indexEMARK - JICRA - GICRA  2000 / 10
  


next2000 / 10 - 081

Auszug aus dem Urteil der ARK vom 10. März 2000 i.S. M.A., Tunesien

[English Summary]

Art. 23 Abs. 1 Bst. b AsylG: Flughafenverfahren, vorsorgliche Wegweisung in Drittstaat.

1.  Eine auf Bst. b von Art. 23 Abs. 1 AsylG gestützte vorsorgliche Wegweisung in einen Drittstaat im Rahmen des Asylverfahrens am Flughafen setzt voraus, dass die drei im Gesetz genannten Voraussetzungen (vorheriger Aufenthalt, Möglichkeit der Wiedereinreise und Möglichkeit, dort um Schutz nachzusuchen) kumulativ erfüllt sind.

2.  Da der Wegweisungsvollzug nur zulässig ist, wenn die asylsuchende Person im Drittstaat um Schutz nachsuchen kann, ist im konkreten Fall die Wegweisung eines Tunesiers in die Türkei aufgrund des geographischen Vorbehaltes dieses Staates zur Flüchtlingskonvention (Beschränkung auf europäische Flüchtlinge) unzulässig.

Art. 23 al. 1 let. b LAsi : renvoi préventif à l'aéroport.

1.  Un renvoi préventif dans un Etat tiers à l'occasion d'une procédure d'aéroport (art. 23 al. 1 let. b LAsi) requiert que soient remplies les trois conditions cumulatives mentionnées par la loi : séjour antérieur dans le pays tiers, possibilité d’y retourner et d’y demander protection.

2.  Dans le mesure où l’exécution du renvoi n’est licite que si le demandeur d’asile peut demander protection à l’Etat tiers, l’exécution du renvoi en Turquie d’un demandeur d’asile de nationalité tunisienne est illicite en raison de la réserve géographique formulée par ce pays à la Convention sur les réfugiés (limitation aux réfugiés européens).


nextprevioustop  2000 / 10 - 082

Art. 23 cpv. 1 lett. b LAsi: Allontanamento preventivo all'aeroporto.

1.  Un allontanamento preventivo, in applicazione dell’art. 23 cpv. 1 lett. b LAsi, verso uno Stato terzo nell'ambito della procedura d'asilo all'aeroporto presuppone che siano cumulativamente adempite le tre condizioni previste dalla legge (soggiorno precedente, possibilità di fare ritorno nello Stato terzo, e possibilità di chiedervi protezione).

2.  Visto che l’esecuzione dell’allontanamento è lecita unicamente se il richiedente l’asilo può chiedere protezione allo Stato terzo, nella fattispecie l’esecuzione dell’allontanamento di un tunisino verso la Turchia è illecita a causa della riserva a carattere geografico (limitazione ai rifugiati europei) formulata da tale Stato riguardo alla Convenzione sullo statuto dei rifugiati.

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Nachdem er sich sechs Tage in der Türkei aufgehalten hatte, flog der Beschwerdeführer am 26. Februar 2000 von Istanbul nach Zürich-Kloten, wo er am 26. Februar 2000 bei den schweizerischen Grenzbehörden um politisches Asyl ersuchte. Auf Anfrage teilte das UNHCR dem BFF am 6. März 2000 mit, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass dem Beschwerdeführer in Tunesien keine Verfolgung drohe.

Das BFF verfügte am 6. März 2000 die vorsorgliche Wegweisung in die Türkei. Gleichzeitig ordnete es den sofortigen Vollzug an und entzog einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung.

Mit Beschwerde vom 7. März 2000 beantragte der Beschwerdeführer die Aufhebung der angefochtenen Verfügung und die Erteilung einer Einreisebewilligung zur Durchführung des ordentlichen Asylverfahrens in der Schweiz. Eventualiter sei die angefochtene Verfügung aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Das BFF hielt in seiner Vernehmlassung vom 8. März 2000 an der angefochtenen Verfügung fest und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

Auf Ersuchen der ARK reichte das UNHCR am 10. März 2000 eine Stellungnahme ein, in welcher festgehalten wurde, dass dem Beschwerdeführer nach


nextprevioustop  2000 / 10 - 083

seiner Einschätzung die Einreise in die Türkei und der Zugang zum Asylverfahren verwehrt würden.

Die ARK heisst die Beschwerde gut, hebt die angefochtene Verfügung auf und weist das BFF an, dem Beschwerdeführer die Einreise zu gestatten und das ordentliche Asylverfahren einzuleiten.

Aus den Erwägungen:

3. Gemäss Art. 23 Abs. 1 AsylG kann ein Gesuchsteller vorsorglich weggewiesen werden, sofern die Weiterreise in einen Drittstaat möglich, zulässig und zumutbar ist, namentlich wenn sich der Gesuchsteller vorher dort aufgehalten hat und dort wieder einreisen kann und um Schutz nachsuchen kann (Art. 23 Abs. 1 Bst. b AsylG). Die drei Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein.

a) Die asylsuchende Person muss sich vorher im Drittstaat aufgehalten haben, wobei seit der Revision des Asylgesetzes kein zeitliches Kriterium erfüllt sein muss, wie dies das BFF in seiner Vernehmlassung - anders als in der Verfügung vom 6. März 2000, in welcher Art. 23 AsylG falsch (und zwar im Wortlaut von Art. 13d Abs. 2 aAsylG) zitiert worden war - zu Recht festhält.

Der Beschwerdeführer hielt sich während sechs Tagen in der Türkei auf, womit das Kriterium des Aufenthalts im Drittstaat grundsätzlich erfüllt ist.

b) Die asylsuchende Person muss sodann wieder in den Drittstaat einreisen können. Gemäss Einschätzung des UNHCR (Stellungnahme vom 10. März 2000) würde dem Beschwerdeführer die Wiedereinreise in die Türkei verweigert. Bei seiner Ankunft müsste mit einer Inhaftierung auf unbestimmte Zeit gerechnet werden, sofern der Beschwerdeführer nicht sofort in die Schweiz zurückgeschickt würde. Das Kriterium der Wiedereinreisemöglichkeit in den Drittstaat ist somit kaum erfüllt.

c) Die asylsuchende Person muss im Drittstaat um Schutz nachsuchen können. Sowohl die grammatikalische Auslegung von Art. 23 Abs. 1 Bst. b AsylG (vgl. die klarere französischsprachige Formulierung: "... qu'il peut y retourner et y demander protection ...") als auch die subjektiv-historische Auslegung (vgl. Botschaft zur Totalrevision des Asylgesetzes sowie der Änderung des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 4. De-


nextprevioustop  2000 / 10 - 084

zember 1995, BBl 1996 II 53) lassen eine vorsorgliche Wegweisung in einen Drittstaat nur zu, wenn die asylsuchende Person in diesem Drittstaat den notwendigen Schutz erlangen kann.

In casu verfügte die Vorinstanz eine vorsorgliche Wegweisung in die Türkei. Dieser Staat ratifizierte die FK am 30. März 1962, machte jedoch den Vorbehalt, wonach die türkische Regierung nicht beabsichtige, irgendeine Verpflichtung mit den ausserhalb von Europa eingetretenen Ereignissen zu übernehmen. Der Beschwerdeführer ist tunesischer Staatsangehöriger, weshalb der türkische Staat nicht verpflichtet ist, die Pflichten eines Vertragsstaates - insbesondere auch den Schutz des Non-refoulement (Art. 33 Abs. 1 FK) - wahrzunehmen.

Wie das UNHCR in seiner Stellungnahme vom 10. März 2000 und seinem - in der Vernehmlassung erwähnten und zur Zeit auf Internet abrufbaren - Bericht über die Tätigkeit in der Türkei im Jahr 1999 festhält, unterstützt er die sich in der Türkei aufhaltenden nichteuropäischen anerkannten Flüchtlinge unter anderem in rechtlichen Fragen, bis eine Wiederansiedlung in einen schutzerteilenden Staat möglich ist.

Weiter hält das UNHCR in seiner Stellungnahme fest, dass Asylgesuche in der Türkei innerhalb von zehn Tagen nach der Einreise gestellt werden müssen. Da der Beschwerdeführer bereits am 19. Februar 2000 in die Türkei eingereist sei und sich sechs Tage in der Türkei aufgehalten habe, ohne um Asyl nachzusuchen, würden sich die türkischen Behörden mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den Standpunkt stellen, dass der Beschwerdeführer das Asylgesuch nicht fristgerecht gestellt habe und ihm die Gelegenheit, um Asyl nachzusuchen, nicht mehr geben.

Der vom UNHCR eingenommene Standpunkt erscheint der ARK als zutreffend. Dem Beschwerdeführer würde demnach durch den türkischen Staat kein Schutz gewährt. Somit ist aber das Kriterium, wonach die asylsuchende Person im Drittstaat um Schutz nachsuchen können muss, in casu nicht erfüllt.

d) An dieser Beurteilung vermag auch die in der Vernehmlassung zitierte Verfügung der ARK vom 7. Februar 2000 i.S. B.K. nichts zu ändern, da diese vor allem auf der völligen Unglaubhaftigkeit der Vorbringen und erheblichsten Widersprüchen zwischen den Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren gegenüber jenen im Beschwerdeverfahren sowie einem mehrmonatigen legalen Aufenthalt in der Türkei beruhte.


previoustop  2000 / 10 - 085

e) Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Voraussetzungen für eine vorsorgliche Wegweisung des Beschwerdeführers nicht gegeben sind, da ihm in der Türkei mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Schutz gewährt wird und zudem die Möglichkeit seiner Wiedereinreise nicht gesichert erscheint, weshalb die Verfügung der Vorinstanz aufzuheben ist. Die Vorinstanz ist anzuweisen, die Einreise des Beschwerdeführers zu bewilligen und das ordentliche Asylverfahren einzuleiten.

topprevious


© 27.06.02