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Auszug aus dem Urteil der ARK vom 28. September 2001 i.S. I. T., Bosnien-Herzegowina

Art. 44 Abs. 3 AsylG: Vorläufige Aufnahme wegen schwerwiegender persönlicher Notlage.

Aufgrund einer Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände (beinahe siebenjähriger Aufenthalt in der Schweiz; seit vier beziehungsweise sechs Jahren eingeschulte Kinder; psychische Probleme der Beschwerdeführerin und der Kinder; gute berufliche Qualifikation und Integration des Beschwerdeführers; zahlreiche Verwandte in der Schweiz) wird im konkreten Fall - trotz teilweiser Fürsorgeabhängigkeit - eine schwerwiegende persönliche Notlage bejaht.

Art. 44 al. 3 LAsi : admission provisoire pour cas de détresse personnelle grave.

Prise en compte de l'ensemble des circonstances du cas d'espèce (séjour de près de sept ans en Suisse, enfants scolarisés depuis quatre, respectivement, six ans, problèmes de santé tant chez la recourante que chez ses enfants, bonnes qualification et intégration professionnelles du recourant, nombreuse parenté en Suisse) ; cas de détresse personnelle grave admis pour une famille, bien qu'elle dépende partiellement de l'assistance publique.

Art. 44 cpv. 3 LAsi: ammissione provvisoria per caso di rigore personale grave.

Conto tenuto dell'insieme delle circostanze caso concreto (soggiorno in Svizzera di circa sette anni, figli scolarizzati da quattro rispettivamente sei anni, problemi di salute della ricorrente e dei figli, buona qualificazione e integrazione professionale del ricorrente, numerosa parentela in Svizzera), e nonostante una parziale dipendenza dall'assistenza pubblica, è stato ammesso il caso di rigore personale grave.


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Zusammenfassung des Sachverhalts:

Die Beschwerdeführer stellten am 22. November 1994 in der Schweiz ein Asylgesuch. Dieses wurde vom BFF mit Verfügung vom 28. Mai 1997 abgelehnt, unter gleichzeitiger Anordnung der Wegweisung und deren Vollzuges.

Gegen diese Verfügung erhoben die Beschwerdeführer am 25. Juni 1997 Beschwerde bei der ARK.

Mit der Beschwerde wurde unter anderem ein "Gutachten" einer Maltherapeutin eingereicht, welche zum Schluss gelangte, die Bilder der beiden Kinder A. und M. seien sehr auffällig und ein eindeutiges Indiz für traumatische und bedrohliche Erlebnisse. Um die weitere Entwicklung nicht zu gefährden, seien die Kinder weiterhin auf ein stabiles Umfeld angewiesen. Ihre Persönlichkeit sollte noch während mindestens zwei bis drei Jahren gefestigt werden, bis sie wieder mit dem Ort ihrer Schreckenserlebnisse konfrontiert werden dürften.

Im weiteren wurde ein ärztliches Zeugnis eingereicht, welches der Beschwerdeführerin eine posttraumatische Belastungsstörung attestierte. Aus medizinischen Gründen sei eine erneute Entwurzelung der Beschwerdeführerin wenn irgendwie möglich zu vermeiden.

Auf Aufforderung der Instruktionsrichterin zur Beschwerdeverbesserung präzisierten die Beschwerdeführer am 23. Juli 1997 ihre Eingabe und beschränkten den Anfechtungsgegenstand der Beschwerde auf die Frage des Wegweisungsvollzugs.

Die kantonale Fremdenpolizei lehnte mit Schreiben vom 18. November 1998 die Erteilung einer fremdenpolizeilichen Aufenthaltsbewilligung nach Art. 13 Bst. f BVO ab.

Im Rahmen des Vernehmlassungsverfahrens prüfte das BFF das Vorliegen einer schwerwiegenden persönlichen Notlage im Sinne von Art. 44 Abs. 3 und 4 AsylG und holte dazu Stellungnahmen der kantonalen Fremdenpolizei ein. Diese beantragte am 14. Juli 2000 bzw. am 2. Oktober 2000 den Vollzug der Wegweisung. Das BFF verneinte hierauf in seiner Vernehmlassung vom 12. Dezember 2000 das Bestehen einer schwerwiegenden persönlichen Notlage und bestätigte den angeordneten Vollzug der Wegweisung.

Am 20. Februar 2001 nahm der Vertreter der Beschwerdeführer Stellung zur vorinstanzlichen Vernehmlassung. Unter Hinweis auf ein Arbeitszeugnis des Alters- und Pflegeheims Y. sowie ein weiteres ärztliches Zeugnis wurde unter an-


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derem geltend gemacht, die Verarbeitung der Kriegserlebnisse sei, vor allem bei der Beschwerdeführerin, in keiner Weise abgeschlossen. Darüber hinaus sei die Familie T. im heutigen privaten und beruflichen Umfeld integriert und stabilisiert, eine Wegweisung aber würde unweigerlich zu einer katastrophalen persönlichen Notlage führen.

Im Arbeitszeugnis wird im Wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer arbeite seit dem 16. August 1995 als Mitarbeiter der Heimküche und liege bei den jährlich durchgeführten Qualifikationen im Bereich "gut bis sehr gut". Zudem habe sich die Familie T. im Verlauf des Aufenthalts in der Schweiz stabilisiert und integriert. Bezüglich der Beschwerdeführerin wird im Attest des behandelnden Arztes diagnostiziert, sie leide weiter an heftigsten Migräneanfällen, Schlafstörungen und Angstträumen. Der Zustand sei nur mit regelmässiger Einnahme von verschiedensten Psychopharmaka in Grenzen zu halten. Selbst mit Medikamenten seien die traumatischen Erlebnisse nicht verarbeitet und blieben deshalb weiterhin psychisch massiv belastend, und die Beschwerdeführerin bleibe instabil. Durch eine Rückkehr bestehe die Gefahr einer akuten psychischen Dekompensation.

Im Rahmen eines zweiten Schriftenwechsels hielt die Vorinstanz in einer weiteren Vernehmlassung vom 27. Mai 2001 fest, in der Stellungnahme der Beschwerdeführer würden Fragen bezüglich der schwerwiegenden persönlichen Notlage mit solchen der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs vermischt. Aus den beiden die Beschwerdeführerin betreffenden Arztzeugnissen gehe nicht hervor, dass diese in der Schweiz eine besondere medizinische Behandlung erhalte, die in Bosnien-Herzegowina nicht möglich wäre. Im Allgemeinen könne davon ausgegangen werden, dass die grundlegende medizinische, auch psychiatrische, Versorgung in Bosnien und Herzegowina gewährleistet sei. Was die Kinder anbelange, so sei nach dem Schreiben der Maltherapeutin vom 17. Juni 1997, in welchem sie eine günstige Prognose stelle, wenn die Kinder noch zwei bis drei Jahre in der Schweiz in einem stabilen Umfeld leben könnten, kein Arztzeugnis mehr eingereicht worden. Insgesamt sei deshalb davon auszugehen, dass eine allenfalls benötigte medizinische Therapie auch in Bosnien und Herzegowina möglich sei. Darüber hinaus hätten die Beschwerdeführer sowohl in Bosnien und Herzegowina als auch in der Schweiz Angehörige, die ihnen helfen könnten, Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung zu überwinden. Es liege weder eine schwerwiegende persönliche Notlage noch eine Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs vor.

In ihrer Stellungnahme zur zweiten Vernehmlassung bestritten die Beschwerdeführer, dass sie in Bosnien-Herzegowina durch nahe Verwandte unterstützt werden könnten. Vielmehr seien diese selber hilfsbedürftig. Ausserdem müssten die 


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Beschwerdeführer wegen ihrer Unterstützung für Fikret Abdic beziehungsweise der Verweigerung, für ihn Kriegsdienst zu leisten, mit erheblichem Widerstand bei der Gründung einer neuen Existenz rechnen. Die Einschätzung des BFF, die Wegweisung sei in medizinischer Hinsicht unbedenklich, sei unhaltbar. Schliesslich stehe das Ehepaar T. in der Schweiz auf eigenen Beinen.

Die ARK weist die Beschwerde im Asylpunkt ab, heisst sie hingegen im Vollzugspunkt unter Bejahung einer schwerwiegenden persönlichen Notlage nach Art. 44 Abs. 3 AsylG teilweise gut.

Aus den Erwägungen:

4. e) In ihrer Vernehmlassung vom 12. Dezember 2000 hat die Vorinstanz das Bestehen einer schwerwiegenden persönlichen Notlage verneint.

aa) Gemäss Art. 44 Abs. 3 AsylG (i.V.m. Art. 14a Abs. 4bis ANAG) kann in Fällen einer schwerwiegenden persönlichen Notlage eine vorläufige Aufnahme angeordnet werden, sofern vier Jahre nach Einreichen des Asylgesuchs noch kein rechtskräftiger Entscheid ergangen ist. Dabei sind insbesondere die Integration in der Schweiz, die familiären Verhältnisse und die schulische Situation der Kinder zu berücksichtigen (Art. 44 Abs. 4 AsylG).

bb) [Hinweis auf den Grundsatzentscheid vom 1. Mai 2001, EMARK 2001 Nr. 10, S. 61 ff. zur Auslegung von Art. 44 Abs. 3 und 4 AsylG sowie Art. 33 AsylV 1.]

(...)

[Danach sind] in einer gesamthaften Betrachtung alle konkreten Umstände des Einzelfalles im Hinblick darauf zu würdigen, ob eine Rückkehr des Betroffenen in sein Heimatland seine Existenz in gesteigertem Masse in Frage stellen und mithin eine besondere Härte darstellen würde. Im erwähnten Grundsatzentscheid wird ausserdem die Einschätzung des BFF wiedergegeben, wonach in Grenzfällen - um der schwierigen Situation der so genannten "working poor" gerecht zu werden - der blosse Bezug von begrenzten Fürsorgeleistungen oder Überbrückungshilfen nicht allein als ausschlaggebend erachtet werden dürfe, eine schwerwiegende persönliche Notlage auszuschliessen, falls demgegenüber andere zusätzliche Elemente der Integration, in Fortsetzung der bundesgerichtlichen Praxis, eine solche Notlage begründen würden.


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cc) Was die konkrete Situation der Beschwerdeführer anbelangt, führte das BFF in seiner Vernehmlassung vom 12. Dezember 2000 aus, die beiden Kinder A. und M. könnten nach ihrer Rückkehr in die Heimat ohne Weiteres ihre Primarschulbildung fortsetzen oder bei schulischer Eignung später auch eine weiterführende Schule besuchen. Es könne daher angenommen werden, dass eine angemessene schulische Bildung der beiden Kinder in Bosnien und Herzegowina gewährleistet sei. Die Familie erfülle deshalb die Anforderungen von Art. 33 Abs. 1 AsylV 1 nicht, weshalb keine schwerwiegende persönliche Notlage vorliege. Es werde daher in Übereinstimmung mit dem kantonalen Antrag am angeordneten Vollzug der Wegweisung festgehalten.

dd) In Anlehnung an die im genannten Grundsatzentscheid entwickelten Richtlinien gelangt die ARK vorliegend in einer sorgfältigen Abwägung sämtlicher relevanten Umstände zum Schluss, dass die Vorinstanz das Bestehen einer schwerwiegenden persönlichen Notlage zu Unrecht verneint hat.

Die Beschwerdeführer leben seit beinahe sieben Jahren in der Schweiz und verfügen hier über nahe Verwandte. Die Eltern des Beschwerdeführers sowie eine Schwester halten sich laut seinen Angaben mit Niederlassungsbewilligung C in der Schweiz auf; eine Schwester besitzt die Aufenthaltsbewilligung B, wohingegen in [der bosnischen Heimatgemeinde] nur noch eine Schwester zurückgeblieben ist. Die Beschwerdeführerin hat einen Bruder, der mit Aufenthaltsbewilligung B in der Schweiz lebt. Gemäss dem Bericht der Fremdenpolizei des Kantons X. vom 14. Juli 2000 zuhanden des BFF wurde A. am 25. November 1995 und M. im August 1997 eingeschult. Im September 2000 besuchten sie die 4. beziehungsweise 5. Primarklasse in G.; sie haben demnach seit vier beziehungsweise bald sechs Jahren eine öffentliche Schule besucht, wie dies auch in der Vernehmlassung vom 12. Dezember 2000 festgehalten wird. Zwar erweist sich die vorinstanzliche Einschätzung als zutreffend, dass A. und M. die Schule auch im Heimatland fortsetzen könnten. Doch hat angesichts der langjährigen Schulbesuche zweifellos eine gewisse Orientierung an schweizerischen Gegebenheiten und möglicherweise eine Anpassung an schweizerische Lebensgewohnheiten stattgefunden, deren Aufrechterhaltung angesichts der offenbar psychisch instabilen Gesundheit der Kinder wünschenswert erscheint. In ihrer Vernehmlassung vom 12. Dezember 2000 hat es die Vorinstanz unterlassen, sich zur wirtschaftlichen Situation der Beschwerdeführer zu äussern. Gemäss Arbeitszeugnis vom 13. Februar 2001 arbeitet der Beschwerdeführer seit dem 16. August 1995 im Alters- und Pflegeheim Y. und es werden ihm gute bis sehr gute Qualifikationen ausgestellt. Sein Jahresgehalt beträgt Fr. 52'114.-- exklusive Schichtbonus. Aus dem Arbeitszeugnis geht weiter hervor, dass der Beschwerdeführer Interesse zeigt, sich in seinem Tätigkeitsbereich weiterzuentwickeln. Der Umstand, dass die Beschwerdeführer bis zum 1. Oktober 1997 Unter-


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stützungsleistungen in der Höhe von Fr. 46'295.85 beanspruchten darf - wie oben unter 4.e.bb ausgeführt - nicht als ausschlaggebend betrachtet werden, zumal der Beschwerdeführer aufgrund seines Verdienstes bis anhin kaum in der Lage gewesen sein dürfte, die bezogenen Fürsorgegelder zurückzuzahlen. Unter Berücksichtigung all dieser Aspekte ist im heutigen Zeitpunkt von der beruflichen Integration des Beschwerdeführers auszugehen. Zudem sind die Beschwerdeführer vor dem Hintergrund der Schulbesuche der Kinder A. und M., der Berufstätigkeit des Beschwerdeführers sowie der zahlreichen in der Schweiz lebenden Verwandten in ein gesellschaftliches Umfeld eingebettet und es stellen sich keine Fragen der Delinquenz oder des dissozialen oder rechtsmissbräuchlichen Verhaltens. Zwar sollte es dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Berufsausbildung beziehungsweise -erfahrung möglich sein, sich in der Heimat eine neue Existenz aufzubauen. Allerdings ist nicht auszuschliessen, dass sich die psychischen Erkrankungen seiner Ehefrau und seiner Kinder bei einer Rückkehr in den Heimatstaat verschärfen könnten und zusammen mit der nach wie vor schwierigen wirtschaftlichen Situation in Bosnien-Herzegowina sowie der langjährigen Landesabwesenheit zu einer unerträglich grossen Belastung für den Beschwerdeführer führen würden, so dass die Existenzsicherung der Familie gefährdet wäre. Unter diesen Voraussetzungen erscheint die Anordnung einer vorläufigen Aufnahme aufgrund einer schwer wiegenden persönlichen Notlage der Beschwerdeführer als gerechtfertigt.

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