indexEMARK - JICRA - GICRA  2004 / 16
  


nexttop  2004 / 16 - 105

Auszug aus dem Urteil der ARK vom 11. Februar 2004 i.S. Y.A., Türkei

Art. 32 Abs. 2 und Art. 57 Abs. 1 VwVG, Art. 106 Abs. 1 Bst. b AsylG: Verspätete Vernehmlassung der Vorinstanz; unvollständige Feststellung des rechts-erheblichen Sachverhalts.

1. Eine nach Ablauf der angesetzten Vernehmlassungsfrist eingereichte Stellungnahme der Vorinstanz zur Beschwerde ist trotz der Verspätung zu berücksichtigen, wenn ihr Inhalt als ausschlaggebend erscheint (Erw. 6).

2. Aufhebung der vorinstanzlichen Asylverfügung infolge unvollständiger Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts: Übersehen eines bei den Akten liegenden Haftbefehls wegen Unterstützung illegaler Organisationen (Erw. 7).

Art. 32 al. 2 et 57 al. 1 PA, art. 106 al. 1 let. b LAsi : détermination tardive de l’autorité de première instance, établissement incomplet de l’état de fait pertinent.

1. Une réponse au recours déposée par l’autorité de première instance, après le délai qui lui a été imparti pour ce faire, doit néanmoins être prise en considération lorsque son contenu apparaît décisif (consid. 6).

2. Annulation de la décision de l’autorité de première instance pour constatation incomplète des faits pertinents. In casu, l’ODR a omis de prendre en considération un mandat d’arrêt pour soutien à une organisation illégale, figurant parmi les pièces du dossier (consid. 7).

Art. 32 cpv. 2 nonché art. 57 cpv. 1 PA; art. 106 cpv. 1 lett. b LAsi: inoltro tardivo della risposta al ricorso da parte dell'UFR; accertamento incompleto dei fatti giuridicamente rilevanti.

1. È tenuto conto di una risposta al ricorso inoltrata tardivamente dall’UFR allorquando il contenuto della stessa è decisivo (consid. 6).


nextprevioustop  2004 / 16 - 106

2. Annullamento della decisione di prima istanza a causa dell'accertamento incompleto dei fatti giuridicamente rilevanti. In casu, l'UFR ha ignorato il mandato d'arresto esibito dalla parte concernente il sostegno ad un'organizzazione illegale (consid. 7).

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Der Beschwerdeführer machte zur Begründung des am 16. August 2000 in der Empfangsstelle Genf gestellten Asylgesuchs geltend, sein Leben sei in der Türkei bedroht gewesen. Er sei mehrere Male, letztmals anfangs 1999, auf die Terrorbekämpfungsabteilung der Gendarmerie mitgenommen und unter Todesdrohung dazu aufgefordert worden, als Spitzel für die Behörden tätig zu sein. Der Beschwerdeführer gab zu Protokoll, er sei Kurde und Mitglied der Kurdenpartei HADEP und für diese bei den Parlamentswahlen im Jahre 1999 als Wahlbeobachter tätig gewesen. Im Dezember 1999 sei er zu Hause von Polizeibeamten gesucht worden. Anlässlich seiner Teilnahme an der Maifeier im Jahre 2000 sei er festgenommen, geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert worden.

Das BFF stellte mit Verfügung vom 11. September 2002 fest, der Beschwerdeführer erfülle die Flüchtlingseigenschaft nicht, und lehnte das Asylgesuch ab. Gleichzeitig verfügte es die Wegweisung des Beschwerdeführers aus der Schweiz und ordnete den Wegweisungsvollzug an.

Mit Beschwerde vom 16. Oktober 2002 beantragte der Beschwerdeführer, die vorinstanzliche Verfügung sei vollständig aufzuheben. Es sei festzustellen, dass er die Flüchtlingseigenschaft erfülle und ihm sei Asyl zu gewähren. Eventuell sei festzustellen, dass der Wegweisungsvollzug unzulässig respektive unzumutbar sei und es sei die vorläufige Aufnahme anzuordnen. In der Beschwerde wurde unter anderem gerügt, die Vorinstanz habe in der angefochtenen Verfügung einen vom Beschwerdeführer zu den Akten gereichten türkischen Haftbefehl mit keinem Wort gewürdigt.

Die Vorinstanz hielt in einer nach Ablauf der vom Instruktionsrichter angesetzten Frist eingereichten Vernehmlassung vom 3. Februar 2003 an ihrer Verfügung fest und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

Die ARK hebt die Verfügung des BFF auf und weist die Akten zum neuen Entscheid an die Vorinstanz zurück.


nextprevioustop  2004 / 16 - 107

Aus den Erwägungen:

6. a) Die Vorinstanz hat im vorliegenden Beschwerdeverfahren auch nach wiederholter Aufforderung durch den Instruktionsrichter der ARK keine Vernehmlassung zur Beschwerde abgegeben. Einen Monat nach Ablauf der letzten diesbezüglich angesetzten Frist hat sie am 3. Februar 2003 eine Stellungnahme zu den Akten gereicht, die im Lichte von Art. 32 Abs. 2 VwVG zu prüfen ist. Gemäss dieser Bestimmung kann die ARK verspätete Parteivorbringen, die ausschlaggebend erscheinen, trotz der Verspätung berücksichtigen.

b) In ihrer Vernehmlassung vom 3. Februar 2003 hält die Vorinstanz fest, nach der amtsinternen Analyse des Haftbefehls habe zwar keine formelle Fälschung festgestellt werden können; es hätten sich jedoch eine Anzahl Ungereimtheiten ergeben, welche auf eine Fälschung hinweisen würden. Mangels Vergleichsdokumenten werde das Dokument vom BFF "nicht als formelle Fälschung i.e.S." qualifiziert. Hingegen könne das Beweismittel aufgrund der erkannten Ungereimtheiten "keine materielle Überzeugungskraft" entfalten.

In diesem Zusammenhang ist vorab festzuhalten, dass Urkunden grundsätzlich entweder authentisch oder gefälscht - allenfalls verfälscht - sind; als einzige diesbezügliche "Zwischenform" war bisher die Konstellation der von Unberechtigten missbräuchlicherweise verwendeten echten Dokumente bekannt (vgl. Art. 10 Abs. 4 AsylG). Die vom BFF getroffene Unterscheidung zwischen formellen Fälschungen im engeren und im weiteren Sinn ist unverständlich. Im Ergebnis geht die Vorinstanz offenbar davon aus, die Frage der Authentizität des vom Beschwerdeführer eingereichten Dokuments offen lassen zu können. Ein solches Vorgehen wäre dann zulässig (und regelmässig sachgerecht, weil damit aufwändige Abklärungen vermieden werden können), wenn mit dem betreffenden Beweismittel ein flüchtlings- oder wegweisungsrechtlich offensichtlich irrelevantes Vorbringen belegt werden soll. Im vorliegenden Verfahren hat der Beschwerdeführer Belege für seine Mitgliedschaft bei der mittlerweile verbotenen Kurdenpartei HADEP zu den Akten gereicht, welches Vorbringen, soweit feststellbar, von der Vorinstanz nicht bestritten wird. Die Flüchtlingseigenschaft seines Bruders A., der gemäss Begründung der diesbezüglichen Verfügung als regionalverantwortliches Kadermitglied der PKK tätig gewesen sei, wurde vom BFF am 1. März 2000 anerkannt.

Bei dem vom Beschwerdeführer eingereichten Dokument handelt es sich um einen Haftbefehl (Formular Örnek Nr. 5) aus dem Jahre 1999, in dem ihm eine Verletzung von "Art. 169" zur Last gelegt wird. Gemeint ist offenkundig der berüchtigte Art. 169 des türkischen Strafgesetzbuches, der - als faktischer Terror-Generalstraftatbestand (vgl. etwa amnesty international, Jahresbericht 2003/


nextprevioustop  2004 / 16 - 108

Türkei, S. 583) - die "Unterstützung und Beihilfe bei Straftaten einer illegalen Organisation" unter Strafe stellt. Die potenzielle asylrechtliche Relevanz eines solchen Asylvorbringens liegt auf der Hand. Angesichts der geschilderten persönlichen und familiären Umstände des Beschwerdeführers müsste die Auffassung, ein solches Beweismittel vermöchte bloss einen asylrechtlich irrelevanten Umstand zu belegen, als völlig unhaltbar bezeichnet werden.

c) Die Vorbringen der Vorinstanz in ihrer Stellungnahme vom 3. Februar 2003 sind nach dem Gesagten offensichtlich nicht ausschlaggebend. Die verspätet eingereichte Vernehmlassung des BFF ist demnach nicht weiter zu beachten.

7. a) Die Asylbehörde hat den rechtserheblichen Sachverhalt vor ihrem Entscheid von Amtes wegen vollständig und richtig abzuklären (vgl. Art. 6 AsylG i.V.m. Art. 12 VwVG; Art. 32 und 49 VwVG). Dabei muss sie die für das Verfahren erforderlichen Sachverhaltsunterlagen beschaffen und die rechtlich relevanten Umstände abklären und darüber ordnungsgemäss Beweis führen (vgl. A. Kölz/I. Häner, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Auflage, Zürich 1998, S. 97). Gemäss Art. 8 AsylG hat die asylsuchende Person indessen die Pflicht und - unter dem Blickwinkel des rechtlichen Gehörs - das Recht, an der Feststellung des Sachverhalts mitzuwirken. Aus Art. 8 Abs. 1 Bst. d AsylG ergibt sich insbesondere die Berechtigung, Beweise anzubieten respektive einzureichen, welche die Verwaltungsbehörde grundsätzlich im Rahmen der Gewährung des rechtlichen Gehörs zu würdigen hat, bevor sie verfügt (vgl. auch Kölz/Häner, a.a.O., S. 98, zur Generalbestimmung von Art. 33 Abs. 1 VwVG).

b) In der Beschwerde wird gerügt, die Vorinstanz habe den anlässlich der kantonalen Befragung eingereichten Haftbefehl in ihrem Entscheid nicht berücksichtigt.

Diese Rüge ist berechtigt, werden doch in der angefochtenen Verfügung mehrere Beweismittel, nicht aber dieses Dokument erwähnt, dessen potenzielle Asylrelevanz bereits oben festgestellt worden ist (vgl. Erw. 6.b).

Im Rahmen der E-Mail-Korrespondenz zwischen der ARK und dem BFF im Zusammenhang mit dem Nichteinreichen einer Vernehmlassung der Vorinstanz hatte der zuständige Sachbearbeiter festgehalten, der in der Beschwerde eingereichte Haftbefehl sei "nicht in den Akten" gewesen. Diesbezüglich ist auf das kantonale Befragungsprotokoll zu verweisen, in dem folgende Aussage erwähnt ist: "Heute abgegeben: Dokument, dass ich gesucht werde von der Gend.kommandatur A. vom 10.12.99, gemäss Art. 169 werde ich gesucht". Im Beilagenverzeichnis des Begleitschreibens der zuständigen Behörde des Kan-


previoustop  2004 / 16 - 109

tons X. vom 25. Oktober 2000 an das BFF wird nicht nur das Befragungsprotokoll vom gleichen Tag, sondern, nebst anderen Beweismitteln, auch ein "Dokument, dass GS gesucht werde" erwähnt. Das Dokument befindet sich samt dem eingereichten Briefumschlag im Original im Beweismittelcouvert des BFF.

Nach diesen Ausführungen ist festzustellen, dass die Vorinstanz das zu den Akten gereichte Beweismittel übersehen und damit den rechtserheblichen Sachverhalt ungenügend erstellt hat. An dieser Einschätzung vermag auch die von der Vorinstanz nach Beendigung des Vernehmlassungsverfahrens vorgenommene Analyse der Echtheit des Haftbefehls (Prüfungsergebnis: Authentizität unbestimmt) nichts zu ändern, zumal die verfügende Behörde - wie erwähnt - gehalten ist, den Sachverhalt vor ihrer Verfügung vollständig abzuklären.

c) Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen, soweit die Aufhebung der angefochtenen Verfügung beantragt wird. Die Sache ist - vorab zur vollständigen und richtigen Sachverhaltsermittlung - an das BFF zurückzuweisen.

Die Vorinstanz wird sich abschliessend zu Frage der Authentizität des eingereichten Haftbefehls äussern müssen. Vor seinem erneuten Entscheid wird das BFF zudem einerseits die Akten des Bruders des Beschwerdeführers - sowie seines Cousins A., der HADEP-Parteipräsident der Provinz X gewesen und vom BFF ebenfalls als Flüchtling anerkannt worden sei sorgfältig zu konsultieren haben. Andererseits ist in diesem Zusammenhang zusammenfassend festzuhalten, dass die vorliegend für die Glaubhaftigkeit der Vorbringen des Beschwerdeführers sprechenden Umstände (namentlich die offenkundige Herkunft aus einer Familie mit engen Beziehungen zu PKK und HADEP, die eingereichten Beweismittel, die bei Durchsicht der Befragungsprotokolle ins Auge stechenden Realitätskennzeichen oder die sich aus den Akten des Bruders ergebenden Hinweise) nur ungenügend gewürdigt worden sind; eine sorgfältige Abwägung der für und der gegen die Glaubhaftigkeit sprechenden Argumente (vgl. etwa EMARK 1993 Nr. 21, S. 137 f.) ist der aufzuhebenden Verfügung jedenfalls ebenso wenig zu entnehmen, wie eine praxiskonforme Prüfung der Frage, ob der Beschwerdeführer […] eine so genannte Reflexverfolgung zu befürchten hätte.

 

topprevious


© 16.06.04 Tel. +41-31-323 101 11, Fax +41-31-323 102 20, E-Mail: info@ark.admin.ch