenen Knochenaltersbestimmungen stellen nach dem Gesagten blosse schriftliche Auskünfte im Sinne von Art. 49 BZP i.V.m. Art. 19 VwVG dar, welche einzelfallbezogen frei zu würdigen sind. Gleichzeitig ist aber auch festzuhalten, dass solchen von einer medizinischen Fachperson erstellten Zeugnissen respektive Knochenaltersbestimmungen bei Einhaltung bestimmter Voraussetzungen und Anforderungen (dazu sogleich in Erw. 7) - im Vergleich zu gewöhnlichen Parteivorbringen - im Einzelfall durchaus erhöhter Beweiswert zugemessen werden kann, sofern sie als schlüssig erscheinen, nachvollziehbar begründet sowie in sich widerspruchsfrei sind und keine Indizien gegen ihre Zuverlässigkeit bestehen (vgl. oben, Erw. 4.2.). Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist mithin entscheidend, ob der Bericht für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Darlegung der medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind (vgl. BGE 122 V 157, Erw. 1c, S. 160 mit weiteren Hinweisen; vgl. auch H.-J. Mosimann, Somatoforme Störungen: Gerichte und [psychiatrische] Gutachten, in: SZS 43/1999, S. 121 f.).


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6.3. Aufgrund der erheblichen Bedeutung der Knochenaltersbestimmungen im Rahmen von Nichteintretensentscheiden im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. b AsylG erscheint es gerechtfertigt, dass an solche schriftliche Auskünfte respektive ärztliche Zeugnisse erhöhte Anforderungen gestellt werden müssen. In diesem Zusammenhang ist nämlich zu berücksichtigen, dass die im Asylgesetz vorgesehenen Nichteintretens-Bestimmungen gemäss konstanter Praxis der ARK restriktiv zu interpretieren sind (vgl. EMARK 1997 Nr. 9, S. 65, mit weiteren Hinweisen). Der Nachweis der Identitätstäuschung im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. b AsylG muss ohne vernünftigen Zweifel feststehen, zumal diese Bestimmung - im Gegensatz etwa zur so genannten Papierlosen-Bestimmung von Art. 32 Abs. 2 Bst. a AsylG - keine Schutzklausel kennt, die einen Nichteintretens-Entscheid ausschliessen würde für den Fall, dass Hinweise auf eine Verfolgung vorliegen, die sich nicht als offensichtlich haltlos erweisen (vgl. EMARK 2003 Nr. 27, Erw. 4a, S. 178).

6.4. Der Vollständigkeit halber ist schliesslich festzuhalten, dass es im vorliegenden konkreten Verfahren, entgegen der von der Vorinstanz in ihrer Vernehmlassung vom 19. Mai 2004 geäusserten Auffassung, nicht darum geht, Klarheit darüber zu schaffen, ob die Minderjährigkeit des Beschwerdeführers - und damit dessen besondere Schutzwürdigkeit - tatsächlich gegeben ist (vgl. diesbezüglich das Grundsatzurteil EMARK 2004 Nr. 30). Es geht in casu hinsichtlich des Nichteintretens einzig und allein um die Frage, ob der Beschwerdeführer über sein Alter respektive seine Identität im Sinne der Praxis der Kommission zu Art. 32 Abs. 2 Bst. b AsylG getäuscht hat (vgl. EMARK 2000 Nr. 19; 2001 Nr. 23) und dem BFF dieser Nachweis gelungen ist.

7.

7.1. Ein als schriftliche Auskunft geltendes ärztliches Zeugnis ist in der Regel nicht nur in quantitativer Hinsicht einfacher als ein (förmliches) Sachverständigengutachten, sondern von diesem auch qualitativ verschieden. Im ärztlichen Zeugnis begnügt sich der Arzt damit, aufgrund der mitgeteilten Anamnese und - davon deutlich getrennt - seiner eigenen Befunde eine vom Auftraggeber gestellte einfache Frage (in casu: Knochenalter) zu beantworten. Die Beantwortung der Frage stellt den Kernpunkt dar, um welchen sich die Abklärung dreht. Das Zeugnis soll kurz und präzis sein. In formeller Hinsicht muss ein ärztliches Zeugnis zudem datiert und mit eigenhändiger Unterschrift des Arztes sowie der Nennung des Adressaten versehen sein (vgl. H. Patscheider/H. Hartmann, Leitfaden der Rechtsmedizin, 3. Aufl., Bern u.a. 1993, S. 16 f.).

Demgegenüber besteht ein förmliches medizinisches Gutachten aus zwei Teilen mit einer klaren Zäsur in der Mitte. Der erste Teil stellt die Materialsammlung dar (Anamnese, ärztliche Befunde, Spezialuntersuchungen usw.) Im zweiten


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Teil werden die Ergebnisse derselben in einer Diskussion zusammengefasst und die daraus resultierenden Schlüsse gezogen (vgl. hierzu Patscheider/Hartmann, a.a.O., S. 16 f.).

7.2. Für den vorliegenden Fall ist festzuhalten, dass die von PD Dr. med. X.Y. (Endokrinologie) unterzeichnete, an das BFF adressierte Mitteilung vom 25. Februar 2004 aus einem einzigen Schriftstück besteht. Es enthält eine tabellarische Auflistung mit dem jeweiligen Resultat der Knochenaltersanalysen neun verschiedener Personen mit Name und Vorname, den dazugehörigen (geltend gemachten) Geburtsdaten und - in der letzten Spalte - dem diagnostisch festgestellten Knochenalter in Jahren.

Dem ärztlichen Zeugnis in der vorliegenden Form kann bei dieser Sachlage kein erhöhter Beweiswert im Sinne der oben aufgeführten Rechtsprechung zugemessen werden, da diesem weder eine Beschreibung des Befunds (Beschreibung der Röntgenbilder), der angewandten wissenschaftlichen Methode (Art. 7 Abs. 1 AsylV 1; vgl. dazu im Übrigen ausführlich EMARK 2000 Nr. 19) noch eine begründete Schlussfolgerung aus dem festgestellten Befund zu entnehmen ist. Es ist mit anderen Worten für den in der Rechtssache Entscheidenden schlicht nicht nachvollziehbar, wie der sachverständige Arzt zum beim Beschwerdeführer festgestellten Alter von 19 Jahren gekommen ist. In dieser Form reduziert sich die Erkenntnis des Arztes mithin auf eine blosse Behauptung, welche es dem Richter verunmöglicht, im Rahmen der freien Beweiswürdigung den Beweiswert des Analyseresultats festzustellen (vgl. EMARK 2002 Nr. 18, Erw. 4a/aa, S. 145). Bezüglich der tabellarischen Auflistung der Namen respektive Personen gilt es sodann festzuhalten, dass diese Form aufgrund der immanent grossen Verwechslungsgefahr als äusserst bedenklich zu bezeichnen und als Indiz gegen die Zuverlässigkeit des Berichts zu werten ist. Diesbezügliche Zweifel sind jedenfalls nicht a priori auszuschliessen (vgl. oben, Erw. 6.2.).

An dieser Stelle nur nebenbei zu erwähnen ist sodann, dass aus dem Arztbericht respektive den Akten nicht mit genügender Sicherheit hervorgeht, ob tatsächlich der Beschwerdeführer selber beim Arzt erschienen ist, respektive ob von dessen Hand ein Röntgenbild erstellt wurde. Es ist nämlich nicht gänzlich auszuschliessen, dass Asylsuchende, welche behaupten minderjährig zu sein, jemanden anderes - eine effektiv minderjährige Person - zur Untersuchung schicken könnten.

7.3. Hinsichtlich des Inhalts von ärztlichen Zeugnissen betreffend Knochenaltersbestimmung müssen nach dem Gesagten zusammenfassend folgende zwingende inhaltliche Voraussetzungen erfüllt sein, damit diese den Anforderungen an ein Beweismittel im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. b AsylG zu genügen vermögen. Aus dem Bericht muss zunächst hervorgehen, welcher Arzt


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respektive welche Ärztin die Untersuchung durchgeführt hat, und dass diese Person die hierfür erforderliche fachliche Qualifikation aufweist. Eine allenfalls von einer weiteren Person durchgeführte Gegenprobe ist zu vermerken. Die zweifelsfrei festgestellte Identität des Exploranden (ist die richtige Person zur Untersuchung erschienen?) muss sodann im Bericht ausgewiesen werden. Ebenfalls erwähnt werden müssen allfällige vom Exploranden geltend gemachte Krankheiten und besondere Lebensumstände, welche das Knochenwachstum beeinflusst haben könnten. Im Kern hat der Bericht Angaben zur Methode der Knochenaltersbestimmung, die Umschreibung des festgestellten Befunds und die daraus abgeleitete Schlussfolgerung (Resultat) zu enthalten. Schliesslich muss der Bericht selbstverständlich datiert, vom Verfasser eigenhändig unterschrieben und der Adressat genannt sein. In dieser Form ist er denn auch der asylsuchenden Person zur Stellungnahme im Rahmen des rechtlichen Gehörs offen zu legen.

7.4. Aus den dargelegten Gründen kommt die Kommission zum Schluss, dass das vorliegende ärztliche Zeugnis betreffend Knochenaltersbestimmung des Beschwerdeführers den erhöhten Anforderungen an den Beweiswert für einen Nichteintretensentscheid im Sinne von Art. 32 Abs. 2 Bst. b AsylG nicht genügt, die Identitätstäuschung mithin nicht zweifelsfrei feststeht. Der rechtserhebliche Sachverhalt ist als unvollständig erstellt zu bezeichnen (Art. 106 Abs. 1 Bst. b AsylG). Das vorliegende Verfahren erweist sich somit als nicht entscheidreif. Da bei der vorliegenden Sachlage die für ein reformatorisches Urteil erforderliche Entscheidreife nicht gegeben ist und diese auch nicht mit bloss geringem Beweisaufwand hergestellt werden kann, ist die angefochtene Verfügung aufzuheben und die Sache zur ergänzenden Sachverhaltsabklärung und anschliessenden Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an das BFF zurückzuweisen (vgl. F. Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, Bern 1983, 2. Auflage, S. 233).

 

 

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