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Auszug aus dem Urteil der ARK vom 26. Mai 2004 i.S. O.D. und Kinder, Eritrea

Art. 14a Abs. 4 ANAG: Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzuges.

Prüfung der humanitären Situation in Eritrea, namentlich in dem vom Krieg besonders betroffenen eritreisch-äthiopischen Grenzgebiet der Region Senafe/Debub. Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzuges, wenn Kleinkinder betroffen sind.

Art. 14a al. 4 LSEE : exigibilité de l’exécution du renvoi.

Examen de la situation humanitaire en Erythrée, plus spécialement dans la région frontalière érythréo-éthiopienne de Senaf/Debub très touchée par la guerre. Inexigibilité de l’exécution du renvoi d’enfants en bas âge.

Art. 14a cpv. 4 LDDS: esigibilità dell’esecuzione dell’allontanamento.

Esame della situazione umanitaria in Eritrea, più specificatamente nella regione frontaliera eritreo-etiopica di Senaf/Debub oltremodo interessata dalla guerra. Inesigibilità dell’esecuzione dell’allontanamento in presenza di bambini in tenera età.

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Die Ehefrau des Beschwerdeführers reiste am 13. März 2000 in die Schweiz ein, wo sie gleichentags ein Asylgesuch stellte. Sie war bei ihrer Einreise hochschwanger; am 27. Mai 2000 wurde das Kind R. geboren. Mit dem Nichteintretensentscheid der Schweizerischen Asylrekurskommission (ARK) vom 15. August 2001 erwuchs die Verfügung vom 31. Mai 2001, mit der das BFF das Asylgesuch der Ehefrau des Beschwerdeführers ablehnte und deren Wegweisung samt Vollzug anordnete, in Rechtskraft. Das Kind war ins Verfahren seiner Mutter nicht einbezogen worden.

Der Beschwerdeführer seinerseits stellte am 12. Februar 2001 in der Schweiz, ein Asylgesuch.


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Anlässlich der Befragungen machte er folgende Angaben zu seiner Person: Er sei als eritreischer Staatsbürger in Kassala, Sudan, geboren, wo er den grössten Teil seines Lebens gewohnt habe. Seinen Lebensunterhalt habe er zunächst als Kellner in einem Teehaus und später, nach Anschaffung eines Lastwagens, als Händler und Transporteur verdient. Er sei wiederholt in geschäftlichen und politischen Angelegenheiten nach Eritrea gereist. Er sei verheiratet und habe drei Kinder, von denen eines bei seiner Frau in der Schweiz lebe. Die beiden älteren Töchter lebten im Sudan.

Zu seinen Fluchtgründen befragt, sagte der Beschwerdeführer unter anderem aus, in erster Linie habe er seine Frau gesucht. Zum Zeitpunkt ihrer Ausreise habe er sich in Eritrea aufgehalten, wo er für die ELF als Kurier tätig gewesen sei. Er habe öfters solche Aufgaben übernommen, die in der Regel nicht mehr als zwei bis drei Wochen in Anspruch genommen hätten. Als er im Frühling 2000 ungefähr vier Monate in Eritrea geblieben sei, sei seine Frau aus Angst, ihm sei etwas zugestossen, geflüchtet. Ferner machte der Beschwerdeführer geltend, er fürchte um sein Leben. Er werde wegen seiner politischen Tätigkeit zugunsten der ELF, die neben Kurierdiensten zwischen dem Sudan und Eritrea die Teilnahme an Versammlungen und Mitgliederwerbung im Bekanntenkreis umfasste, von den eritreischen Behörden verfolgt.

Am 23. Dezember 2002 gebar die Frau des Beschwerdeführers das Kind E.; der Beschwerdeführer wurde im Geburtsregister als Vater dieses Kindes registriert. Am 29. Januar 2003 anerkannte der Beschwerdeführer das Kindesverhältnis zum Kind R. und am 3. Juni 2003 heirateten der Beschwerdeführer und seine Ehefrau, nachdem deren nach traditionellem Brauch in Eritrea geschlossene Ehe von den Schweizer Behörden nicht anerkannt worden war.

Mit Verfügung vom 17. Februar 2003 stellte das BFF fest, die Vorbringen des Beschwerdeführers genügten den Kriterien des Flüchtlingsbegriffs nicht, lehnte das Asylgesuch ab und verfügte die Wegweisung aus der Schweiz samt Vollzug. Die Verfügung bezog sich auf den Beschwerdeführer, ohne dass die beiden Kinder ins Verfahren einbezogen worden wären. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Vorbringen des Beschwerdeführers seien inkohärent, unlogisch, widersprüchlich und vage. Es sei ihm daher nicht gelungen, die Flüchtlingseigenschaft glaubhaft zu machen. Eritrea befinde sich in einer Phase der Stabilisierung und eine konkrete Gefährdung sei nicht auszumachen.

Mit Beschwerde vom 19. März 2003 beantragte der Beschwerdeführer die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und die Gewährung von Asyl, eventu-


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ell sei die Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs festzustellen und die vorläufige Aufnahme anzuordnen.

Die ARK zieht die Kinder R. und E. ins Beschwerdeverfahren ihres Vaters ein. Sie weist die Beschwerde im Asylpunkt ab, heisst sie indessen hinsichtlich des Wegweisungsvollzuges gut.

Aus den Erwägungen:

6. Zu prüfen bleibt die Frage der Zumutbarkeit eines Wegweisungsvollzuges für den Beschwerdeführer und die beiden in sein Verfahren einzubeziehenden Kinder.

a) Nach Art. 14a Abs. 4 ANAG ist der Vollzug der Wegweisung nicht zumutbar, wenn er für die von ihm betroffenen Personen eine konkrete Gefährdung darstellt. Diese Bestimmung bezieht sich in erster Linie auf so genannte Gewaltflüchtlinge, das heisst auf Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft nicht zukommt, weil sie nicht persönlich verfolgt werden, die aber vor Krieg, Bürgerkrieg oder einer Situation der allgemeinen Gewalt in ihrem Herkunftsstaat fliehen. Daneben ist der Vollzug nicht zumutbar für Personen, die sich bei ihrer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat einer konkreten Gefährdung ausgesetzt sähen, weil sie dort zum Beispiel keinen Zugang zu medizinischer Betreuung haben, auf die sie angewiesen sind. Insgesamt gilt es die humanitären Aspekte im Zusammenhang mit der Situation, in der sich der Ausländer bei einer Rückkehr in sein Heimatland befinden würde, gegen das öffentliche Interesse an seiner Wegweisung abzuwägen.

b) Auf die Unabhängigkeit von Äthiopien, die Eritrea 1993 am Ende eines jahrzehntelangen Bürgerkriegs erlangte, folgte eine kurze Phase des Friedens zwischen den beiden Ländern. Unterschiedliche Auffassungen über den Verlauf der neuen Grenze gaben Ende der neunziger Jahre erneut Anlass zu bewaffneten Konflikten, die im Mai 2000 zu einem offenen Krieg führten. Dem Waffenstillstand im Juni 2000 folgte im Dezember desselben Jahres ein Friedensabkommen, welches die Bildung einer unabhängigen Kommission zur Klärung des Grenzverlaufs vorsah. Diese Kommission, die EEBC (Eritrea-Ethiopia Boundary Commission), präsentierte im April 2002 ihre Lösungsvorschläge, die aber von Äthiopien nicht akzeptiert wurden. Der Grenzverlauf zwischen Eritrea und Äthiopien ist weiterhin nicht geklärt.

Seit dem Waffenstillstand vom Juni 2000 haben die beiden Länder darauf verzichtet, ihre unterschiedlichen Standpunkte mit militärischer Gewalt durchzuset-


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zen. Die Gründe hierfür liegen, auf der Grundlage der vorliegenden Lagebeurteilungen zu urteilen, weniger in der Einsicht in die Aussichtslosigkeit einer militärischen Lösung als im Umstand, dass beide Länder von den Folgen der langen kriegerischen Auseinandersetzungen und einer anhaltenden Dürre gezeichnet sind. Sie sind nahezu vollständig auf ausländische Hilfe angewiesen und können es sich nicht erlauben, die Gunst der Geberländer durch einen neuen Krieg aufs Spiel zu setzen.

Jedenfalls lässt sich feststellen, dass in Eritrea derzeit weder Krieg noch Bürgerkrieg noch eine Situation der allgemeinen Gewalt herrscht.

c) Wenn festgestellt ist, dass die Sicherheitslage in Eritrea den Vollzug der Wegweisung nicht generell unzumutbar erscheinen lässt, muss überprüft werden, ob dem Beschwerdeführer und seiner Familie bei einer Rückkehr nach Eritrea andere Gefahren für ihr Leben oder ihre körperliche Integrität drohen.

Im Entscheid EMARK 1994 Nr. 18 hatte die ARK die Gelegenheit, sich zur Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs einer Mutter mit zwei Kleinkindern nach Eritrea zu äussern. Die ARK kam damals zum Schluss, der Wegweisungsvollzug sei nicht zumutbar, obwohl in Eritrea in dieser Phase ebenfalls keine Situation der allgemeinen Gewalt vorherrschte. Die ARK erachtete die schwierige gesellschaftliche Situation einer allein stehenden Frau mit Kleinkindern (eines davon ausserehelich) kombiniert mit der Gefährdung der Kinder durch die prekäre Nahrungsmittelversorgung als ausreichendes Vollzugshindernis.

Es gilt im Folgenden zu untersuchen, wie sich die allgemeine Situation in Eritrea in den vergangenen zehn Jahren entwickelt hat und ob diese auch im Fall des Beschwerdeführers dazu führt, dass der Vollzug der Wegweisung nicht zumutbar ist.

Die im folgenden dargelegte Lagebeurteilung stützt sich im Wesentlichen auf Informationen internationaler Organisationen wie des UNICEF, des UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs OCHA, des UN Development Programme UNDP, der Food and Agriculture Organization FAO oder des UN World Food Programme WFP sowie auf Unterlagen, die der Norwegian Refugee Council zusammengestellt hat (Norwegian Refugee Council / Global IDP Project: Profile of Internal Displacement: Eritrea. Compilation of the information available in the Global IDP Database of the Norwegian Refugee Council, as of 7 August, 2003).

d) Nach dem jahrzehntelangen Unabhängigkeitskrieg und den kriegerischen Auseinandersetzungen um die Jahrtausendwende sowie in Folge einer Dürre, die


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vom UNICEF als eine der schlimmsten in der jüngeren Geschichte beschrieben wird, ist die eritreische Wirtschaft in einem verheerenden Zustand. Die Landwirtschaft, von der 80 % der Bevölkerung leben, liegt brach. Die landwirtschaftlich nutzbare Fläche verringert sich in Folge der Abholzung von Waldgebieten und die durch Übernutzung der Weidegebiete verursachte Bodenerosion kontinuierlich. Viehzucht und Ackerbau werfen immer weniger Erträge ab und die traditionellen Mechanismen zur Krisenbewältigung stossen an ihre Grenzen. Das Vieh verendet oder die Landbevölkerung ist gezwungen, es zu verkaufen, um akuter Not Abhilfe zu schaffen. Sie beraubt sich damit einer unerlässlichen Stütze nachhaltiger Subsistenzwirtschaft.

Nach Angaben des UN Standing Committee on Nutrition konnten im Jahr 2002 gerade 11 % der erwarteten Ernte eingebracht werden. Eritrea ist nicht in der Lage, die eigene Bevölkerung zu ernähren, und ist auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen. Diese Hilfe erreicht das Land zwar, aber nicht in genügendem Ausmass. Das Koordinationsbüro für humanitäre Angelegenheiten der UNO (OCHA) meldet, dass die Reaktionen der Geberländer auf Aufrufe zur humanitären Hilfe sehr zögerlich sind. Im März 2003 hätten nur 25 % der erforderlichen Nahrungsmittel Eritrea erreicht.

Durch die anhaltende Dürre ist der Grundwasserspiegel so weit gesunken, dass landesweit immer weniger Pumpen nutzbar sind. Eine Untersuchung, die das UNICEF im März und April 2003 durchgeführt hat, kommt zum Schluss, dass in guten Zeiten 22 % der Landbevölkerung Zugang zu Trinkwasser haben. Unter den aktuellen Bedingungen sinkt dieser Prozentsatz dramatisch. Der tiefe Grundwasserspiegel macht das geförderte Wasser zudem anfälliger auf Verschmutzung. Tests, die im Rahmen derselben Untersuchung gemacht wurden, haben ergeben, dass je nach Region zwischen 41 und 94 % der Wasserquellen verschmutzt sind. Aufgrund logistischer Probleme können von den schätzungsweise 2 Millionen Bedürftigen nur circa 1,4 Millionen mit Nahrungsmitteln versorgt werden.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die wirtschaftliche Situation und die Ernährungslage in Eritrea während der letzten zehn Jahre zunächst auf tiefem Niveau stabil waren und sich in der Folge der Ereignisse der letzten Jahre rapide verschlechtert haben. Das UN Standing Commitee on Nutrition warnt vor einer humanitären Katastrophe.

e) Frauen und Kinder sind in besonderem Masse von den Auswirkungen der Nahrungsmittel- und Wasserknappheit betroffen. Die Kindersterblichkeitsrate der unter Fünfjährigen liegt nach den Angaben des UNICEF bei 89 auf 1'000 Lebendgeburten, was jährlich circa 14'000 Todesfällen von Kindern unter fünf


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Jahren entspricht. 44 % der unter Fünfjährigen sind untergewichtig, 17 % sind stark untergewichtig.

Nach Schätzungen des UNICEF werden nur 44 % der von der Dürre betroffenen Kinder in ausreichendem Mass mit Hilfsgütern erreicht, 30 % erhalten überhaupt keine Unterstützung.

f) Der Beschwerdeführer (wie im Übrigen auch seine Ehefrau) stammt aus Senafe in der Debub-Region, wo er immer noch Verwandtschaft hat. Diese Region, die traditionell für 70 % der Lebensmittelproduktion in Eritrea aufkam, ist aufgrund ihrer Nähe zur Grenze zu Äthiopien von den Auswirkungen der neuesten kriegerischen Auseinandersetzungen besonders betroffen. Neben der Dürre erschweren ausgedehnte Minenfelder den Wiederaufbau der Landwirtschaft und die Belieferung der Bevölkerung mit Hilfsgütern. In der einst für eritreische Verhältnisse reichen Gegend verschlechtert sich die Ernährungslage ebenso schnell wie in den anderen Regionen.

g) Die Kinder des Beschwerdeführers sind vier und eineinhalb Jahre alt, sind also zu einer besonders sensiblen respektive gefährdeten Gruppe zu zählen. Beide sind in der Schweiz geboren. Ihre Ernährung und Pflege hat bis heute den hier vorherrschenden hygienischen Bedingungen und dem Nahrungsmittelangebot in der Schweiz entsprochen. Im Falle einer durch den Vollzug der Wegweisung bedingten Umstellung auf eritreische Verhältnisse müsste eine starke Beeinträchtigung der Gesundheit und eine Gefährdung des Lebens der beiden Kinder in Kauf genommen werden.

Dies gilt umso mehr als der Beschwerdeführer seit über drei Jahren in der Schweiz wohnt. Sein Lastwagen, mit dem er seinen Lebensunterhalt vor der Ausreise bestritten hat, ist verkauft. Er müsste in Eritrea eine neue wirtschaftliche Existenz aufbauen, was einem allein stehenden Mann in seinem Alter zugemutet werden könnte. Es ist aber höchst unwahrscheinlich, dass es dem Beschwerdeführer in der heutigen Situation in Eritrea gelingen könnte, sich innert nützlicher Frist so weit in das Wirtschaftsleben seines Herkunftslandes zu integrieren, dass er für seine beiden Kleinkinder sorgen kann.

h) Aufgrund aller Umstände des vorliegenden Einzelfalles (neben dem Alter der beiden Kinder erweist sich insbesondere die Herkunft des Beschwerdeführers aus der vom Krieg besonders gezeichneten Grenzregion Senafe als ausschlaggebend) erscheint der Vollzug der Wegweisung für die Kinder des Beschwerdeführers als nicht zumutbar. Der Grundsatz der Einheit der Familie lässt es nicht zu, die Wegweisung des Beschwerdeführers zu vollziehen, wenn dies für die Kinder nicht zumutbar ist. Der Beschwerdeführer und seine Kinder werden im


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Sinne von Art. 44 Abs. 2 AsylG in Verbindung mit Art. 14a ANAG vorläufig aufgenommen.

 

 

 

 

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